75. Klopstocks Weinlaube

[140] Im Junius 1782.


Überhangend und frisch, wie an den Wellen des

Herzerfreuenden Rheins, schwellen die Reben hier

Die der göttliche Sänger

In sein Zimmer geleitet hat;


Streben freudig empor an das erwärmende

Fenster, kleiden die Wand und das Gesimse des

Gipses, senken gewölbt sich

Um die Scheitel des Weisen her;
[140]

Wehren jeglichem Strahl, welchen die höhere

Sonne sendet, nicht dem, welchen errötende

Morgenschimmer verkünden,

Und dem freundlichen Monde nicht.


Ihre Schatten sind mir wert wie die Schatten der

Eiche, kühl wie das Thal, kühl wie die Felsenkluft,

Wenn der Finger Aurorens

Sie mit bebenden Tropfen schmückt.


Ihre Trauben sind noch grün wie die Ranke, leicht

Wie das glänzende Blatt; dennoch umschwebet sie

Schon die Freude, und edel

Ist wie die Freude des Bechers sie.


Ich empfand es: denn hell strahlte der Mond, und hell

Durch das hangende Laub Jupiters Auge mir;

Heller strahlte die Weisheit

Von den Lippen des Weisen mir:


Der, wenn heißere Glut ihm in dem Busen glüht,

Wie die Sonne so hell, wärmend wie sie, und hoch,

Mehr als Nektar der Götter

In die Seele des Hörers geußt.


Schone, schone! denn noch glühet die Seele mir

Vom erhabnen Gesang, den du mir gestern sangst!

Träufle kühlere Weisheit

In dem Schimmer des Mondes mir!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50,2, Stuttgart [o.J.], S. 140-141.
Lizenz:
Kategorien: