Die Wassersnoth bei Frankfurth an der Oder

im April 1785

[217] Vom Gebirge strömte das Verderben –

Ins Gefilde weit und breit,

Saat und Blumenkeime wollten sterben

Unterm Wasserwogenstreit,

Zarte Lämmer, junge Busenkinder

Heischten Rettung aus der Fluth –

Hungerleiden brüllten magre Rinder,

Die des Landmanns einzig Gut

In der niedern Armuthehütte waren,

Größer schien die Wassersnoth

Als ein Feldzug fremder Kriegesschaaren,

Der mit Schwerd und Feuer droht

Und mit Plünderung dem platten Lande,

Das sein Rauschen hört und zagt,

Wenn der Zug vom äußern Gränzenrande

Schrecken vor sich hergejagt –[217]

Jenem Waffenrasseln widerstehet

Heldenklugheit, Heldenmuth;

Aber wenn sich fürchterlich erhöhet

Ausgetretner Ströme Wuth,

Kann der König selber nicht gebieten,

Der mit siegesreicher Hand

Sieben Jahre lang dem Waffenwüten

Vieler Feinde widerstand.

Rettung nur war möglich, war zu wagen,

Und wenn sie gelang, alsdann

War kein Dichter stark genug, zu sagen

Wonne, die der Held gewann.


Leopold, ein junger, Menschenlieber

Guelfensohn, hat es gewagt –

Menschlich Mitleid riß ihn mächtig über

Alle Warnung laut gesagt.

Ueber alle Todesfurcht erhaben,

Sprang er in den Kahn, und sprach:

»Rudert rüstig fort, ihr Schifferknaben,

Folgt der Jammerstimme nach,

Die so kläglich Hülfe fodert drüben,

Hört die Todesangst und eilt!

Schon zu lange seyd ihr kalt geblieben,

Habt zu lange schon geweilt,[218]

Habt nur hier die Wellen angegaffet,

Die der Brücke Halbtheil schon

Angegriffen und hinweggerasset –

Fürchtet nicht dies Wasserdrohn,

Ich bin Mensch, wie ihr zur Welt gekommen,

Wagt doch, was ich wagen kann,

Seht, da wo die Häuser weggeschwommen,

Kommts auf Menschenrettung an –«


Also sprach der Fürstensohn und brannte

Von Begierde, da zu seyn,

Wo sich zu dem Sturmgebieter wandte

Nothgedrängter Menschen Schreyn.

Bald hinüber war die Fahrt gelungen,

Als ein Windstoß sie ergriff,

Ach, von einer Welle Wuth gedrungen,

Scheiterte das kleine Schiff

An der Wurzel einer alten Weide

Und die wilde Fluth verschlang

Frankfurts Stolz und Ruhm und Augenfreude!

Mit dem Wassertode rang

Leopold nur wenige Minuten.

Seine Seele stieg empor

Schöner als durch vieler Wunden Bluten

In der Heldenseelen Chor –[219]

Und die Bürger und die Musensöhne

Und die Kriegesmänner all

Klagen Ihn, und ihre Klagetöne

Wiederholt der Wiederhall,

Daß es alle Lüfte hören müssen,

Und ein Künstler groß und mild1

Macht der Folgezeit die That zu wissen

Durch der Thatbeginnungs-Bild.[220]

Fußnoten

1 Herr Daniel Chodowiecky.


Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 217-221.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe 1792)
Die Sapphischen Lieder: Liebesgedichte
Gedichte: Ausgabe 1792

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Geschichte der Abderiten

Geschichte der Abderiten

Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«

270 Seiten, 9.60 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon