Das höchste Schöne

[205] Beglückt, beglückt wem Phöbus heil'ge Glut

Zu höherm Schlag die reine Brust bewegt,

Wer trunken an der Nektarquelle ruht,

Wenn Phantasie den Geist allmächtig regt;

Da streben freundlich himmlische Gestalten,

Den Sinn des Schönen kräftig zu entfalten!


Hoch schlug einst Zeus die holde Gabe an,

Als er vertheilte, was die Erde giebt,

Dem Sänger blieb allein der süsse Wahn,

Der seine Kräfte im Entsagen übt; –

Ihm quillt im Musenhain die Aganippe,

Sie tränkt mit Himmelsthau die durst'ge Lippe.


Wem tönt der Lyra tief empfundnes Spiel,

Und wer entfesselt den befangnen Geist,

Dass kühn er sich mit glühendem Gefühl

Der kalten, rauhen Wirklichkeit entreisst,

Und sie versucht, mit schönen Idealen,

Aus Morgenlicht gewoben, zu umstralen?
[206]

Wenn dich des Liedes Seele hold umschwebt,

Dann hasche froh den schönen Augenblick,

Wo die Begeist'rung dich zum Gott erhebt,

Zum grossen Meister über das Geschick,

Entäussert jeder niedern Erdenbürde,

Schwing' dich hinauf zur höchsten Geisterwürde;


Süss ist ihr Wink: die flücht'ge Hore eilt,

Umsonst, umsonst hemmt sie dein leiser Ruf;

Weil nur im Flug' das Schöne bei uns weilt,

Was frei die Phantasie so mild erschuf;

O selig! wer mit reiner Brust es feiert,

Dem Rohen bleibt es ewig unentschleiert;


Vom ew'gen Lichte wird es nur erzeugt,

Aetherisch, wie der Horen, Reihentanz,

Wie Wesen, die kein Schicksal niederbeugt,

Verweht es auch gleich einem Blüthenkranz:

Das Heilige geht nimmermehr verloren,

Nur schöner wird es immer neu geboren.


Vergebens, nahst du seinem Hochaltar,

Versagte Phöbus dir den Weihekuss;

Dem wird das Göttliche nie offenbar,

Der nicht, beseelt vom eignen Genius,

Die heil'ge Flamme der Begeist'rung kühlet,

Nie in sich selbst das Schöne schöner fühlet!

Quelle:
Elise Sommer: Gedichte, Frankfurt a.M. 1813, S. 205-207.
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