Schuldforderung

[186] In dem Dome trennt ein Ritter

Des Gefolges Scharlachflut:

»Herr und König, den man krönet,

Gieb mir das erborgte Gut!


Deines Leibes Purpurlinnen

War einst meiner Felder Tracht,

Deiner Krone Diamanten

Schlummerten in meinem Schacht.


Dir dein Erbe zu erkämpfen

Lieh der alte Freund sie dar.

An die Stirne dir geheftet

Wird mein Auge sie gewahr.


Nun, bei Gottes Flammenblicke,

Der sie alle funkeln sieht:

Leist' Ersatz mir, daß dich strafend

Nicht die Last zu Boden zieht!«


Vor des hohen Thrones Staffel

Heischet er sein Recht vom Glück;

Doch ein Fußtritt seines Schuldners

Stößt das graue Haupt zurück.


Zu des Feindes braunen Locken

Blitzt empor sein Blick und spricht:

»Hält nur noch mein altes Leben,

Junger, du entgehst mir nicht!


Doch den Fluch verschlingt das Jauchzen,

Goldner Glanz die Gramgestalt,

Ungefürchtet, ungesehen

Flieht er in den schwarzen Wald;


Zählet dort die dünnen Haare,

Rechnet mit der Lebenszeit:

Wenn er haushält mit Minuten,

Wohnt die Rache nicht zu weit.
[187]

Bei dem Neide der Vasallen,

Bei der Bauern Qual und Schweiß,

Bei dem Groll verstoßner Knechte

Sucht er sie und haucht sie heiß.


Und er hat ein Heer gesammelt,

Eh' ein Haar vom Haupt ihm fiel,

Wie im Sturmwind frischer Jugend

Wehet ihn die Wut an's Ziel.


Aber aus der Stadt entgegen

Schwingt sich klagendes Geläut;

Seines Königs junge Leiche

Trug das Volk zum Dome heut.


Vor der offnen Kirchenpforte

Staunt gehobnen Schwerts der Greis,

Und die heiße Rach' im Herzen

Ballt sich plötzlich ihm zu Eis;


Wie der Jäger mit geschwungnem

Speere vor dem Schlund verzagt,

Wo den Hirsch, den langgehetzten,

Todesangst hinabgejagt.


Ueber seines Feindes Bahre

Liegt ein weinend Kind gestreckt,

Das der Purpur heilig kleidet,

Das die Demantkrone deckt.


Und sein Schwert gesenkt zu Boden,

Auf den Knauf gestützt sein Haupt,

Ueberblickt der müde Rächer,

Was das Schicksal ihm geraubt:


»Nein! aus dieses Knaben Händen

Fodr' ich nicht des Vaters Schuld!

Hab' Erbarmen, meine Seele,

Fasse noch dich in Geduld!


Keinen Erben lass' ich scheidend,

Sei denn Alles ihm vermacht!

Meine Sorge sei, zu finden

Den dort in des Grabes Nacht!«
[188]

Und mit straffem Fuße stampft er,

Daß es dröhnet, auf den Stein:

»Unter dieser Tempelschwelle

Will ich einst begraben sein!


Männer, die ihr grimmig kamet,

Neigt euch vor dem Herrscherstab;

Doch die Axt, für mich gehoben,

Grab' und schütze mir dies Grab!


Dann, beim Hallen der Posaune,

Wenn sich drin der Falsche dehnt,

Harr' ich, früher auferstanden,

An das Kirchenthor gelehnt.


Schreitet er heraus zum Dome,

Trifft er mich zum Gang bereit

Vor den Thron der schlummerlosen

Ewigen Gerechtigkeit!«

Quelle:
Gustav Schwab: Gedichte. Leipzig [um 1880], S. 186-189.
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