An den Herrn

Grafen von Stollberg Wernigerode

[32] Nach der 14ten Ode aus dem 2ten Buche des Horaz.


Es rinnen dahin die flüchtigen Jahre,

Die Frömmigkeit selber verzögert, o Freund!

Nicht Runzeln des Alters, und silberne Haare,

Und jenen noch nimmer gezähmeten Feind.


Gelobtest du gleich zehntausend Gesänge

Auf heiliger Harfe; doch würde dein Spiel

Den Pluto nicht rühren, dem niemals die Menge

Heißrollender Thränen zum Opfer gefiel.


Der seinen Bezirk mit Wogen umschlossen,

Die jeder beschiffen muß, welcher die Luft

Getrunken, und Früchte der Erde genossen,

Von der ihn das eiserne Schicksal entruft.
[32]

Es mag ihm ein Land gehorchen und dienen,

Es beten bezwungene Völker ihn an;

Ihm mögen auch wenige Furchen nur grünen,

Er sey gleich ein armer, mühseeliger Mann.


Wir scheuen umsonst in herbstlichen Tagen

Die schädlichen Winde; vergebens entgehn

Wir tobenden Wellen, und schrecklichem Schlagen,

Des blutigen Mavors, wo Furien stehn.


Wir müssen Welt, Haus und Freunde verlassen,

Und blühender Gärten balsamischen Duft;

Die halbe Cypresse folgt einzig dem blassen

Zu kurzen Gebieter in traurige Gruft.


Sein Erbe holt den durch zehnmal zehn Schlösser

Verwahrten Tokayer; dann strömet der Saal

Begossen vom Weine, den selber nicht besser

Der Pontifer schmauset bei festlichem Mahl.
[33]

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 32-34.
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