9. An Lais

[43] Im Juli 1773.


Weil noch leicht, wie ein Traum, welchen der Nektar zeugt,

Dir die gaukelnden Tag' entfliehn;

Weil noch Hebe den Mund glühend wie Morgenrot,

Rosenwallend die Wange malt;

Weil noch täglich dein Blick, hell wie der Abendstern,

Aber treffend wie Sirius,

Die hintaumelnde Schar deiner Gefangnen mehrt:

Darum trotzest du, Thörichte?

Wird dir ewig die Glut schmachtender Jünglinge,

Dir die Blässe der Eifersucht

Ewig frönen? Auch dich werden die Grazien,

Jede siegende Kunst wird dich

Einst verlassen! Dein Lenz schwindet auf neidender

Weste Fittich! bald hauchen sie

Deine Blüten herab! dann wird die buhlende

Lais seufzen. Ihr rosigen

Tage, kommet zurück! Aber die rosigen

Tage flohen! Verhülle dich,[43]

Lais! daß der Triumph deiner Gespielen dich,

Die Moral der Matrone dich

Nicht verfolge, der Hohn deiner Entfesselten

Dich nicht treffe! denn eisern war

Deine Herrschaft! dein Stolz freute der Thränen sich,

Und der blassen Verzweifelung!

Nun sind Thränen der Schmuck dieser verwelkenden

Wangen! Seufzer erheben nun

Ungeheißen die Brust! jeden verlöschenden

Schimmer deiner gefeierten

Augen waffnet die Wut! Lais, verhülle dich!

Dein ist Schande! Denn eisern war

Deine Herrschaft! Dein Stolz freute der Thränen sich

Und der blassen Verzweifelung!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50,2, Stuttgart [o.J.], S. 43-44.
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