Doppelgleichnis

[278] O ein Glöcklein klingelt mir früh und spät

Silbernen Schalles in die Seele herein,

Zart wie ein Luftlied, welches von Westen weht,

Unermüdlich plaudernd, so lieb und fein!


Aber wandl' ich es um zum Becherlein,

Kehr ich es um und häng es an meinen Mund,

Trinke daraus den allersüßesten Wein:

Schweigt das Becherglöckelchen zur Stund,


Hält sich stille, solang ich trinken mag,

An meinen durstigen Lippen verhallt sein Rand,

Tönet jedoch wieder mit hellem Schlag,

Kaum ich es der innigen Haft entband.


Kelch und Glöcklein ist, mein Engelchen,

Mir dein Mündchen ohne Rast und Ruh,

Und das Zünglein drin das Schwengelchen,

Das nie schweigt, als wenn ich dich küssen tu.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 278-279.
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