Quantität

[583] Quantität. – Parallel mit lat. qualitas hat man lat. quantitas (als Lehnübersetzung von posotês) gebildet; die Qualität war erst die dritte, die Quantität war gleich die zweite von den Kategorien des Aristoteles. Die Frage richtete sich diesmal (posos) nur auf eine einzige unter allen, möglichen Qualitäten: auf die Zahl oder auf die durch eine Zahl zu messende Größe; ich brauche nicht erst zu erklären, warum ich die Quantität unter die Qualitäten rechne; ich weiß freilich, daß eine Kategorie eigentlich nicht Oberbegriff einer andern Kategorie werden darf.

Im weitern Sinne des Wortes Kategorie bildet freilich die Quantität oder die Zahl eine Klasse für sich und fällt dazu, wie ich öfter dargelegt habe, aus der Sprache heraus, weil Zahlen keine Begriffe sind. Man beachte hierbei, daß in Kants Kategorientafel die drei Formen der Quantität (Einheit, Vielheit und Allheit) seltsame Gruppen bilden; die Gruppe der Vielheit umfaßt die unendliche Reihe von Zahlen, die Einheit und die Allheit beziehen sich nur auf einen einzigen Begriff, man könnte sagen: auf einen Grenzbegriff, und überdies läßt sich die Allheit wieder als eine Einheit auffassen, als ein Universum.

Für die Physik ist die Schullogik, die durch mehr als zwei Jahrtausende in Quantität und Qualität zwei getrennte Kategorien sah, die Qualität nicht als den Oberbegriff der Quantität erkannte, – für die Physik ist Aristoteles auch in dieser Beziehung verhängnisvoll geworden. Die Peripatetiker sträubten sich auch nach Galilei noch dagegen, daß man die Qualitäten der Körper auf Quantitäten zurückführte; diese Zurückführung ist aber in den letzten Jahrhunderten der Wissenschaft gelungen, die jetzt die Qualitäten der Töne und Farben, ja sogar die Intensitäten der Wärme und der Elektrizität durch Quantitäten von Schwingungen ausdrückt. Ich brauche nicht zu wiederholen (vgl. Art. Mathematische Naturerklärung), daß die Quantifikation der Erscheinungen des Lebens und des Geistes nicht gelungen[583] ist und nicht gelingen kann; sogar die Qualitäten der Töne und Farben, die als Wirkungen genau berechneter Schwingungszahlen erkannt worden sind, haben psychisch gar kein Verhältnis zu diesen Zahlen; ferner: wenn eine Hautstelle stärker und stärker gekratzt wird, so kann die Empfindung von Behagen bis zu unerträglichem Schmerze sich wandeln; aber wieder haben die Qualitäten Lust und Schmerz keine Beziehung zu der Größe der Intensität. Wo nicht gemessen oder gezählt werden kann, da hat die Anwendung der Mathematik ein Ende; daran ist nichts geändert worden durch die Großtaten des mathematischen Geistes, der den Quantitätsbegriff der Griechen durch Erfindung des Dezimalsystems, der Analyse und der Infinitesimalrechnung unendlich verfeinert hat. Bildlich ist die Anwendung der Quantität auf psychische Intensitäten, noch viel bildlicher das Übertragen der Quantität auf moralische Begriffe. Ganz anders steht es um die Quantität in der Logik.

Die Quantität war seit Aristoteles einer der beiden Haupteinteilungsgründe für die Arten der Urteile und Schlüsse; »Caius ist ein Mensch«, »Einige Menschen sind reich«, »Alle Menschen sind sterblich« – nach diesem Schema wurde der Syllogismus eingeteilt; und kaum beachtet, daß auch der andere Einteilungsgrund (bejahende und verneinende Urteile) sich mit einiger Rechthaberei unter den Begriff der Quantität hätte bringen lassen. Jedenfalls dachte man seit Aristoteles bei allen diesen Schulfuchsereien nur an die Einheit, Vielheit oder Allheit des Subjekts; niemand beachtete es, daß in dem Urteile »Caius ist ein Mensch« auch das Prädikat nur als Einheit zu verstehen war. Ich will nur von fern daran erinnern, daß der Scharfsinn der Scholastiker diese Lücke der Schullogik sogar sehr fein interpretierte; sie faßten das Subjekt des Satzes (subjectum noch im mittelalterlichen Sinne, d.h. das Objekt der Aussage) allein als Ding, das Prädikat allein als Begriff; und so kam Abaelard zu der geistreichen Regel: res de re praedicari non potest, die wirklich auf die eigentlichen Subsumtionsurteile gut zu passen scheint.

Die Lücke der Schullogik auszufüllen, die Quantität des Prädikats bei der Einteilung der Urteile zu beachten, daran[584] mahnte schon im 15. Jahrhundert der tapfere Laurentius Valla; andere Vorläufer der neuen Lehre bis zum 18. Jahrhundert tragen nicht so bekannte Namen. In scharfem Protest gegen die alte Logik wurde aber die Quantifikation des Prädikats erst im 19. Jahrhundert gefordert und zu einer neuen Grundlage der Logik gemacht durch Bentham (einen Neffen des berühmten Bentham) und durch Hamilton. Es scheint ausgemacht (ich folge einer Dissertation von Ljubomir Nedich), daß Bentham auf die Priorität Anspruch machen kann (1827), daß dagegen Hamilton (1846) in seiner neuen Analytik die Bedeutung der Forderung zuerst erkannt hat.

Ich übergehe gerade das Beste, das Hamiltons neue Analytik veranlaßt hat: ihre Kritik durch J. St. Mill; diese Kritik ist heute noch lesenswert. Ich erwähne nur den Umstand, der für die Entwicklung der Logik eine Weile von großer Bedeutung zu sein schien. Hamilton hatte zu einer Zeit, da der Glaube an die formale Logik ins Wanken geraten war, gerade durch die Quantifikation des Prädikats und durch die aus einer solchen Technik entsprungene Neuordnung der Urteile und der Syllogismen die formale Logik auf festerem Grunde als bisher neu errichten wollen; das Urteil sollte nach dieser Lehre nur das Quantitätsverhältnis zweier Begriffe darstellen; die Symbolisierung des Urteils konnte nun die mathematische Form einer Gleichung annehmen, und die sehr komplizierte Lehre von der Konversion der Urteile konnte auf eine einzige Formel zurückgeführt werden. Von diesen formellen Vorteilen der neuen Logik leuchtete einigen mathematisch geschulten Philosophen die mathematische Symbolisierung der logischen Operationen und die Quantifikation aller Begriffe besonders gut ein, und Boole und seine Nachfolger bauten auf der Quantifikation des Prädikats (die Einwendungen gegen diesen historischen Zusammenhang sind unberechtigt) ihre Algebra der Logik auf. Ich habe schon gesagt (vgl. Art. Algebra der Logik), warum ich diese neue Logik für ebenso unfruchtbar halte wie die alte. Weder die alte noch die neue Logik ist eine Kunst, die das Denken lehren oder bequemer machen könnte; formale Logik ist immer nur eine nachträgliche, schablonenhafte Mechanik,[585] die das wirkliche Denken rubriziert und klassifiziert. Eine Einsicht in die lebendige Wirklichkeit des Denkens könnte nur die Psychologie gewähren, die Denklehre oder meinetwegen Logik als ein Teil der Psychologie. Aber weil Psychologie nicht Physik ist, weil die Vorgänge bei den Denkoperationen sich nicht zählen und nicht messen lassen, weil die Quantifikation des Subjekts und des Prädikats nur in seltenen Fällen ein wirkliches Zählen ist, darum wird auch die Psychologie niemals zu einer mathematischen Physik, niemals zu einer Algebra des Denkens gelangen.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 2, S. 583-586.
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