Theonise

[11] An meine Lina.


Mit einem Blick voll heitrer Ruh,

Erschien die junge Theonise

Auf einer bunt gestickten Wiese

Und schnitt sich Gras für ihre Kuh.


Voll Reitz, wie Hebe, kniet sie hier

Und singt. Schnell wand sich eine Schlange

Um ihren Arm. Ihr war nicht bange,

Sie schwang die Sichel nach dem Thier.


Da sprach die Schlange: tödtst du mich,

So lebst du zwar, doch deine Mutter

Erblaßt. Ha, rief sie, meine Mutter!

Und ihre Brust schlug fürchterlich.


Sie wirft noch einen nassen Blick

Nach ihrem Dach. Nun sauge, sauge!

Spricht sie zur Natter, schließt ihr Auge

Und sinket starr ins Gras zurück.
[12]

Doch schnell erwacht sie; ihre Hand

Ergreift ein Jüngling. Gleich den Söhnen

Des Aethers, lächelt er, der Schönen,

Die bebend ihm zur Seite stand.


Der Spruch des Schicksals ist erfüllt;

Das frömmste Kind, so war sein Wille,

Befreyt mich von der Schlangenhülle,

Die lange mich gefangen hielt.


Ich bin ein Prinz, fuhr Idamant

Zu reden fort, die blauen Wellen

Des Euphrats nagen an den Schwellen

Des Throns, den ich nun wieder fand.


Komm, Edle, weihe mir ihn ein;

Durch dich erst kann ich glücklich werden.

Heil mir! das beste Kind auf Erden

Muß auch die beste Gattin seyn.


Ja, Lina, Tugend darbet nie:

Und hat ein Gatte keine Kronen,

Die Kindestreue zu belohnen,

So krönt der Eltern Segen sie.

Quelle:
Gottlieb Konrad Pfeffel: Poetische Versuche, Erster bis Dritter Theil, Band 3, Tübingen 1802, S. 11-13.
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