Schiffsgeschütz

[548] Schiffsgeschütz. Die Entwicklung der Schiffsartillerie in den letzten Jahren wird gekennzeichnet durch das Bestreben, die Gefechtsentfernung weiter zu vergrößern und die ballistischen Leitungen sowie die Durchschlagskraft am Ziel zu steigern. Die Hinausschiebung der Gefechtsentfernungen auf die äußersten Grenzen[548] der Leistungsfähigkeit menschlicher Sinne geht aus dem Bestreben hervor, früher als der Gegner die ersten Treffer zu erzielen und die Feuerüberlegenheit über ihn zu erringen.

Die Gefechtsentfernung, welche bisher von der Torpedoschußweite abhängig gemacht wurde, jetzt 10000 m, hat diese Strecke in der neuesten Zeit um das Doppelte überschritten. Diese gewaltigen Gefechtsentfernungen können jedoch nur durch die Sehweite bis zum Horizont von einem etwa 30 m hohen Gefechtsbeobachtungsstand durchgeführt werden unter Zuhilfenahme von optischen Entfernungs-Meß- und Beobachtungsgeräten; sie sind zum erstenmal in der Skagerrak-Schlacht zur Geltung gekommen. Ein Niederkämpfen des Feindes auf größte Entfernungen ist aber nur durchführbar durch Zerstörung seiner Panzerung oder durch Einschränkung seiner Schwimmfähigkeit und Bewegungsfreiheit und damit durch Unwirkfammachung seiner artilleristischen Kampfkraft. Es kommt daher weniger auf die Mündungsenergie als auf die Energie am Ziel an. Da nun der Luftwiderstand bei Steigerung der Anfangsgeschwindigkeit des Geschosses mit dem Quadrat der Geschwindigkeit wächst, muß die Querschnittsbelastung erhöht werden, was durch eine Vermehrung des Geschoßgewichts oder eine Verringerung des Kalibers erzielt werden kann. Eine Erhöhung des Geschoßgewichts ist bei konstantem Kaliber nur durch eine Verlängerung des Geschosses möglich, und bringt diese die Gefahr des Ueberschlagens bei nicht genügender Drehgeschwindigkeit mit sich. Da nun ferner die Anfangsgeschwindigkeit von der Ladung und deren Ausnutzung im Rohr abhängt, wodurch man allmählich bis zu Rohrlängen von 50 Kaliber gelangte und eine weitere Steigerung der Rohrlänge die großen Nachteile starker Biegungsbeanspruchungen und Schwingungserscheinungen und infolgedessen Fehler im Abgangswinkel beim Schuß mit sich bringt, so ist eine Vermehrung der Durchschlagskraft am Ziel allein durch eine Kalibersteigerung zu erreichen. Das stärkere Kaliber besitzt hiernach dem schwächsten gegenüber eine ballistische Ueberlegenheit sowie eine erwünschte Kraftreserve auf weite Entfernungen. Diese Grundsätze veranlaßten die meisten Marinen, zu schwereren Kalibern überzugehen. Das 38,1-cm-Rohr bildet zurzeit die oberste Grenze, es zeichnet sich durch eine rasante Flugbahn, durch größere bestrichene Räume und durch eine große Sprengladung des Geschosses aus. Der Einfluß der Kaliberverstärkung und der Rohrverlängerung auf die Mündungsgeschwindigkeit und die Durchschlagskraft geht aus nachstehender Zusammenstellung hervor:


Schiffsgeschütz

Naturgemäß bringt die Kaliberverstärkung auch erhebliche Nachteile mit sich. Zunächst eine bedeutende Gewichtsvermehrung von Rohr und Geschoß sowie Ladung, wodurch wiederum eine gleichzeitige Deplacementssteigerung notwendig wird, falls nicht bei anderen Gefechtswerten Ersparnisse gemacht werden können. Die großen Rohr- und Geschoßgewichte bedingen ferner größere Bremskräfte zur Einschränkung des Rücklaufs und größere Rückstoßkräfte sowie eine Erschwerung der Seiten- und Höhenrichtung und vor allem eine Erschwerung der Munitionsförderung, so daß die Ladegeschwindigkeit sowie die Feuergeschwindigkeit durch die Kalibersteigerung leiden muß. Schließlich erfordert die größere Schußweite bei der erwünschten Einschränkung der Mündungsgeschwindigkeit eine größere Erhöhung der schweren Rohre, wodurch die Schießschartenausschnitte in den Panzertürmen länger werden und die Rohre demnach weniger geschützt sind. Trotz dieser Nachteile hat sich die ständige Steigerung der Kaliber nicht aufhalten lassen, und hat man gleichzeitig die Gesamtwirkung der schweren Artillerie durch eine möglichst günstige Geschützaufstellung angestrebt (vgl. Geschützarmierung, Ergbd. I, S. 314, Kriegsschiffstypen, Lafette).

Die Steigerung der Artilleriewirkung auf dem Wege der Kalibersteigerung hat bei einzelnen Marinen noch einen anderen wichtigen Beweggrund gehabt. Bekanntlich ist England zuerst mit der Steigerung der Kaliber vorgegangen, und man ist der Ansicht, daß dieser Schritt in erster Linie durch die geringe Lebensdauer der Drahtröhre veranlaßt wurde, denn bei den größeren Kalibern konnte man bei der Erhaltung der Durchschlagskraft mit der Anfangsgeschwindigkeit heruntergehen und damit die Ueberanstrengung und Abnutzung der Drahtröhre vermindern. – Die Schiffsgeschütze mittleren und leichteren Kalibers haben keine wesentlichen Fortschritte erfahren. Für die Mittelartillerie bevorzugt man allgemein das 15-cm-Rohr, da dieses den Anforderungen an Schußweite, Treffsicherheit und Feuergeschwindigkeit bei Abwehr von Torpedoangriffen am besten gewachsen ist. Die leichten Geschütze kommen nur noch als Ballongeschütze zur Aufstellung und haben dieselben hierfür namentlich bezüglich der Fernrohrvisiereinrichtung eine besondere Ausgestaltung erfahren.


Literatur: [1] Nauticus, Der Uebergang zum 38-cm-Geschützkaliber, Berlin 1914. – [2] H. Navath, Die Wirkung der schweren Geschütze der Schiffsartillerie, Zeitschr. d. Ver. deutsch. Ing. 1917, S. 161. – [3] B. Weyer, Taschenbuch der Kriegsflotten, Berlin 1916. – [4] Brassey The Naval Annual, Porthsmouth 1914.

T. Schwarz.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 1 Stuttgart, Leipzig 1920., S. 548-550.
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