Ode. Auf seine Freundin

[12] Komm aus den Armen der Nacht, o Traumgott, vom scherzenden Schwarme

Holder Gesichte umringt,

Komm, die schlummernde Seele, zu deiner Begeistrung geöffnet,

Liegt und erwartet dich hier.

Trüge dies liebende Herz, zeig ihm die himmlische Freundin,

Zeig ihm das zärtlichste Kind,

Mit den Geistvollen Augen, voll sanfter liebender Blicke,

Mit dem lächelnden Mund;

So wie Sie war, so schön, so voll unbesiegbarer Anmut,

Und Unsterblicher Pracht,[12]

Wie die Göttliche war, wenn unter zephyrischen Schatten

Uns der Abend umfing;

Wenn die Natur in Schlummer schon sank, und die einsame Dämmrung

Uns zu Betrachtungen lud;

Wenn wir, voll neuer Gedanken, uns in die Zukunft entfernten,

Und die Lieb um uns her

Paradiese von Freuden erschuf, und in reizender Aussicht

Unser Blick sich verlor.

Ihres Glückes versichert und deiner Liebe, o Schöpfer!

Flossen die Seelen zu dir,

Aufgelöst in Wünsche, sanft wie den Augen der Doris

Zitternde Tränen, vermischt

Mit den meinen, entflossen, die Kinder der edelsten Freuden,

Traumgott, so zeige Sie mir!

Doris, so komm mit umfassenden Armen, mit küssenden Lippen,

Mit entzückendem Blick.

Aber wenn ich Sie seh, wenn Sie mich liebreich umhalset,

Traumgott, denn eil auch zu ihr,

Dort wo in den Armen der Tugend, die himmlische schlummert,

Oft vom Seraph geküßt,

Gleich dem Frühling, wenn er in Abendwolken gehüllet

Auf der dämmernden Flur

Schlummert; denn eile zu ihr und zeig ihr in gleichen Gesichten

Ihren liebenden Freund,

Mit den Mienen voll Ruh, voll hoher wallender Wonne

Die ihr Anblick erschafft;

Mit dem Auge das dankend hinauf zum Ewigen siehet

Und denn wieder auf Sie,

Mit der zärtlichsten Seele, die ihrer Begeistrung zu enge,

Voll wehmütiger Lust

Kaum noch sich fühlt und in deinen Küssen, o Doris, gesättigt,

Sich und die Schöpfung vergißt.


Quelle:
Christoph Martin Wieland: Werke. Band 4, München 1964 ff., S. 12-13.
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