48. Thränen der Liebe

[97] 1776.


Träufle, mein süßes Mädchen, diese Thränen

Auf die silberne Leier deines Stolberg!

Sitz auf meinen Knien, und laß die Thräne

Über die Wange


Deines Geliebten rinnen auf die Saiten,

Daß sie beben, wie deine Busenbänder,

Und daß meine Thräne mit deiner Thräne

Tönend sich mische!
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Thräne der Liebe, ach! der stummen Wonne

Thräne! könnt' ich sie fassen und verwahren!

Und mit ihr den ersten der Küsse, da du

Schüchtern dich umsahst,


Dann um den Hals mir fielst, und sanfterrötend

Deine Lippen an meine Lippen drücktest:

Unsre Seelen huben sich auf der Liebe

Seufzer, und schwebten


Wonneberauschet auf des Kusses Flügeln,

Wie auf Hauchen des Lenzes süße Düfte

Um die Wangen rötlicher, taubenetzter

Blüten des Apfels!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50,2, Stuttgart [o.J.], S. 97-98.
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