7. Genius

[40] 24. Januar 1773.


Den schwachen Flügel reizet der Äther nicht

Im Felsenneste fühlt sich der Adler schon

Voll seiner Urkraft, hebt den Fittich,

Senkt sich, und hebt sich, und trinkt die Sonne.


Du gabst, Natur, ihm Flug und den Sonnendurst!

Mir gabst du Feuer! Durst nach Unsterblichkeit!

Dies Toben in der Brust! Dies Staunen,

Welches durch jegliche Nerve zittert,


Wenn schon die Seelen werdender Lieder mir

Das Haupt umschweben, eh das nachahmende

Gewand der Sprache sie umfließet,

Ohne den geistigen Flug zu hemmen!


Du gabst mir Schwingen hoher Begeisterung!

Gefühl des Wahren, Liebe des Schönen, du!

Du lehrst mich neue Höhen finden,

Welche das Auge der Kunst nicht spähet!


Von dir geleitet, wird mir die Sternenbahn

Nicht hoch, und tief sein nicht der Oceanus,

Die Mitternacht nicht dunkel, blendend

Nicht des vertrauten Olymps Umstrahlung!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50,2, Stuttgart [o.J.], S. 40-41.
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