Dorimön und Amariethe

in ihrer neuen Wohnung

[276] 1768.


Dorimön:


Du Wonne meiner jungen Tage,

Du Leben meines Lebens, sage,

Wie diese Hütte dir gefällt?


Amariethe:


Wie einer von den Erdgöttinnen

Der allerhöchste Thron der Welt!


Dorimön:


Mein Vater wohnete darinnen

Viel schöne Sommer lang, und fand

Vergnügen dran mit eigner Hand

Die zarten Bäume zu begießen,

Die dazumal von mir sich noch umspannen ließen,[276]

Und nun so hoch empor gestrebt;

Hier hat mein Vater froh gelebt,

Wie in dem seligen Gefilde

Der erste Mensch mit seiner Braut.

O du nach eines Engels Bilde

Für mich so liebenswerth gebaut,

Hier will ich leben dir zur Seite

So glücklich wie der erste Mann.


Amariethe:


Hier geb ich dir durch Blumen das Geleite

Vom kunstgepflanzten Garten an

Bis in die wilden Rosen-Hecken.


Dorimön:


Der Laube grünes Dach soll dich und mich verstecken

So oft der Mittag glüht; hier will ich Rosenduft

In langen Zügen geitzig trinken,

Und wann aus ungepaarten Finken

Die bange Liebe lockend ruft,

Und wann die Nachtigallen klagen,

Daß Fels und Hügel Antwort giebt,

Dann will ich im Entzücken sagen:

Ich bin geliebt!


[277] Amariethe:


Und ich will mich von deinem Busen stehlen

Des Morgens, wenn aus Lerchen-Kehlen

Das erste Lied gen Himmel tönt;

Ich will die schönsten Blumen pflücken

Den kleinen Altar auszuschmücken,

Den deine Mutter oft gekrönt

Mit Rosen und mit Reben-Ranken;

Dann wecket dich mein sanfter Kuß,

Dann folgst du meinem Wink und kniest mit mir am Fuß

Des Opfer-Heerdes, dem zu danken,

Der alle Wesen kommen hieß,

Und über unsern Häuptern Sonnen

Und um uns her die Flur entstehen ließ,

Und dich erschuf, den ich so zärtlich lieb gewonnen,

Dich meines Herzens süßen Freund!

Dann beten wir und loben mit einander

Den guten Gott, der uns vereint,

Und unser Lob steigt mit einander

Wie zween Flammen hoch empor

Und unser Lob erreicht sein Ohr!
[278]

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 276-279.
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