Dualität

[237] Dualität, ein allgemeines Verfahren der Geometrie, um aus gewissen Sätzen neue Sätze abzuleiten. Die Punkte einer Ebene stehen zu den Geraden der Ebene in der Beziehung, daß je zwei Punkte eine Gerade (ihre Verbindungslinie), je zwei Gerade einen Punkt (ihren Schnittpunkt) bestimmen. Diese beiden Konstruktionen: zwei Punkte durch eine Gerade zu verbinden und den Schnittpunkt zweier Geraden zu bestimmen, nennt man zueinander dualistisch. Hat man eine Figur F, die aus m Punkten P1 ... Pm und aus den Verbindungsgeraden je zweier dieser Punkte besteht, so kann es bei besonderer Lage der Punkte vorkommen, daß die Zahl dieser Verbindungslinien, die im allgemeinen 1/2 m (m-1) beträgt, kleiner ausfällt, weil einzelne der Verbindungslinien mehr als zwei von den m Punkten enthalten und daher mit gewissen andern zusammenfallen. Zu jeder solchen Figur F gehört nun eine andre zu ihr dualistische Figur F´, die aus m Geraden g1 ... gm und aus deren Schnittpunkten besteht, und in der den Punkten P1 ... Pm die Geraden g1 ... gm der Reihe nach derart entsprechen, daß immer wenn drei Punkte P in einer geraden Linie liegen, die drei entsprechenden Geraden g durch einen Punkt gehen. Gewisse Figuren sind zu sich selbst dualistisch, wie z. B. die Figur, die aus einem Punkt und einer hindurchgehenden Geraden besteht, oder wie das Dreieck als Inbegriff seiner drei Ecken und seiner drei Seiten. Dagegen entspricht z. B. der Figur, die aus vier beliebigen Geraden und deren sechs Schnittpunkten besteht (dem sogen. vollständigen Vierseit), die aus vier Punkten und deren sechs Verbindungslinien bestehende Figur (das vollständige Viereck). Hat man nun einen Satz über die Figur F, der aussagt, daß drei aus F durch die vorhin erwähnten Konstruktionen abgeleitete gerade Linien durch einen Punkt gehen, oder daß drei aus F abgeleitete Punkte in gerader Linie liegen, so gilt immer auch der dazu dualistische Satz, der aus dem ersten hervorgeht, wenn man überall für Punkt sagt: Gerade und für Gerade: Punkt, und wenn man immer die Verbindungslinie zweier Punkte ersetzt durch den Schnittpunkt zweier Geraden und umgekehrt. Daß es sich so verhält, und daß in diesem »Prinzip der D.« ein äußerst fruchtbares Hilfsmittel geometrischer Forschung liegt, hat zuerst Poncelet ausgesprochen und bewiesen. Er stützte sich dabei auf den Satz, daß durch einen Kegelschnitt (s. d.) jedem Punkt eine Gerade, seine Polare in Bezug auf den Kegelschnitt, und jeder Geraden ein Punkt, ihr Pol, zugeordnet ist, und daß die Polaren aller Punkte einer Geraden stets durch den Pol der Geraden gehen, während die Pole aller durch einen Punkt gehenden Geraden stets auf den Polaren dieser Punkte liegen. Eine zu der gegebenen Figur F dualistische Figur erhält man daher, wenn man in Bezug auf einen festen Kegelschnitt zu jedem Punkte von F dessen Polare und zu jeder Geraden von F deren Pol sucht. Wie in der Ebene die Punkte den Geraden dualistisch gegenüberstehen, so kann man im Raum eine D. zwischen den Punkten und den Ebenen betrachten; die gerade Linie ist dann zu sich selbst dualistisch, da sie sowohl als Verbindungslinie zweier Punkte wie als Schnittlinie zweier Ebenen bestimmt werden kann.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 5. Leipzig 1906, S. 237.
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