Reise-Empfindung

[8] Ich sah in bleicher Silbertracht

Die Birkenstämme prangen,

Als wäre dran aus heller Nacht

Das Mondlicht blieben hangen;


Und in dem zarten Birkenhain

Sah ich ein Häuschen blinken,

Das hob gleich an, zu sich hinein

Holdfreundlich mich zu winken.


Wie da im roten Morgenstrahl

Die Fensterlein erglänzten;

Und wie so freudig Berg und Tal

Mit Rosen sich bekränzten!


Die Rebe auf zum Fenster klomm

Mit ihren goldnen Trauben;

Die Unschuld saß im Dache fromm

In stillen weißen Tauben.


Die Lerche sang und schwand dahin

Auf morgenfrohen Schwingen,

Daß mir der blaue Himmel schien

Ins Tal herabzusingen.[8]


Da meint ich schon, das Fenster soll

Sich freundlich mir erschließen

Und aus dem Rahmen liebevoll

Mein Liebchen mich begrüßen.


Du seligste der Phantasein!

Ach, wär es mir beschieden,

Mit ihr zu leben hier allein

Im süßen Waldesfrieden!


Mit ihr im linden Frühlingshauch

Durch diesen Hain zu wallen,

Zu lauschen hier im Blütenstrauch

Dem Lied der Nachtigallen;


Mit ihr zu schaun im Herbsteswehn

Die welken Blätter fliegen,

Umrauscht vom schmerzlichen Vergehn,

Mich traut an sie zu schmiegen.


Wenn dann in rauher Winterzeit

Ein Lied mein Liebchen sänge

Und aller Himmel Seligkeit

Mir in die Stube dränge! –


Ich wagt es mich zu regen kaum

In meinem stillen Sinnen,

Besorgt, das Häuschen möcht, ein Traum,

Vor meinem Blick zerrinnen.


Doch, sieh, da öffnet sich die Tür,

Der Zauber war geschwunden,

Es trat ein Jägersmann herfür

Mit nachgesprengten Hunden.


Er grüßte mich mit raschem Blick

Und streift' waldein gar heiter;

Ich gab ihm seinen Gruß zurück,

Und traurig ging ich weiter.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 8-9.
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