Von allen Heyligen

[115] [1.]

O Jhr Heyligen außerwehlt/

Was Gnaden hat euch Gott erzeigt/

Der euch bey seine Freund gezehlt/

Wie wol ist euch der Herr geneigt/

Euch gibt der Herr das höchste Gut/

Das Leib vnd Seel/ das Hertz vnn muth/

Jn Ewigkeit erfrewen thut.
[116]

2.

Jhr glantzt mehr als der Sonnen glantz/

O wie glantzt jhr im Himmelreich/

Ewr Klarheit ist so vol vnd gantz/

Euch ist kein Glantz auff Erden gleich.

Jhr glantzt im Himmel also sehr/

Wann jeder Stern ein Sonne wehr/

All könten sie nit glantzen mehr.


3.

Ewr Leib wird seyn klar wie Crystall/

Die Seel im Leib gantz Sonnenklar/

Die Aderen wie roth Corall/

Goldgelb am Haupt ein Englisch Har/

Das Blut im Leib wird riechen wol/

Daß keiner nichts mehr wünschen sol/

Wann auch der Leib wer Balsam vol.


4.

Jhr geht herumb im Paradeiß/

Euch ist gepflantzt der Rosengart/

Jhr brecht da Rosen roth vnd weiß/

Vnd Blümelein von aller Art.

Die Blumen sein so hübsch vnd fein/

Daß in dem kleinsten Blümelein/

Viel hundert tausendt Frewden sein.


5.

Jhr werd im Himmel wol tractiert,

Jhr sitzt bey Gott an seinem Tisch.

Der Tisch mit Speisen ist geziert/

Die allezeit gantz new vnd frisch.

Was einer wil ist alles da/

Auch Nectar vnd Ambrosia.

Kein Mangel ist da bey noch nah.
[117]

6.

Was Frewd ist hie? was Lust dabey?

Was Music! O was Seytenspiel.

O Lust! O Frewd! O Harmoney!

Vnzählig sein der Stimmen viel/

Die Seytenspiel nie müssig stehn/

Die Stimmen durcheinander gehn/

Nichts gleich erhört/ noch auch gesehn.


7.

Jhr schawet Gottes Angesicht/

Mit solchem grossen Gust vnd Lust/

Der Mensch das kan begreiffen nicht/

Dem diese Frewd nicht selbst bewust.

Diß schawen euch so frölich macht/

Daß jhr all Frewd der Welt nicht acht/

Daß euch das Hertz von Frewden lacht.


8.

O jhr Heyligen allzumahl/

Wir bitten euch von hertzen grund/

Helfft vns auß diesem Jammerthal/

Jetzunder in der nechsten Stund.

Gib auch O Gott der Christenheit/

Daß alle wol zum Todt bereit/

Bald kommen zu der Seligkeit.


Quelle:
Friedrich Spee: Die anonymen geistlichen Lieder vor 1623, Berlin 1979, S. 115-118.
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