An einen Ingenieur,

Liebhaber der Phyllis

[301] 1766.


Du kennst den Grund der Festungswerke.

Mit einem Blicke messest du

Der Schanzen und der Mauern Stärke;

Doch meine Muse ruft dir zu:

So wahr, als Friedrich unvergessen

Bewundert wird in später Zeit,

So wahr ist dies Unmöglichkeit

Des Herzens Tiefen auszumessen.

Sei klug, bedenke dich so schlau

Wie einst Ulysses ist gewesen,

Nie wirst du der verschmitzten Frau

Verborgenste Gedanken lesen.

Sie decket ihre feinste List

Mit Blumen zu, bis du gefangen

Gleich einem Dohnenvogel bist.

Sie schmachtet, seufzt, netzt ihre Wangen

Mit Thränen, die sie künftig weint.[301]

Sie nennt dich oft in einer Stunde

Wohl tausendmal den besten Freund,

Und schwört mit schmeichlerischem Munde

Beim Grabmal ihres Vaters, bei

Den Sternen und bei allen Göttern,

Bei Sonnenschein und Donnerwettern,

Daß ihr dein Kuß noch süßer sei,

Als Süßigkeit von jungen Bienen;

Und zaubert dich mit holden Mienen

An ihre giftbestrichne Brust

Und nennt dich ihre größte Lust,

Den ersten Abgott ihrer Seele,

Den reichsten Jüngling von der Welt,

Den Menschen, der in einer Höhle

Mehr ihren Augen wohlgefällt,

Als Prinzen, die so sein nicht fühlen

Im Prunksaal und auf goldnen Stühlen

Und einer sammtbezognen Bank.

Sie stellt sich gar vor Liebe krank,

Und redet nur gebrochne Töne.

O sanfter Jüngling, glaub es nicht:

Es ist die Stimme der Syrene,

Die ausstudirte Worte spricht.
[302]

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 301-303.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe 1792)
Die Sapphischen Lieder: Liebesgedichte
Gedichte: Ausgabe 1792