7. Stadt und Land

»Wohl dem Manne, welchem es gelang, im Kreise seiner Mitbürger festen Fuß zu fassen; er hat sich aus der Brandung des Lebens gerettet auf den sichern Felsen eines heimathlichen Herdes!«

B. Franklin.


Der Vergleich des Lebens mit einer Brandung hat seine volle Berechtigung. Die gewaltigen Wogen der Zeit umrauschen den winzigen Planeten, welcher auf seiner zerbrechlichen Kruste das Volk der Menschen trägt; sie thürmen sich hoch empor an den Grenzen des irdischen Lebens, lecken und nagen an der trügerischen Festigkeit alles Bestehenden und lassen ihre Donner über den ganzen Kreis der Erde erschallen. Jahre, Monden, Wochen, Tage und Stunden fluthen in endlosem Drange über die Scene und wälzen aus ihren unergründlichen Tiefen jene zusammenhängende Reihe von Ereignissen an die Sonne, welche den Inhalt und Gegenstand der Geschichte bilden. Das gährt und treibt, das wallt und gebährt, das kocht und sprudelt, das spritzt und zischt, und kein einziger dieser Tropfen ist ohne Inhalt, jede dieser Wogen birgt ihre Thatsachen, und unerforschliche Gesetze geben dem scheinbar Getrennten und Beziehungslosen innigen Zusammenhang.

Wie in der Brandung eine Welle die andere verdrängt, eine Woge mit der andern kämpft, so zeigt auch das Leben einen nicht endenden Kampf des Nahenden mit dem Verschwindenden, des Zukünftigen mit dem Bestehenden, des Einen mit dem Anderen. Nur der Geist hat eine ewige Berechtigung, das Körperliche, das von ihm Geschaffene und ihm Unterthänige darf nur für diejenige kurze Zeit bestehen, welche zu seiner Reife erforderlich ist und muß nach erfülltem Zwecke verschwinden, um neuen fruchtbaren Erscheinungen Platz zu machen. Im Branden thürmen sich die Wasser, im Ringen wächst die Kraft, und wie die gestaltlose Zeit selbst die festesten Welten zerbröckelt, so schreitet auch in dem Turniere zwischen Stoff und Idee, zwischen Körper und Geist der letztere von einem Siege zum anderen und unterwirft sich wie spielend physische Kräfte, deren Bezwingung unmöglich zu sein schien.

Dieser Alles bewältigende Geist hat seine siegreiche Macht nur einem einzigen irdischen Wesen, dem Menschen, verliehen und ihm damit die hohe Aufgabe ertheilt, das Todte zu beleben, das Formlose zu gestalten, das Starre zu bewegen und den Triumph des Gedankens über Land und Meer zu tragen. So wird der Mensch der Held der irdischen Schöpfung, obgleich er äußerlich nicht für dieses Heldenthum ausgestattet zu sein scheint. Für den Krieg der Geschöpfe gegen einander ist fast jedes derselben mit einer Waffe ausgestattet worden, welche sich entweder für den Angriff, die Vertheidigung oder auch zu beiden zugleich eignet. Der Löwe hat seine Pranken, der Bär seine Tatzen, der Elephant seine Klugheit und Stärke, der Affe seine Gelenkigkeit, der Fuchs seine List, der Stier seine Hörner, der Hirsch seine flüchtigen Läufe, das Krokodil, der Hai seinen fürchterlichen Rachen, der Vogel seine Schwingen, die Schlange ihr Gift, der Krebs seine Schere, die Muschel ihr schützendes Gehäuse, und selbst diejenigen Thiere, denen eine Waffe zu fehlen scheint oder auch wirklich fehlt, werden durch ihre Farbe und Aehnliches vor Gefahr oder durch hohe Fruchtbarkeit vor dem Aussterben geschützt. Jedenfalls aber steht keines derselben unter einer so langjährigen Hilfsbedürftigkeit, wie diejenige ist, mit welcher das menschliche Kind auf die unausgesetzte elterliche Pflege und Bevormundung angewiesen wird.

Es ist ein weiter und schwieriger Weg von dem lallenden Wickelkinde bis zum stolzen »Herrn der Schöpfung«, und nur durch unausgesetzte Anstrengung des Geistes führt er zum Ziele. Der Einzelne kann ihn unmöglich selbstständig zurücklegen; er ist an die Hilfe, die Lehre und den Rath zahlreicher Anderer gewiesen und vermag sich nur durch sie die Erfahrungen der verflossenen Jahrhunderte anzueignen, um so mit einem Schritte die Vergangenheit zurückzulegen und die Spitze der allgemeinen Entwickelung zu erreichen.

Und nicht blos in geistiger, nein, auch in rein äußerer, in körperlicher Beziehung ist er an die Angehörigen seines Geschlechtes gebunden. Nur durch sie und ihre Errungenschaften findet er Schutz und Schirm gegen die Feindseligkeiten, denen er vom ersten Tage seines Lebens bis zum letzten Augenblicke desselben ausgesetzt ist, und darum ist von Anbeginn der Geschichte an das Streben des Einzelnen, mit Seinesgleichen in Vereinigung zu treten, zu beobachten. Die natürlichste und engste Vereinigung findet im Kreise der Familie statt, und von ihr aus ziehen sich immer weitere Kreise, bis der letzte und größeste derselben die ganze Menschheit umfaßt.

Schon der Alleinstehende suchte Schutz vor dem Unbill der Witterung und zahlreichen anderen Fährlichkeiten unter dem Dache einer Wohnung, die er seinen Bedürfnissen gemäß einrichtete. Bald aber kam er zur Erkenntniß, daß er seinen Zweck durch die Vereinigung mehrerer und wo möglich vieler Wohnungen leichter und vollständiger erreiche. Dieser Gedanke gab den Anstoß zur Gründung dessen, was wir jetzt eine Gemeinde nennen; es entstanden gesellige Niederlassungen, welche nothwendiger Weise bald einen politischen Character annahmen und zuweilen zur Entstehung wichtiger Staaten, ja, gewaltiger Weltreiche führten.

Die Gegenwart hat auch in Beziehung auf das Gemeindewesen herrliche Fortschritte hinter sich, aber in Beziehung auf die Großartigkeit der Niederlassungen finden wir schon im grauen Alterthume höchst augenfällige Beispiele. Es sei hier nur an Babylon und Ninive erinnert.

Die erstere der beiden Städte lag am Euphrat, der sie in zwei Theile schied, und bildete ein Viereck, dessen Umfang nach Herodot 12 deutsche Meilen betrug. Die über 2 Millionen betragende Einwohnerschaft wurde beschützt durch eine[294] rings um die Stadt gehende, 200 Ellen hohe und 50 Ellen breite Mauer, auf welcher 6 Wagen bequem neben einander fahren konnten und durch welche 100 Thore von Erz in das Freie führten. Die graden Straßen liefen mit dem Flusse parallel und wurden von anderen rechtwinkelig durchkreuzt, wodurch 625 kleinere Vierecke entstanden. Unter ihren Prachtgebäuden, zeichneten sich die beiden Königspaläste und die Gärten der Semiramis aus, vor allen Dingen berühmt war aber der Thurm zu Babel, von welchem schon 1. Mos. 11 Erwähnung gethan wird. Hier ist freilich die Sage wohl von der Wirklichkeit zu unterscheiden. Die Talmudisten machten ihn 70 Meilen hoch, nach orientalischer Ueberlieferung betrug seine Höhe 10000 Klaftern, nach der Meinung noch Anderer soll er 25000 Fuß gemessen haben, und zugleich wird behauptet, daß 1 Million Menschen 12 volle Jahre daran gearbeitet hätten. Gewiß ist nur, daß sich auf der Ostseite des Euphrat wirklich ein thurmartiges Gebäude befunden hat, dessen Basis 360000 Quadratfuß und dessen Höhe 600 Fuß betragen haben soll. Das oberste der 8 Stockwerke war ein Tempel des Baal, in welchem sich ein goldener Tisch und ein prachtvolles Bett befand. Im untersten Stockwerke stand eine 12 Fuß hohe goldene Bildsäule des Gottes; die Treppen, mittelst deren der Thurm erstiegen wurde, führten von außen empor. Noch jetzt findet man dort einen 198 Fuß hohen und 1525 Fuß im Umfange haltenden Steinhaufen, in welchem man die Trümmer des Thurmes zu sehen glaubt.

Ninive, die Hauptstadt Assyriens hatte einen Umfang von 12 geographischen Meilen; die Mauer war 100 Fuß hoch und so dick, daß darauf 3 Wagen neben einander fahren konnten. Auch sie liegt heut in Trümmern, und ungeheure Ziegelhaufen sind die einzigen Zeugen einer längst verschwundenen Pracht und Herrlichkeit.

Außer diesen hervorragenden Beispielen war im Alterthume die Anlegung von Städten eine höchst einfache. Ob politische und religiöse Gründe oder auch Rücksichten des Handels zum Anbau nöthigten, war es fast immer ein Tempel, um welchen sich die Häuser ordnungslos gruppirten; später kam dazu ein Theater, ein Gymnasium, ein Versammlungshaus für obrigkeitliche Personen, ein Markt und einige Brunnen, und zum Schutze wurde das Ganze mit einer Mauer umschlossen.

Merkwürdig waren in Italien die Gebräuche der Etrurier beim Städtegründen. Es wurde nämlich zunächst eine Grube gegraben, in welche man die Erstlinge von allen Naturproducten warf, und dann gab Jeder, der die Stadt beziehen wollte, eine Handvoll Erde seines Heimathslandes hinein. Darauf spannte der Gründer einen weißen Stier rechts und eine weiße Kuh links an einen Pflug und zog in einem Vierecke eine ununterbrochene und gleichmäßig fortlaufende Furche, wobei er die Schollen nach inwendig warf, deren Anhäufung die zu erbauende Mauer und deren Vertiefung den Graben vorbildete. Wo ein Thor stehen sollte, wurde der Pflug aufgehoben und über die Stelle weggetragen.

In Deutschland, besonders dem westlichen, entstanden schon frühzeitig Städte aus den römischen Lagern und Castellen. Im östlichen Deutschland entstanden die meisten Städte zur Zeit Heinrichs des Voglers, welcher den je neunten Mann aller wehrhaften Leute von den Landbauern trennte und zur Anlegung und Erhaltung von Städten bestimmte, um bei den Einfällen der Ungarn und Slaven Zufluchtsorte zu besitzen. Dieser weisen Einrichtung verdankte der nun besondere Stand der Städter seine Entstehung.

Später, im elften Jahrhunderte, gewannen die Städte durch republikanische Verfassung, Handel und Ordnung ein hohes Ansehen. Dies erregte die Eifersucht des Adels, der außer- oder sogar auch innerhalb der Städte besondere Befestigungen bewohnte, und so entspannen sich bald blutige Fehden zwischen Adel und Städten. Dies gab Veranlassung zu größeren Vereinigungen von Städten zum Zwecke gegenseitiger Hilfe. Das erste Beispiel hiervon gab der Bund der lombardischen Städte, welche sogar den deutschen Kaisern furchtbar wurde. Ihm folgte der rheinische Städtebund und der Bund der schwäbischen Städte.[295]

Der mächtigste dieser Bunde war die Hansa, zu welcher die Länder der Nord- und Ostsee, des Rheins, Westphalen, Niedersachsen und Preußen ihre Contingente lieferten. Sie umfaßte nach und nach von der Schelde bis nach Esthland 85 Städte und konnte es wagen, mit mächtigen Reichen Krieg zu führen. Sie besiegte Dänemark und Norwegen, gab ihre Macht dem Könige von Frankreich zu fühlen, eroberte mit 100 Schiffen Lissabon, zwang England, den Frieden mit ihr mit 10000 Pfund Sterling zu erkaufen und hatte sogar die Macht, den König Magnus von Schweden abzusetzen.

Während dieser Vereine gewann das Ansehen der Städte so, daß sie mit zur Berathung der Stände zum Besten des Landes gezogen wurden. Später bildeten die größeren Städte fast den einzigen Besitz des Kaisers; die größeren Landesbesitzer machten sich zu unabhängigen Fürsten und zogen mittelst Politik oder der Gewalt der Waffen und des Geldes die Städte in ihren Besitz.

Wie das Schicksal der Pflanze, des Thieres und auch des Menschen zum großen Theile abhängig ist von dem Boden, dem sie angehören, so wird auch das Gedeihen menschlicher Niederlassungen wesentlich mitbedingt von der Lage, die sie einnehmen, und den Verhältnissen, unter denen sie errichtet werden. Während es Tausende von Dörfern, Flecken und Städten giebt, welche Jahrhunderte hindurch ihren Umfang nicht vergrößert, ihr Ansehen nicht verändert haben und sich vollständig gleich geblieben sind, wachsen an anderen Orten kleine, anfänglich unbedeutende Ansiedelungen mit ungewöhnlicher Geschwindigkeit zu großen, reichbevölkerten Städten empor und lassen schon nach wenig Jahren das Bild ihres anfänglichen Bestehens nicht mehr erkennen. Worin liegt der Grund?

Bei den unsicheren Verhältnissen der Vergangenheit war der Schutz gegen feindselige Uebergriffe einer der Hauptgesichtspunkte, welche man bei dem Baue der Wohnstätte in das Auge nahm. Der Ritter errichtete seine festen Schlösser und Burgen auf den Spitzen steiler, unzugänglicher Berge; der Städter erbaute seine Häuser ebenso an einem möglichst geschützten Orte und sorgte noch außerdem durch Anlegung von starken Mauern und breiten Gräben für seine Sicherheit. Der Bewohner des platten Landes legte seine Wohnung so, daß er durch Sumpf und Moor, durch dichte Waldung oder sonstige Terrainbeschaffenheiten von Anderen möglichst abgeschlossen war und eine Schädigung an Leib und Leben, an Gut und Habe nicht zu fürchten hatte. Sie alle sorgten vor allen Dingen für ihre Sicherheit und suchten dieselbe durch die örtliche Abschließung von der Außenwelt zu erlangen.

Der Hufschlag gepanzerter Rosse ist verhallt, Harnisch und Sturmhaube rosten unter eingefallenen Mauern, in den grasbewachsenen Burghöfen schleicht die Unke und nistet die Eule, und die kräftige Faust hat längst den eisernen Handschuh abgestreift, um Pflug, Hammer und Feder zu führen. Die dunklen, furchterweckenden Schatten des Mittelalters sind verschwunden, und hellere, freundlichere Bilder ziehen über den Vorhang, hinter welchem die nie ruhende Geschichte ihre Gestalten bildet. Zwar wird, so lang die Erde lebende Geschöpfe trägt, auch Kampf und Feindschaft auf ihr herrschen, aber der Einzelne hat nicht mehr den Einzelnen zu fürchten, und wo ein Streit entbrennt, wo das Schwert aus der Scheide fährt und der Schlachtentod seine blutigen Erndten hält, da giebt es Gesetze, Rechte oder doch ein gegenseitiges Uebereinkommen, und die früher rohe Gewalt wird in Rücksichten gekettet, denen sie sich nicht entwinden kann. –

Wo früher die räuberische Selbstsucht im Hinterhalte lag, um sich zerstörend auf den friedlichen Erwerb zu stürzen, da singt jetzt nur noch die Sage ihre romantischen Balladen, und auch sie muß sich immer weiter zurückziehen vor dem nüchternen Sinne der Alltagswelt, welche im fleißigen Schaffen ihre bedeutendste Aufgabe erkennt. Und ist das Raubritterthum nicht ausgestorben, so hat es sich modernisirt und sucht durch geistige Mittel zu erreichen, was es durch Anwendung von Gewalt nicht zu erlangen vermochte. Es hat in dem Gesetze einen furchtbaren und übermächtigen Feind bekommen, den es früher nicht kannte oder zu fürchten hatte und welcher seine nicht ungestraft zu übersteigenden Barrikaden um die Interessen eines jeden Bürgers errichtet.

So ist der wirthschaftlichen Thätigkeit der weite Plan gesäubert; ein Jeder weiß, daß er bei vorsichtigem Wirken die Früchte seiner Anstrengung sich nicht aus der Hand gerungen sehen, sondern selbst genießen werde, und getrost darf er sein Zelt da aufschlagen, seine Hütte da errichten, wo er von der Arbeit seiner Hände oder seinem geistigen Schaffen den besten Erfolg erwartet.

Daher kommt es, daß bei der Anlegung neuer und der Erweiterung schon bestehender Ortschaften in den meisten Fällen nur die Rücksichten des Friedens und die auf den gewerblichen Wohlstand zielenden Berechnungen in Betracht kommen, und wo dieser Wohlstand in Aussicht steht, da sammeln sich die Kräfte, da beginnt ein frisches, fröhliches Schaffen und wirft seine befruchtenden Wellen in die weitesten Kreise, ja selbst in die entlegenste Ferne.

Auf ehrlichem Wege etwas verdienen oder selbst reich werden wollen, ist sicher kein zu verdammendes Bestreben; das Trachten nach Lohn und Gewinn erweckt die im Menschen schlummernden Kräfte, schärft seinen Verstand, stählt seinen Arm und macht ihn zur Ueberwindung großer Hindernisse, zum Ertragen aller Entsagungen und Entbehrungen geschickt. Nur darf dieser Drang nicht zu Unvorsichtigkeiten und Ueberstürzungen führen oder gar in Krankheit ausarten. Er sucht ohne Ermüden nach Verbesserungen und neuen[302] Hilfsmitteln, schreitet von einer Erfindung und Entdeckung zur andern, sucht aus dem Weggeworfenen noch Nutzen zu ziehen, erklimmt die höchste Spitze der wissenschaftlichen Erkenntniß, steigt in die gefährlichen Tiefen der Erde, kämpft mit den Gewalten der Elemente und bohrt selbst die öden Strecken der Wüste an, um ihnen das keimende Gras, die wehende Palme zu entlocken. Er dringt in die fernen Steppen, um der Cultur dort eine bleibende Stätte zu erringen, durchsucht die Schluchten und Höhen unbekannter Gebirge nach dem Reichthum der Metalle, um einem Strome nachfluthender Arbeitskräfte Bahn zu brechen, und selbst da, wo ein Ort bisher keine Hoffnungen auf volkswirthschaftlichen Fortschritt geboten hat, forscht er nach möglichen Hilfsquellen und sucht ihn wenigstens durch die Verbindung mit dem Außenleben in den großen, allgemeinen Verkehr zu ziehen und in den Mitgenuß der Früchte anderer Arbeitsfelder zu bringen.

So sind in fremden Welttheilen jene Städte entstanden, welche in den ersten Tagen ihres Bestehens kaum einige armselige Baracken aufzuweisen hatten und doch in verhältnißmäßig kurzer Zeit ihre Einwohner nach Tausenden und Hunderttausenden zählten. So blühen auch hier im alten Lande an früher ganz unbeachteten Orten plötzlich Niederlassungen empor, deren rauch- und rußgeschwärzte Bevölkerung mit jeder Stunde wächst, und die Speculation legt einen ihrer Eisenstränge um den andern hinaus in das Land, damit jedes Einzelwirken hereingreife in das Getriebe der großen, allgemeinen Arbeit und kein strebsames Bemühen in der Abgeschlossenheit verkümmere.

Es ist nicht mehr der Wunsch nach Schutz und persönlicher Sicherheit, welcher die Wohnungen der Menschen zusammenlegt, sondern die Nothwendigkeit der gegenseitigen Unterstützung für die Erreichung friedlicher Lebenszwecke, die jetzt um so schneller und leichter erreicht werden, als bei der immer fortschreitenden Erweiterung des Horizontes es Jedermann ermöglicht ist, Ort, Zeit und Weise seiner Thätigkeit seinen Wünschen und Befähigungen anzupassen. Daher war die Einführung der Freizügigkeit und die Aufhebung des Zunftwesens von allen Seiten als eine Nothwendigkeit zu erkennen und mit Dank zu begrüßen.

Die Bibel erzählt von Kain und Abel als den Ersten, welche sich einer bestimmten Berufsthätigkeit hingaben. Kain war Jäger und Abel ein Ackersmann. Während die Jagd längst zu einer Nebenbeschäftigung, ja zu einem Vergnügen geworden ist, wird man in der Landwirthschaft zu allen Zeiten die eigentliche Grundbedingung gewerblicher Thätigkeit und volkswirthschaftlichen Wohlstandes erkennen. Die Bodencultur liefert nicht nur den verschiedensten Gewerben die nöthigen Materiale und Producte, sondern ist in Beziehung auf die Erbauung unsrer Nahrungsmittel der Menschheit vollständig unentbehrlich und giebt in den Preisen, welche sie für dieselben fordert, den Werth aller Arbeitserzeugnisse an. Je mehr oder weniger man für Getreide etc. zahlt, desto höher oder tiefer stellt sich auch der Betrag, welchen man für alles Uebrige zu entrichten hat.

In der Landwirthschaft ergreift der Mensch Besitz von der Erde, die ihm von dem Schöpfer übergeben worden ist. Er macht sie sich zum unanfechtbaren Eigenthum und zwingt sie, ihn als Trägerin seiner Wohnstätte und Erzeugerin seiner sämmtlichen Bedürfnisse dienstbar zu sein. Darum wurde der Ackerbau bei allen alten Völkern hoch geachtet, sodaß selbst Könige vom Throne stiegen und in feierlichem Aufzuge den Pflug durch den Acker führten.[303]

Hochberühmte Männer rief der bedrängte Staat vom furchenziehenden Joche hinweg, zu welchem sie zurückkehrten, sobald sie das siegreiche Schwert aus der Hand gelegt hatten, und noch heut' kommt es hier und da wohl vor, daß ein Regent den Landbau durch die ceremonielle Führung eines pflügenden Gespannes ehrt.

In den ersten Zeiten war der Landwirth gezwungen, nicht nur sein Haus selbst zu bauen, sondern auch alle Werkzeuge und Geräthe, deren er bedurfte, mit eigener Hand zu fertigen. Dadurch wurde seine Zeit und Arbeitskraft zersplittert und zum ansehnlichen Theile dem eigentlichen Berufe entzogen, auch abgesehen davon, daß eine solche Zersplitterung immer verhindert, in einem bestimmten Fache etwas wirklich Nennenswerthes zu leisten. Sobald sich aber eine größere Anzahl Landbewohner zusammenfanden, trat die besondere Geschicklichkeit eines jeden Einzelnen für eine bestimmte Arbeit hervor und es war leicht einzusehen, daß es gerathen sei, diese Geschicklichkeit für sich und Andere nutzbar zu machen. So legte sich der Eine auf die Holz-, der Andere auf die Eisenarbeit; ein Dritter fertigte Haus- und Zimmergeräthschaften; ein Vierter wurde bei dem Bau von Wohnungen zu Rathe gezogen, und jeder von ihnen erhielt seinen Lohn oder den Preis für seine Erzeugnisse in den Producten des Ackerbaues ausgezahlt.

So entwickelte sich nach und nach eine Arbeitstheilung, welche mit der Zeit zur Bildung bestimmter Handwerke führte, deren Zahl sich um so mehr vergrößerte, je zahlreicher die Bevölkerung und mithin auch die Bedürfnisse wurden. Das gegenseitige Ineinandergreifen der Gewerbe fand zunächst auf dem Wege des Tausches statt; doch stellten sich hier bald Schwierigkeiten heraus, die man zu umgehen suchen mußte. Der Besitzer einer Heerde von Kameelen, Rindern und Pferden konnte natürlich blos mit diesen Thieren bezahlen, und das, was er kaufte, hatte in den wenigsten Fällen einen Werth, welcher grad' und genau für dieses Zahlungsmittel paßte. Eins seiner Thiere war mehr werth, als der Bogen, den er brauchte, oder die Decke, welche ihm angeboten wurde, und selbst wenn er von einem dieser Gegenstände mehr nahm, als er eigentlich bedurfte, so war die Ausgleichung doch immer mit Schaden für einen der handelnden Theile verknüpft. Es stellte sich also die Nothwendigkeit eines allgemeinen Werthzeichens heraus, mit welchem es möglich war, Alles zu kaufen und genau zu bezahlen: man schritt zur Einführung des Geldes.

Als solches wurden zunächst die verschiedenartigsten Gegenstände angewandt, wie man ja heut' noch bei vielen uncivilisirten Völkerschaften mit Muscheln, Salz, Perlen, Kattunstücken etc. bezahlt. Aber diese Tauschmittel waren entweder zu schwer transportabel oder einem baldigen Verderben unterworfen; man suchte deshalb nach einem Stoffe, der sich in alle Werthe fügte, leicht geführlich und dauerhaft war, und fand ihn in den Metallen: man prägte Münzen.

Erst von diesem Augenblicke an konnte der Handel einen gesunden Aufschwung nehmen, die Arbeit des Einen fruchtbringend in diejenige der Andern eingreifen und die verschiedenartigsten Leistungen sich lückenlos ergänzen. Erst jetzt begann daher die rege Gewerbsthätigkeit, welche wir schon bei den Völkern des Alterthums bewundern und welche zu Leistungen führte, welche von einer Geschicklichkeit in manchen Fächern zeugte, die selbst die neueste Zeit sich noch nicht wieder angeeignet hat.

Die Arbeit ist das festeste Band, welches sich um die Glieder der menschlichen Gesellschaft schlingt; sie duldet kein Absondern, keine Einsiedelungen, kein abgeschiedenes Dahinträumen, sondern stellt jede gesunde Körper- oder Geisteskraft eng und freundschaftlich neben die andere und weiß ihre hohen und schönen Ziele durch die Macht der Vereinigung zu erreichen. Je weiter sie sich bei den Völkern entwickelte, desto enger und umfassender wurde auch die Vereinigung und gab sich äußerlich durch das Zusammenrücken der Wohnplätze zu erkennen.

Wer nicht, wie der Landmann, an die Scholle gebunden war, der suchte im Weichbilde der immer zahlreicher anwachsenden Städte Gelegenheit zur gewerblichen Ausbildung, um durch dieselbe seine Gaben zu verwerthen und eine sichere und geachtete Lebensstellung zu erlangen. Es zog sich ein Riß zwischen Stadt und Land, welcher Jahrhunderte überdauert hat, trotzdem die Mauern der Städte längst zerfallen, ihre Wälle planirt und ihre Gräben ausgefüllt worden sind, ein Riß, welcher sich in den verschiedenartigsten Beziehungen geltend machen wird, so lange man überhaupt zwischen Stadt und Land unterscheidet.

Schon oft haben wir darauf hingewiesen, daß der Mensch sowohl von dem Boden, welcher ihn trägt, als auch von den Verhältnissen, in denen er geboren und erzogen wird, in hohem Grade abhängig sei. Die Trennung, welche sich in rein örtlicher Beziehung zwischen Stadt und Land vollzog, hat einen bedeutenden Gegensatz der Verhältnisse zur Folge gehabt, welcher seinen Einfluß bis sowohl auf das Aeußere als auf die geistigen Eigenschaften des Stadt- und Landbewohners zu erkennen giebt.

Werfen wir zunächst einen Blick auf Letzteren.

Mögen die Träume des Frühlings noch so beseligend und verlockend über die Fluren ziehen und die stummen und doch so beredten Mysterien des Waldes ihre rauschenden Fittige noch so erquickend und beruhigend um die heiße Stirn des Wanderers schlagen, mag das Liebeslied der Nachtigall noch so süß am Waldessaum erklingen und der Blumenduft die Sinne des Athmenden berauschen, die Natur ist nicht ein weiches, zartes, sentimentales Weib, welches sich in behaglicher Ruhe auf die grünenden Matten streckt, sondern[310] eine ernste, strenge Göttin, welche nur nach des Tages Last und Hitze dem kühlen Abende erlaubt, sich auf die Erde zu senken und die Stimme des sorglichen Lebens schon beim Grauen des Morgens wieder erwachen läßt. Sie läßt sich ihre Gaben nur durch angestrengtes Werben entlocken und giebt ihre Blüthen und Früchte nur Demjenigen zum Genusse, welcher sie sich durch mühevolle Arbeit zu verdienen weiß. Die langen Wälderstreifen, welche sich wie dunkelknorrige, kraftzuckende Sehnen über und zwischen das steinigte Skelett der Erde spannen, die fruchtbaren Bodenmuskeln, welche dem Körper unseres Planeten Fülle, Gestaltung und Physiognomie verleihen, sie theilen ihren Character unwiderruflich auch Demjenigen mit, dessen Fuß durch ihre Laub- und Nadelgänge oder über ihre Furchen schreitet.

Die Natur ist schön, aber ihre Schönheit ist eine urwüchsige, ist nicht nach den Gesetzen der Aesthetik gebildet, und der Stift des Landschafters ebenso wie die Scheere des Gärtners machen sich der Versündigung gegen ihre heilige Eigenthümlichkeit schuldig. Der Jäger, welcher sich seinen Weg durch das Dickicht des Waldes bahnt, der Fischer, welcher am einsamen Ufer des See's seine Netze trocknet, der Bauer, welcher unter rinnendem Schweiße mit der Härte und Sterilität des Bodens kämpft, sie sind Söhne der Natur in höherem oder geringerem Grade und können sich ihrem Einflusse nicht entziehen. Kraft wohnt in ihren Sehnen, Stärke in ihren Muskeln, fest und widerstandsfähig ist ihr Körper geformt; ihr Angesicht kennt nicht jene feinen, durchgeistigten Züge, wie sie der Maler der Civilisation seinen Gestalten so gern mittheilt; ihr Auge hat nicht jenen schmachtenden oder blasirten Blick, dem wir bei den verzärtelten Bewohnern der Städte so oft begegnen; ihre Hand ist rauh und hart, ihr Gang fest, ihr Schritt laut und gewichtig, und in ihrer ganzen äußeren Erscheinung prägt sich jene unveräußerliche Derbheit aus, welche ihnen die Thüren der feinen Gesellschafts Salons verschließt.

Und diese Derbheit geht auch auf ihre geistigen Manieren über, nimmt ihre Ansichten, Meinungen und Gefühle in Beschlag und giebt sich bei jeder ihrer kleinsten Verhandlungen kund. Sie hüllt den Neugebornen mit kräftigem Drucke in die grobleinenen Windeln, lacht über die zeternde Stimme des Säuglings, überläßt das Kind getrost dem selbsterfundenen Spiele, jagt den Knaben und das Mädchen hinaus in das wehende Schneegestöber, läßt das Tanzhaus unter den wuchtigen Tritten des Jungvolkes erzittern, führt Mann und Weib mit klatschendem Handschlage und schallendem Kusse zusammen und begleitet den Menschen durch die Freuden und Sorgen des Lebens mit unveränderter Treue bis zum Grabe. Man sehe nur, wie der Modeheld mit schmachtenden Geberden vor seiner »Angebeteten« liegt, und blicke dagegen auf den Bauerburschen, der seiner Herzallerliebsten einen Puff in die Rippen beibringt, daß sie schier die Balance verliert, und dann kurz fragt:

»Na, Stine, wie wär't denn? hihihihi!«

Das Mädchen reibt sich, nach dem ausgegangenen Athem schnappend, die blauanlaufende Stelle und antwortet:

»I na, Jochem, dat kun ja woll sin! hihihihi!«[311]

Wenn draußen im Walde der Wind durch die engverschlungenen Zweige rauscht und der Wasserfall seinen monotonen Kanon plätschert, dann ertönt wohl eine tiefe, kräftige Stimme:


»Ich schieß den Hirsch im wilden Forst,

Im tiefen Wald das Reh,

Den Adler auf der Klippe Horst,

Die Ente auf dem See.

Kein Ort, der Schutz gewähren kann

Wo meine Büchse zielt,

Und dennoch hab' ich harter Mann

Die Liebe brennend heiß gefühlt.


Campire oft zur Winterszeit

In Sturm und Wettersnacht,

Hab', überreift und überschneit,

Den Stein zum Bett gemacht.

Auf Dornen schlief ich unbewußt,

Vom Nordwind unberührt,

Und dennoch hat auch meine Brust

Die Liebe brennend heiß gespürt.


Der wilde Falk ist mein Gesell,

Der Wolf mein Kampfgespann,

Der Tag geht mir mit Hundsgebell,

Die Nacht mit Hussa an.

Ein Tannreis schmückt statt Blumenzier

Den schweißbedeckten Hut,

Und dennoch schlug die Liebe mir

In's wilde, heiße Jägerblut,«


und wie das Lied die Rauheiten des unmittelbaren Verkehres mit der Mutter Natur, welche ihre Kinder nicht verweichlichen läßt, ganz treffend schildert, so weist es auch hin auf die ungeminderte Kraft, mit welcher sich die Regungen des Gefühles eines Menschenherzens bemächtigen, dessen Träger seine Arme den Fesseln der sogenannten verfeinerten Sitte noch nicht dargeboten hat. Wie kein menschlicher Wille dem Sturme seine Richtung, Dauer und Stärke vorzuzeichnen oder den zuckenden Funken des Blitzes zu halten vermag, so stehen auch die seelischen Meteore des Naturmenschen unter keiner beengenden Herrschaft und machen sich in kräftigerer Weise geltend, als da, wo Convenienz und Dehors den Schritt des lackbeschuhten Fußes lenken.

Und doch, so wie der Wald nach seinem Character so verschieden ist von der offenen Flur, so trägt auch der in ihm Beschäftigte, der Jäger, der Holzhauer, ein von dem Ackerbauer verschiedenes körperliches und geistiges Gepräge an sich. Die Mysterien des Forstes haben ihren Schleier auch über ihn gelegt und der poesievolle Duft der dunklen Tannenwipfel webt seine Träume auch um seine Person.

Der Bauer, meist auf dem Stückchen Erde geboren, welches er bewohnt, zieht nur aus seinem Acker das, was ihm zum Leben und Bestehen nothwendig ist. Er legt den Samen in das Land und ist, wenn er die Früchte erndten und genießen will, fest an den Ort gebunden. Dieses Beharren und Festhalten ist ihm auch zur geistigen Eigenthümlichkeit geworden.

Schon in körperlicher Beziehung ist er nicht leicht beweglich; sein Schritt ist ein langsamer und sicherer, seine Haltung eine jederzeit ruhige und bedächtige, und es muß eine Leidenschaft in ihm erweckt worden sein, wenn ja einmal seine Bewegungen ein lebhafteres Tempo zeigen. Ansichten, zu denen er sich bekennt, und Meinungen, die er einmal gefaßt hat, hält er mit erstaunenswerther Zähigkeit fest; er hat sie von seinen Eltern geerbt und trägt sie wieder auf seine Kinder über. Was der Großvater für recht und gut erkannte, das hält noch der Enkel für heilig, gleichviel, ob es bis dahin veraltet ist. Von Neuerungen ist er kein Freund, und daher bringt er allem Unbekannten ein Mißtrauen entgegen und hat die Vorsicht zur Mutter seiner Klugheit gemacht. Was Andere thun und treiben, das geht ihm wenig oder gar nichts an, wenn sie nur ihn in Ruhe lassen und nicht etwa gar verlangen, daß er seinen Grütze mit ihnen theile. Er steht eben unter dem unmittelbaren Einflusse des festen, unbeweglichen Elementes, welches er bearbeitet, und wie dasselbe trotz all dieser Arbeit sich doch immer gleich bleibt, so ist auch er das Urbild eines ächt Conservativen, welchem es vor Allem graut, was irgend einer Veränderung ähnlich sieht.

Darum dringt die Wissenschaft mit ihren Erfolgen viel langsamer in das praktische Leben des Landwirthes ein, als in dasjenige anderer Berufszweige, und wenn wir auch sagen müssen, daß in diesem kräftigen und oft nur pietätvollen Beharren bei dem einmal Bestehenden eine der bedeutendsten nationalen Stützkräfte zu erkennen sei, so kann doch nicht geleugnet werden, daß die Zähigkeit einer zahlreichen Volksklasse einen hemmenden Einfluß auf die allgemeine Entwickelung ausüben müsse.

Es gab eine Zeit, in welcher man mit wirklichem Rechte von dem »dummen Bauer« sprach; er war in Folge seiner Liebe zum Hergebrachten bei dem allgemeinen Drängen nach Vorwärts zurückgeblieben und bildete neben den gewandten Gestalten der Anderen nicht selten eine sogar oft komische Figur. Er war das enfant terrible aller Spaßvögel und Witzfabrikanten und der bevorzugte Operationsgegenstand Derjenigen, welche sich zu dem unguten Wahlspruche bekennen: »So lange es noch Dummheit giebt, braucht ein Gescheidter nicht zu arbeiten.«

Das ist nun freilich anders geworden. Durch Schaden wird man klug, und die angeborene Bedächtigkeit des Bauern hat sich zu einer scharfsinnigen Vorsicht zugespitzt, welche[318] nur schwer zu übervortheilen ist. Es liegt in dem festen Besitze auch eine geistige Macht; dem nach festen Gesetzen vor sich gehenden Drängen nach Aufklärung kann sich Niemand auf die Dauer entziehen, und wie der Landmann treu am Alten hält, so energisch nimmt er auch das Neue in die Hand, wenn er es einmal als vortheilhaft erkannt hat. So ist es gekommen, daß der »dumme Bauer« mit der Zeit ein Pfiffikus geworden ist, der »es hinter den Ohren hat« und Manchem zu rathen aufgiebt, welcher mit Stolz und Zurücksetzung auf ihn herabblickte.

Weit entfernt von den Erscheinungen des Landlebens sind die Eindrücke, unter denen der Bewohner der Stadt emporwächst.

Während der Sohn des Bauern seine ersten Anschauungsübungen an Gegenständen versucht, welche sich einer unausgesetzten Realinjurie gegen Auge, Nase und Gehör schuldig machen, öffnet das Kind der Stadt sein Auge entweder inmitten einer schönen Häuslichkeit oder doch in einer Umgebung, welche dem Blicke Anderes bietet, als die nackten Unschönheiten, wie sie die Kehrseite eines Dorfes zeigt. Zeit und Kraft der Familienglieder werden hier nicht von den harten Anforderungen der schweren Handarbeit so vollständig absorbirt, daß die einzige Erholung »Schlaf,« das einzige Vergnügen »Wirthshaus« heißt und die Einsamkeit des Lebens jene Ungefügigkeit hervorbringt, welche man vorzugsweise an dem biedern Landmanne zu beobachten pflegt.

Die Stadt ist aus Gesellschaftsrücksichten entstanden und trägt seit dem ersten Augenblicke ihres Bestehens das Gepräge der Geselligkeit an sich, der Geselligkeit, in welche ein jeder ihrer Bewohner sich bewußt oder unbewußt hineingezogen fühlt. Wer da glaubt, daß es Eltern und Lehrer allein sind, welche an der Erziehung eines Kindes wirken, der irrt sich gar sehr, denn hinter ihnen steht eine Hofmeisterin, welche, Jahrtausende alt und doch ewig jung, ihre Bemühungen unterstützt oder auch ihnen entgegen zu wirken vermag: das Leben mit seinen unzähligen Erscheinungsarten und immer wechselnden Ereignissen. Der Einfluß, welchen es auf die Erziehung des Kindes übt, wird von Vielen, Vielen gar nicht erkannt oder doch nur wenig beachtet und gewürdigt, und doch vermag ein einziges kleines Vorkommniß den ganzen Bau elterlicher Anstrengungen in Trümmern zu stürzen. Ist nun das Leben einer Stadt so verschieden von demjenigen auf dem Lande, so müssen auch die von ihm bewirkten Eindrücke mehr oder weniger ungleiche sein, und diese Ungleichheit wird sich im ganzen Wesen der Bewohnerschaft aussprechen.

Die Mannigfaltigkeit der Bilder, wie sie das Stadtleben zeigt, bewirkt größere Erfahrung; die Schnelligkeit, mit welcher diese Bilder einander folgen und ablösen, schärft den Blick und führt zur Geistesgegenwart. Ein zehnjähriger Berliner Schusterjunge hat bedeutend mehr gesehen, als ein neunzigjähriger Greis, welcher nicht aus Kuhschnappel oder Lämmershausen hinausgekommen ist, und wie sich die Erfahrungen häufen, so auch die Hindernisse, an denen sich der Muth, das Selbstvertrauen und die Unternehmungslust stählt.

Wie die Scenerie der Stadt eine lebhaftere ist als diejenige des Dorfes, so ist auch der Bewohner der ersteren körperlich und geistig beweglicher als der Dörfler. Auf dem Lande liegen die Besitzungen auseinander und bilden meist ein für sich abgeschlossenes, durch Raine, Zäune und Hecken wohlverwahrtes Ganze; so schließt sich der Bauer gern nach Außen ab und lebt innerhalb seiner vier Pfähle als Alleinbeherrscher eines Reiches, in dessen Angelegenheit kein Anderer etwas zu sprechen hat.

Anders ist es in der Stadt. Da schmiegt sich ein Haus eng an das andere; es bilden sich Gassen, Straßen und Plätze; der Raum wird kostbar, und der Einzelne muß mit den Anderen zusammenrücken, obgleich das Ganze wächst und sich immer weiter ausbreitet. Die Menschen werden einander nahe gebracht, berühren sich in ihren Gesinnungen und Verhältnissen und eignen sich dadurch jene Abrundung an, welche so vortheilhaft gegen das eckige, scharfe Wesen des Ländlers absticht.[319]

Die Beweglichkeit, welche eine nothwendige Folge dieser Abrundung ist, macht den Städter geschickt, sich in die Verhältnisse zu fügen, von den Schlägen des Schicksals sich schnell zu erholen und ertheilt ihm eine Elasticität des Geistes, welche Alles in ihren Bereich zu ziehen sucht und vor nichts Schwierigem zurückbebt, sobald es überhaupt durch Menschenkraft erlangt oder ausgeführt zu werden vermag. Das bereits Gewonnene und Eroberte wirft er leicht hinter sich und schreitet gern von einem Ziele zum andern.

Freilich hat diese Beweglichkeit auch ihre Gefahren. »Andre Städtchen, andre Mädchen« sagt ein altes Sprüchwort und bezeichnet jene Unbeständigkeit, der man in den Straßen der Städte weit öfterer begegnet als auf den Wegen des Dorfes. Während wir den Bewohner des Letzteren conservativ nannten, fügt sich der Bewohner der Stadt leichter in einen Wechsel der Verhältnisse und ist ebenso leicht zu einer anderen Ansicht und Meinung zu bestimmen. Politische Aenderungen, Umgestaltungen, Revolutionen etc. sind wohl kaum jemals vom platten Lande ausgegangen, sondern die eigentlichen Herde solcher Umwälzungen waren fast immer jene großen, reichbevölkerten Städte, in denen sich die Meinungen begegnen, reiben und, eine von der andern getragen und gehoben, zu Gewalten anwachsen, denen sich selbst die geheiligtsten Einrichtungen unterwerfen müssen.

Da es vorzugsweise die Städte sind, in denen die Cultur des Geistes ihre Wohn- und Werkstätten sich errichtet, so treten hier auch alle diejenigen Mißstände, welche eine leider unvermeidliche Folge unserer Civilisation sind, am ersten und augenfälligsten hervor. Die »Barbarei der Gesittung,« wie man jene Mißstände genannt hat, macht sich am liebsten da geltend, wo bei dem Zusammenleben vieler Menschen das Geschick des Einzelnen der allgemeinen Beachtung entgeht oder den Interessen der Gesammtheit zum Opfer fallen muß. Hier liegen auch die verborgenen Winkel und Höhlen, aus welchen die sittliche Corruption, das Laster und Verbrechen sich auf seine Opfer stürzt oder, unter Puder und Schminke verborgen, seine Netze auswirft, um den Leichtsinnigen und Unerfahrenen in scheinbar süße, aber verderbenbringende Bande zu schlagen. –

Stadt und Land. Es liegt ein Gegensatz in diesen beiden Worten, und wie die Gegensätze sich gewöhnlich anzuziehen pflegen, so findet auch hier eine beiderseitige Anziehung statt, welche man fast täglich beobachten kann.

Wenn der Rauch und Staub der Straßen, das Geräusch und Gewühle des Verkehres dem Städter einmal zu lästig wird, dann greift er nach Parapluie und Ueberzieher, hängt seiner schönern Hälfte die schwarzseidene Mantille über den Arm, stellt die Schaar seiner hoffnungsvollen Sprößlinge in Reih und Glied und wandert in pleno seines Weges fürbaß, bis ihm zwischen in natürlicher Unbefangenheit sich präsentirenden Bauergütern der vielgeprüfte Thurm einer alten Dorfkirche entgegenblickt. Hier wird, mag es nun zur Zeit der »Boombluth,« der Rettigsbirnen oder des »grauen Mostes« sein, die Amtsmiene und städtische Ehrwürdigkeit auf einige Stunden in Ruhestand versetzt; das Schild über der Thür des Wirthshauses ist zwar seit dreißig Jahren nicht mehr ganz genau zu buchstabiren, aber man weiß aus Erfahrung, was es zu bedeuten hat; es findet sich diese und jene edle Seele, diese und jene redselige Gevatterschaft zusammen oder es treffen sich ganz unvermuthet ein paar sehr nahe Verwandte – »aus sieben Ranzen eine Haare« – die sich seid Olims Zeiten nicht mehr gesehen oder einander früher gar nicht gekannt haben, und da man mit dem festen Vorsatze gekommen ist, sich unter allen Umständen ein Vergnügen zu machen, so ist der Spaß bald an allen Ecken und Enden los, man findet Alles gut und vortrefflich, und wenn auch auf dem Rückwege der eingedrückte Hut dem Herrn Gemahl etwas im Genicke sitzt, die Frau Gemahlin nicht mehr ganz genau weiß, ob sie ihn oder er sie führt, und die liebenswürdigen Kleinen in allen Dur- und Molltonarten lachen, singen, pfeifen oder nach dem Bette weinen, man ist doch auf dem Lande gewesen, und die Partie war wirklich köstlich, gottvoll heute!

Ebenso freut sich der Bewohner des Landes schon lange Zeit vorher auf den Tag, an welchem er mit den Seinen »zur Stadt« geht. Besonders sind es die Jahrmärkte und Vogelschießen, welche magnetisch wirken. Der beste »Staat« wird hervorgesucht; in der Tasche klimpern die wohlgeputzten Thaler, und auf allen Wegen sind behäbige Gestalten zu sehen, die im süßen Gefühle, daß die Kartoffeln gut gerathen werden und der Hafer aufgeschlagen ist, im Vollbewußtsein ihrer ein-, zwei-, drei- und vierspännerlichen Bedeutung gemessenen Schrittes aus allen Richtungen herbeiwallfahrten. Und wenn nach all' den ausgestandenen Rippenstößen und Fußtritten der Heimweg angetreten wird, so ist man glücklich, sich einmal gründlich umgesehen und dem Städter gezeigt zu haben, daß »hinter dem Berge auch noch Leute wohnen.«

Während auf diese Weise ein kleines Landstädtchen für seine Umwohner den Inbegriff alles Schönen und Wünschenswerthen, den Mittelpunkt alles geschäftlichen und gesellschaftlichen Verkehres bilden kann, giebt es unzählige wanderlustige Seelen, die bei dem Beginne des Sommers ihre Schwingen rüsten, um hinauszufliegen in die schöne, weite Gotteswelt, ein Fleckchen Erde nach dem andern zu durchstreichen und Land und Leute recht gründlich kennen zu lernen. Da giebt es denn bestimmte Land- und Ortschaften, welche sich der Gunst dieser ruhelosen Wandervögel ganz besonders erfreuen und sich deshalb mit jedem neuen Jahre auf neuen, zahlreichen Besuch einrichten. Da sind es Residenzen oder sonst bedeutendere Städte, Badeorte, Inseln oder ganze Gegenden, welche in Folge ihrer Naturschönheiten oder der in ihnen angesammelten Kunstschätze sich eines vortheilhaften Rufes[326] erfreuen und den Sammelpunkt der Fußreisenden und Passagiere erster, zweiter, dritter und vierter Wagenclasse bilden.

Kein Wunder, wenn die Bewohner solcher Länder, Gegenden oder Städte mit Stolz von ihrer Heimath sprechen und mit anhänglicher Liebe ihr zugethan sind! »Das heilige Reich der Mitte« nennt der Chinese sein Land, als ob die anderen Länder als werthlose Anhängsel sich nur so um dasselbe gruppirten, und wenn er zu noch so vielen Tausenden nach dem fernen Amerika auswandert, um dort einem spärlichen und genügsamen Erwerbe nachzugehen, er bleibt doch ein treuer Sohn der heimathlichen Erde und sorgt mit Aufbietung aller Kräfte dafür, daß wenigstens seine Leiche in derselben zur Ruhe bestattet werde. »La belle france,« das schöne Frankreich, nennt der Franzose sein Vaterland und vergleicht es mit diesem Ausdrucke einer Schönen, mit welcher keine Andre zu vergleichen ist und der er Treue geschworen hat bis in den Tod. »Ich hab' mich ergeben mit Herz und mit Hand,« singt mit eben solcher Treue der Deutsche; »nach Sevilla, nach Sevilla!« ruft der Spanier; »Wangenglanz des Weltenangesichtes, o Istambul!« redet der Türke sein Constantinopel an; »Cahira, die Unvergleichliche,« nennt der Eypter sein Cairo; »die Königin des Meeres« hieß das stolze Venedig bei seinen früheren Bewohnern, und


»Du bist die weitberühmte Stadt,

Von Glanz und Ruhm erhellt,

Der man mit Recht gegeben hat

Den Namen ›Goldne Welt‹«,


sagt Ramiers von dem berühmten Brügge. An solchen individualisirenden Bezeichnungen ist stets etwas Wahres, denn jede Stadt, ja überhaupt jede Ortschaft hat ihren eigenen Character und stellt sich, wenn dieser Ausdruck hier erlaubt ist, als eine Persönlichkeit dar.

Aber nicht blos positive, sondern auch negative Eigenschaften sind es, welche gewissen Gegenden und Oertern einen hellen Nimbus verleihen. Man denke nur an das wundervoll geistreiche Lied:


»Die Pinzgauer wollten wallfahrten gehn

Und wollten schön singen und konnten's nit schön:

Zschiha, Zschihu, Zschiho,

Die Pinzgauer sind schon do!«


oder an die berühmten Schildbürger und Bewohner von Krähwinkel, wenn nicht gar an das weltbekannte Tripsdrille, »wo die Pfütze über die Weide geht.«

Wie man früher possierlicher Weise die Orgeln in ganze, halbe, Viertel- und Achtel-Orgeln eintheilte, so spricht man auch von Städten ersten, zweiten, dritten, vierten etc. Ranges, und jeder Ort strebt, in dieser zweifelhaften Stufenordnung eine höhere Stelle einzunehmen. Und ist gar die Hunderttausendzahl der Einwohner voll, so steuert man mit vollen Segeln auf die »Weltstadt« zu, und doch beweist die Geschichte, daß sehr oft ein kleines, unbedeutendes Städtchen oder Dörfchen größeren Einfluß auf die Richtung und Gestaltung des Völkerlebens ausübte, als die bevölkertste Metropole. Die Riesenstädte der Vergangenheit liegen unter Schutt und Trümmer, und die Babels und Ninive's der Gegenwart breiten ihre Häuserreihen über Orte, an denen damals der Bär mit dem Auerochsen kämpfte. So folgt in dem großen, allgemeinen Entstehen und Vergehen Eins dem Anderen, und wie kein Mensch sein Schicksal vorauszusehen vermag, so liegt auch die Geographie der Zukunft hinter dichtem, undurchdringlichem Schleier verborgen.[327]

Quelle:
Geographische Predigten von Karl May. 7. Stadt und Land. In: Schacht und Hütte. 1. Jg. Dresden (1876). Nr. 41, S. 326-328.
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