Das Joch am Leman

[129] »Die einen liegen tot mit ihren Wunden,

Die andern treiben wir daher gebunden!

Den Römeraar der Zwillingslegion,

Im Männerkampf, im Roßgestampf entrissen

Der eingegarnten Wölfin scharfen Bissen,

Schwingt Divico, der Berge Sohn!« –


Weit blaut die Seeflut. Scheltend jagen Treiber

Am Ufer einen Haufen Menschenleiber,

Die nackte Schmach umjauchzt Triumphgesang,

Ein Jüngling kreist auf einem falben Pferde

Um die zu zwein gepaarte Römerherde

Die Krümmen des Gestads entlang.


Er schleudert auf den Aar mit stolzem Schreie

Er schickt den Ruf empor zur Firnenreihe –

Die Grät und Wände blicken groß und bleich –

»Hebt, Ahnen, euch vom Silbersitz, zu schauen

Die Pforte, die wir für den Räuber bauen,

Der sich verstieg in euer Reich!


Wir bauen nicht mit Mörtel noch mit Steinen,

Zwei Speere pflanzt! Querüber bindet einen!

Zwei Römerköpfe drauf! Es ist getan!« –

Das Joch umstehn verwogne Kriegsgesellen

Mit Auerhörnern und mit Bärenfellen

Und schauen sich das Bauwerk an.


Die Hörner dröhnen. Zu der blut'gen Pforte

Strömt her das Volk aus jedem Tal und Orte,

Groß wundert sich am Joch die Kinderschar,

Ein Mädelreigen springt in heller Freude

Um das von Schande triefende Gebäude,

Den blühnden Veilchenkranz im Haar.


Der Manlierstirn verzogne Brauen grollen,

Des Claudierkopfs erhitzte Augen rollen –

Der Hirtenknabe geißelt wie ein Rind[130]

Den Brutusenkel. Sich durchs Joch zu bücken,

Krümmt jetzt das erste Römerpaar den Rücken

Und gellend lacht das Alpenkind.


Mit starren Zügen blickt, als ob er spotte,

Ein Felsenblock, der eigen ist dem Gotte,

Drauf hoch des Landes Priesterinnen stehn:

Ein hell Geschöpf in sonnenlichten Flechten,

Und eine Drude mit geballter Rechten,

Und rabenschwarzer Haare Wehn.


Die Dunkle höhnt: »Geht, Römer! Schneidet Stecken!

Mit Lumpen gürtet euch und Bettelsäcken!

Euch peitsch ein wildes Wetter durch die Schlucht!

Verflucht der Steg, darüber ihr gekommen,

Und wen ihr euch zum Führer habt genommen,

Er sei am ganzen Leib verflucht!«


Die Lichte fleht: »Du blitzest in den Lüften,

Umschwebst die Spitzen, hausest in den Klüften!

Behüte, Geist der Firn, uns lange noch!«

Die beiden singen starke Zauberlieder –

Ein Geier hangt im Blau und stößt danieder,

Und setzt sich schreiend auf das Joch.


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 129-131.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe 1892)
Gedichte.
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)
Ausgewählte Novellen / Gedichte (Fischer Klassik)
Gedichte: Apparat zu den Abteilungen III und IV
Gedichte: Apparat zu den Abteilungen VIII und IX. Nachträge, Verzeichnisse, Register zu den Bänden 1 bis 7

Buchempfehlung

Klingemann, August

Die Nachtwachen des Bonaventura

Die Nachtwachen des Bonaventura

Erst 1987 belegte eine in Amsterdam gefundene Handschrift Klingemann als Autor dieses vielbeachteten und hochgeschätzten Textes. In sechzehn Nachtwachen erlebt »Kreuzgang«, der als Findelkind in einem solchen gefunden und seither so genannt wird, die »absolute Verworrenheit« der Menschen und erkennt: »Eins ist nur möglich: entweder stehen die Menschen verkehrt, oder ich. Wenn die Stimmenmehrheit hier entscheiden soll, so bin ich rein verloren.«

94 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon