Die Nadelstichsheilung

[207] Den 14ten August 1786.


Ditmar spielte mit Minetten

Und sie war ihm zugewandt,

Als ob Beyde sich gekannt

Mondenlang schon hätten.

Auf sein Knie hub er das Kind,

Und wie nun die Kinder sind,

Rasch und leicht wie Mayenwind,

Flüchtig wie des Rehes

Jugendlicher Sprung ins Gras,

War Minettchen, und da saß

Eine Nadel bei dem Spas

In dem Schürzchen, und des Wehes

Von dem kleinen Nadelstich

Schämte Ditmars Finger sich,[207]

Hing herunter und verheilte

Sich mit seinem eignen Blut;

Ein halb Viertelstündchen weilte

Dieses Schmerzes Wuth –

Aber wenn der Ditmat künftig

Mit erwachsnen Mienchens spielt,

Die schon groß sind, und vernünftig,

Wenn Er da Verwundung fühlt,

Von des schönsten Auges Blicken,

Von der Lippen Grazie;

O dann thuts im Herzen weh,

Und man muß sich flehend bücken,

Daß Gott Amors Bruder eilt,

Der die Wunde heilt.
[208]

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 207-209.
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