VI.

Königsberg.

[263] Berliner Hoffnungen und Enttäuschungen. – Königsberg. – Brief an Dorn. – Entwurf der ›hohen Braut‹ für Paris an Scribe gesandt. – Verheiratung mit Minna Planer. – Rule Britannia-Ouvertüre. – Konzerte im Schauspielsaal. – Skizze zu einer Schauspielmusik. – Beziehungen zu A. Lewald. – Dresden: Bulwers Rienzi.


Die modernen Vergeltung des modernen Leichtsinnes brach über mich herein. Ich war verliebt, heiratete in heftigem Eigensinne, quälte mich und andere unter dem widrigen Eindrucke einer besitzlosen Häuslichkeit, und geriet so in das Elend, dessen Natur es ist, Tausende und aber Tausende zugrunde zu richten.

Richard Wagner.


Ohne die mindeste Sicherheit oder Aussicht war Wagner um die Mitte Mai 1830 nach Berlin gegangen. Der einzige näher Befreundete, den er dort antraf, war Heinrich Laube, welcher daselbst seinem Prozeß wegen allzu freisinniger schriftstellerischer Tätigkeit und seiner Verhaftung entgegensah. Er wollte hier ›sein Schicksal erwarten‹, wenn ihm auch seine Leipziger Freunde schon vorausgesagt hatten, dieses Schicksal würde – ›Hausvogtei‹ heißen Einstweilen lebte er in Berlin als ein freier Mann und hatte sich im ›Hotel de Russie‹ ein schönes Zimmer vorn hinaus genommen, um – wie er sagte – der Polizei, welche er als Besuch zu erwarten hatte, ›in graziöser Attitüde zu erscheinen‹ und die ihm noch zugedachten paar Tage angenehm zu wohnen. Um sein wahrscheinliches nächstes Logis, das Gefängnis, zu betrachten, wandelte er auf seinen Spaziergängen zwischen der Königs- und Friedrichsstadt hin und her: dort die Stadtvogtei, hier die Hausvogtei; er wußte selber noch nicht darüber Bescheid, in welche Kategorie die ihm zugeschriebenen Übeltaten gezählt werden würden. Sein Hausgenosse im Hotel de Russie war der Publizist Adolf Glasbrenner, der Verfasser der ›politisierenden Eckensteher‹, ein blonder junger Mann, der erst kürzlich dem Kaufmannstande entsagt und in den Dienst der Belletristik getreten war: seine launigen Einfälle und seine muntere kecke Schreibart verschafften ihm ein großes Publikum, und sein ›Eckensteher [263] Nante‹ war, nach Laubes Bericht1 der ›Anfang einer demokratischen Schriftwelt, welche Glasbrenner damals im Hôtel de Russie erfand.‹ Er war enragiert liberal: ›alles im Himmel und auf der Erde ward von ihm mit dem Maßstab des Liberalismus gemessen, und der liebe Herrgott konnte sich in acht nehmen vor diesem Maßstabe, wenn schlechtes Wetter eintrat, oder die Gerechtigkeit in einem Bagatellprozesse auf sich warten ließ.‹ Er machte Laube auf die liebenswürdigste Weise die Honneurs von Berlin: warum schlecht leben? rief er, wenn einen in jedem Augenblick der Kuckuck holen und dem freien Leben ein Ende machen kann? ›So oft die Tür aufging‹, fährt Laube fort ›meinte man, der Augenblick sei da. Deshalb waren wir so wenig als möglich zu Hause und fuhren besonders täglich in den Tiergarten, damit ich vorsorglich noch mit freier Luft versehen würde‹.2

Diesem Paare gesellte sich der junge Dichter des ›Liebesverbotes‹ als dritter zu. Von der Hofoper unter Spontinis Leitung hatte er nichts zu erwarten; dagegen wußte er an dem kleineren Königstädtischen Theater mehrere Mitglieder der zersprengten Magdeburger Gesellschaft tätig. Seine Isabella und Marianne, Madame Pollert und Dem. Limbach, dem Magdeburger Schiffbruch entronnen, waren hier mit offenen Armen, zunächst als Gäste, empfangen; auch begegnete er hier seiner Leipziger Bekannten, der begabten jungen Sängerin Livia Gerhardt. Mit dem Direktor dieses Theaters setzte er sich in Verbindung und bot ihm sein ›Liebesverbot‹ zur Aufführung an. Es war der in der Berliner Theatergeschichte wohlbekannte ›Kommissionsrat‹ Cerf (zu deutsch Hirsch), ein geriebener Geschäftsmann, gegen seine Untergebenen von sklavenhändlerischer Rücksichtslosigkeit,3 aber vom Königlichen Hofe durch Titel und Privilegien begünstigt. Das Königstädter Theater erfreute sich unter seiner Verwaltung einer ungewöhnlichen Blüte, Herr Kommissionsrat Cerf kennt den Geschmack des Berliner Publikums genau, und weiß ihn trefflich zu bedienen. Seine Oper ist durch, mit großer Umsicht getroffene, neue Engagements trefflich restauriert, und der alte Glanz ruht wieder auf dieser Bühne, [264] deren Haushalt auf eine Weise geleitet wird, daß sie als ein Muster für alle deutschen Bühnenverwaltungen gelten kann.4 Die Aussicht, das ›Liebesverbot‹ hier angenommen und unter den günstigsten Bedingungen zur Aufführung gebracht zu sehen, konnte über manche vorübergehende Misère hinwegtäuschen. Der trügerische Glanz vergeblich erweckter Hoffnungen vergoldete dem jungen Meister seinen, in der Metropole der Intelligenz verbrachten, dreiundzwanzigsten Geburtstag. ›Ich bleibe ein paar Monate hier‹, schreibt er wenige Tage darauf (28. Mai) an Schumann, ›und werde, einer Übereinkunft mit Cerf gemäß, sobald Gläser (der damalige Musikdirektor des Königstädtischen Theaters) seinen Urlaub antritt, auf eine kurze Zeit dessen Stelle übernehmen. Während meiner Funktion will ich daselbst meine Oper aufführen.‹ Er entschuldigt sich in demselben Briefe, ohne Adieu von Leipzig weggegangen zu sein: ›ich war in einer trivialen Lage, und wollte Ihnen einen trivialen Abschied ersparen‹.

Allein noch einen andern Abschied hatte er bei seinem diesmal so kurzen Leipziger Aufenthalt nicht nehmen können: von seiner eigenen Mutter – noch dazu ohne eine Ahnung davon, daß sich die Trennung auf ganze sechs Jahre, voll der abenteuerlichsten und entscheidendsten Erlebnisse, erstrecken sollte! Er hatte ihr von Magdeburg aus geschrieben, aber sein Brief sie nicht erreicht, da sie um eben diese Zeit (zu welchem Zweck, ist uns unbekannt geblieben) eine Reise nach – Berlin angetreten hatte. Daß er selbst ebendahin zu gehen beabsichtigte, war ihr entgangen, da seine Nachricht darüber sie verfehlt hatte; daß hingegen sie – um die Zeit seines Geburtstages! – so ganz in seiner Nähe gewesen war, erfuhr er erst am Abend nach ihrer Abreise, durch ein der Familie befreundetes Mitglied der Königstädtischen Oper, seinen ›Luzio‹ bei der demnächst erhofften Aufführung. ›Ich hatte von der Gerhardt schon gehört, Du seiest mit Mad. Berthold hier‹, – so schreibt er der Mutter; ›– ich glaubte es aber nicht ganz, und meinte, wenn Du wirklich da wärest, würdest Du es wohl bei Laube angezeigt haben, da Du meine Wohnung wohl nicht wissen konntest. Ich ging zu Laube, – er wußte aber von nichts, bezweifelte es ebenfalls, – und – so falle ich eben ganz aus den Wolken, als ich es endlich, und zu spät, von Eichberger5 erfahre.‹

Der Brief an die Mutter ist vom 31. Mai, also nur wenige Tage nach dem an Schumann gerichteten geschrieben; er enthält daher im wesentlichen die gleichen Nachrichten, aber in der grellen Beleuchtung eines ausgelassenen Capriccio. Stammt er doch noch aus der ersten Zeit jener ihm durch Cerf erweckten trügerischen Hoffnung; und der Widerstreit zwischen der augenblicklichen [265] Not und dem Bestreben, der geliebten Mutter nur Gutes über sich zu berichten, ist vom Beginn bis zum Schluß darin spürbar. Seine Nachrichten sind mit so stark übertriebener Ironie versetzt und durchtränkt, daß man kaum weiß, wo der hoffnungsvolle Ernst aufhört und der resignierte Sarkasmus anfängt. Beide treiben darin ihr tolles Spiel und überschlagen sich wechselseitig. Auch der Verkehr mit Laube – und Glasbrenner – klingt darin an. Er beklagt das Unglück ihres doppelten Verfehlens dort und hier: ›nun, Unglück und Mißgeschick ist ja jetzt immer mein Teil gewesen; mir schaudert noch die Haut, wenn ich an Alles denke. Meine Berliner Expedition hat endlich meinen Unstern ein wenig gewendet. Ich und Cerf, wir sind die innigsten Freunde von der Welt, und umarmen uns so oft wir uns sehen.6 Ich gefiel dem Kerle, und er bedauerte sogleich, daß er mit dem Musikdirektor Kugler wieder Kontrakt auf ein Jahr abgeschlossen habe. Für jetzt nur so viel: – der Kapellmeister Gläser hat im Sommer einen großen Urlaub, und während dessen Abwesenheit nun trete ich einstweilen in seine Stelle und seinen Gehalt. Während ich so eine Weile das Heft in den Händen habe, studiere ich meine Oper hier ein, führe sie auf, und wenn Gläser zurückkommt, lege ich meine Stelle wieder nieder. Ich muß dann zwar fürs nächste wieder ein neues Engagement annehmen, habe dann aber auch hoffentlich meinen Kontrakt mit Cerf vom künftigen Jahre an als alternierender Kapellmeister in den Händen, und im schlimmsten Falle mache ich mir hier doch Renommee, und kann dann eher mich einmal wieder zurückziehen. Laube und die ihm dienenden Schriftsteller, wie z. B. Glasbrenner, machen ein furchtbares Halloh von mir, als von dem ersten Genie der Welt; – die Anzeige von allem, was ich Dir hier gemeldet, kannst Du auch ebenso gut schon gedruckt im Konversationsblatte lesen: – es geht gar nicht anders, ich muß hier mein Glück machen, und so etwas fehlte mir auch. Nach Leipzig durfte ich nicht kommen, da ist keine gute Luft für mich!... Verzeih, ich muß zu meinem guten Freund Spontini, der Mann läuft mir sonst das Haus ein; er ist außer sich, daß er meine Oper nicht geben kann! – warum kommt er zu spät, ich kann ihm nicht helfen. Der König, mein guter Freund, hat mir Spontinis Stelle angetragen, was soll ich aber damit? Soeben wollen mir sechs Schriftsteller ihre Aufwartung machen, – man reißt sich um mich, – ich halte das nicht lange mehr aus, – besonders da ich keinen Groschen Geld in der Tasche habe. – Mein guter Freund, – Theodor Apel, hat mir auch nach Magdeburg einen sehr hübschen unfrankierten Brief geschrieben, worin er mir schrieb, daß in Ermlitz gebaut würde und daher kein rechter Platz für mich da wäre; [266] – ich behaupte, das war wieder ein neuer Witz aus seinem neuesten Lustspiele.... Nun, Du siehst, wie herrlich es Deinem Sohn geht. – Cerf weiß u. a. vor Liebe zu mir gar nicht wohin, er wird sicher seine Nachkommenschaft aus dem Testament streichen, und mich dafür einsetzen, – er weint oft still an meinem Busen die Schmerzen seiner Direktorei aus. Er ist ein ebenso niederträchtiger Kerl, als für den von Nutzen, der ihn zu behandeln weiß. Meine ganze Politik ist jetzt die, Gläser so bald als möglich ins Bad zu schicken; – er muß sich einmal recht tüchtig erkälten – denn unmäßig ist er, glaube ich, nicht. Gott gebe mir seinen Beistand‹.7

Also warten, und wiederum warten, das war alles, worin vorläufig das schwer erkaufte Glück bestand. Warten und den Herrn Kommissionsrat in guter Stimmung erhalten, – wiewohl ›ohne einen Groschen Geld in der Tasche‹. Und bis auf den Umgang mit Laube und gelegentliche Teilnahme an dessen täglichen Ausflügen in den Tiergarten gab es für ihn hier wenig zu gewinnen. Berlin war damals eine recht stille Stadt; in einem großen Teile seiner Friedrichsstadt wuchs Gras hervor zwischen den kleinen Pflastersteinen. ›Es ist ganz erstaunlich‹, bemerkt Laube in seiner nachträglichen Schilderung der herrschenden Zustände ›wie in einer büreaukratischen Monarchie der Charakter und das Wesen des Monarchen für das ganze Wesen des Staates maßgebend wird. Der bejahrte König war mißtrauisch gegen jegliche Bewegung, gegen alles Neue, und mit verdrießlichen, kurz abgestoßenen Worten – das verbindende Zeitwort ward ausgelassen8 – äußerte er sich über sogenannte »Projekte«. Dies war das Tadelswort für jede neue Unternehmung. Die Hauptsorge des Menschen und Staatsbürgers war die Polizei; wenn man auf der Straße rauchte, verfiel man in eine Strafe von zwei Talern. Verboten! Dies war das Wort des Tages. Der Mangel an Inhalt, im öffentlichen Leben, das überall fühlbare Polizeiregiment und die damals in Mode stehende Hegelsche Philosophie, welche ein künstliches Spiel mit Gedanken, wenigstens mit Ausdrücken dafür, in Gang gebracht, waren die Mutter jener spöttischen Denk-und Redeweise des Ironisierens, welche jegliche Heiterkeit des gebildeten Berliners in die gelbe Livree eines logischen Neides kleideten‹.9 Der Aufenthalt in der preußischen Hauptstadt mit ihrem ›philosophi schen Pietismus‹10 ihren schriftstellernden geheimen Legationsräten à la Varnhagen und seicht geschwätzigen Kunstrichtern à la Rellstab bot wenig Sympathisches. ›Sie glauben nicht, was der Mensch hier für Schaden anrichtet‹, bemerkt er [267] gegen Schumann über diesen letzteren Stimmführer der Berliner Kritik. Zugleich mit seinem (bereits erwähnten) Briefe übersandte er ihm eine Berliner Korrespondenz: ›es ist nichts Ausgeführtes und hat keinen rechten Anfang und Ende, – wir können aber jetzt noch nichts anders, als Aphorismen schreiben Banck wird dieser Aufsatz wahrscheinlich gerade recht sein, – Rellstab wird etwas darin behandelt, – es ist nötig, daß man ihm etwas zu Leibe geht. Mein Name muß jedenfalls verschwiegen bleiben, als »William Drach« will ich fortfahren, manchmal etwas zu schreiben. Es ist eigentlich ein Jammer, daß ein Komponist sich gedrungen fühlt, auch zu schriftstellern, – bei uns Deutschen geht es aber nicht anders, wir sind sämtlich auf das spekulative Terrain hingewiesen; – unser Vorteil ist es aber ganz gewiß nicht.11 Ich bin zunächst eine Zeit lang ohne Beschäftigung; könnten Sie mir eine passende nachweisen, so würden Sie mich und meinen Geldbeutel sehr verbinden.‹ Wirklich machte sich der Mangel an Subsistenzmitteln für ihn immer drückender fühlbar. Als Entschädigung für eine peinvolle Wartezeit mußte er die Anhörung einer Aufführung des ›Ferdinand Cortez‹ unter Spontinis eigener Leitung annehmen. Besonders imprimierte sich ihm davon die merkwürdige, fast militärische Präzision der szenischen Massenevolutionen: der Taktierstab des schwer zu befriedigenden Maestro war hier zum unfehlbar regierenden Herrscherstab und Szepter geworden. Doch blieb ihm diese Vorstellung auch sonst noch in späterer Zeit unter den besonders lebhaften Eindrücken gegenwärtig, die ›bei Aufführung edlerer Werke ihm die ganz unvergleichliche Wirkung dramatischer Musikkombinationen, eben im Momente der Darstellung, wie zum innerlichsten Bewußtsein brachten‹. Bei vollkommener Mittellosigkeit zählte er die Tage bis zum Eintritt in die ihm in Aussicht gestellte Tätigkeit. Nach zweimonatlichem vergeblichen Harren mußte er die bittere Erfahrung machen, daß von den ihm mit solcher Sicherheit gemachte Zusage und Versprechungen keine – redlich gemeint war! In der schlimmsten Lage brach er den Berliner Aufenthalt ab Eine unerbittliche Bestimmung sollte seinen feurigen Lebens- und Liebestrieb tiefer und tiefer in Not und Bedrängnis eintauchen und ihn in so großer Jugend alles Elend durchkosten lassen, das sich andern im Lauf eines ganzen Daseins hemmend in den Weg stellt.

Nach Leipzig mochte er nicht zurückkehren, was sollte er dort auch? Er begab sich nach Königs berg i. Pr., wo sich ihm die Aussicht auf die dortige Musikdirektorstelle eben in dem Augenblick auftat, als er in Berlin die schmählichsten Enttäuschungen erfuhr. In Königsberg war seine Braut, [268] Minna Planer, als Schauspielerin engagiert; dies war der Magnet, der ihn in den äußersten Nordosten des deutschen Vaterlandes zog. In jenem Magdeburger Neujahrsfestspiel, worin ihm das Andante-Thema seiner Symphonie zum beziehungsvollen Ausdruck des scheidenden alten Jahres und zugleich des Abschiedes von den Idealen seines Jünglingsalters gedient hatte, war ihre reizvolle Erscheinung die Verkörperung des neuen Jahres auf der Bühne gewesen. Sie schien ihm vom Schicksal dazu bestimmt, auch in der Wirklichkeit des Lebens das ›neue Jahr‹ für sein ferneres Dasein werden zu sollen. Durch sie war er, da es damals noch keine geschäftig vermittelnden Theateragenten gab, von der soeben in Königsberg bevorstehenden Vakanz in Kenntnis gesetzt, – was konnte näher liegen, als daß er diesem Rufe folgte? Die veränderten künstlerischen Verhältnisse seiner Vaterstadt hatten ihn dieser und damit unwillkürlich dem Kreise der Seinen ferner gerückt. Auf eine teilnahmlose Fremde sah er sich doch angewiesen; er durfte somit von der ostpreußischen Residenz nicht bloß eine Anstellung, sondern auch die Befriedigung des drängenden Gemütsbedürfnisses nach einem vertrauteren Umgang erwarten.

Anfang August traf er in der Geburtsstadt E. T. A. Hoffmanns und Krönungsstadt der preußischen Monarchie ein. Leider erfuhr er alsbald, der Eintritt der angemeldeten Vakanz werde sich weiter hinaus verzögern, als anfänglich zu erwarten stand. Direktor des Königsberger Theaters war damals A. Hübsch, selbst ein tüchtiger junger Schauspieler; Musikdirektor – Louis Schuberth, früher in gleicher Funktion in Riga tätig, wohin er eigentlich um diese Zeit, im Herbst 1836, zurückkehren sollte. Darauf hatte Minna gerechnet, als sie den Verlobten von Berlin fort in ihre Nähe berief. Aber, wie Wagner darüber in einem Briefe vom 7. August an Dorn schreibt, ›dazu scheint er (Schuberth) nun nicht die mindeste Lust mehr zu haben, und – Gott weiß, was ihn fesselt – er will hier bleiben‹. Was den Mann in Königsberg ›fesselte‹, verrät uns Dorn in einer Anmerkung zu diesem Briefe: ein interessantes Verhältnis – des in Riga Verheirateten (!) – zu der ersten Sängerin des Königsberger Theaters, Henriette Grosser. Die unerwartete Veränderung seiner Dispositionen wirkte mit einem heftigen Ruck zerstörend auf die Projekte und Aussichten zurück, durch welche Wagner in den fern entlegensten Winkel Deutschlands gelockt war. Einmal der russischen Grenze recht nahe gerückt, kam ihm nun der Gedanke, ob nicht, da sein Kollege doch nicht gleich zeitig auf beide Stellungen Anspruch erheben konnte und offenbar auf Riga ganz zu verzichten schien, die Tätigkeit am dortigen Stadttheater für ihn selber sich eignen würde, um so mehr, wenn damit gleichzeitig ein Engagement seiner Braut verbunden wäre. Unter dieser Voraussetzung ward ihm der, aus der unerfreulichen Ode von ›preußisch Sibirien‹ noch weiter nach Nordosten gerichtete, Hinblick auf Riga vorübergehend zum Hoffnungs- und Lichtblick. In [269] der livländischen Hauptstadt wußte er seinen obengenannten, früheren Freund und Gönner, Heinrich Dorn, seit einer Reihe von Jahren ansässig. Dieser hatte sich seiner Zeit, nach erfolgter Auflösung des Leipziger Hoftheaters, über Hamburg nach Riga gewandt, und sandte nun, nachdem er daselbst die Oper quittiert, an der er ursprünglich tätig gewesen, als städtischer Kantor und Musikdirektor ab und zu sehr befriedigte Berichte über dortige Musikfeste12 an die Schumannsche Zeitschrift ein Wagner rief sich die bisherige wohlwollende Haltung Dorns ins Gedächtnis zurück und entschloß sich seine freundschaftliche Vermittelung in Anspruch zu nehmen, um zunächst über die dortigen Verhältnisse genauere Nachrichten einzuziehen ›Seit zwei Jahren‹, heißt es in dem Schreiben,13 ›habe ich – Schwärmer und ci-devant-Beethovenianer – die praktische Carrière ergriffen, und Sie würden über die radikale Umwandlung mei ner extremen musikalischen Ansichten tüchtig erstaunen. Jetzt hat mich nun Geschick und Liebe nach Königsberg geschleudert, wo ich gegründete Ansprüche auf ein Engagement zu haben glaubte, und mich bei einem vermutlichen Nichtreüssieren derselben nur darin getäuscht habe, daß ich sicher zu wissen glaubte, Herr Sch. würde im Herbst nach Riga zurückkehren‹. Er erkundigt sich demgemäß, ob in Riga noch in dieser Saison ein passables Theater, inkl. Oper, zustande kommen und ob es ehrenvoll und geraten sein könne, dort Platz zu nehmen. ›Meine Braut, Fräulein Planer, gegenwärtig hier als erste Liebhaberin angestellt, würde mir für diesen Fall dorthin folgen, da sie schon vor der Hand von dorther Anträge erhalten hat, auf die sie natürlich nicht eingehen würde, wenn ich nicht auch dort placiert werden sollte. Wie würde ich mich freuen, sie Ihnen und Ihrer werten Frau Gemahlin vorstellen zu können und uns als junges Paar Ihrer Freundschaft empfehlen zu dürfen.‹ ›Es gibt gewisse Beziehungen und Verhältnisse im Leben, die immer dieselben bleiben‹, heißt es gegen den Schluß dieses Briefes. ›So werde ich gewiß nie anders zu Ihnen zu stehen kommen, als ein Beschützter und Protegierter, zu Ihnen, dem Protektor und Gönner. Das leuchtet mir schon wieder aus dieser ersten Berührung ein, in die ich seit so langer Zeit wieder zu Ihnen trete.‹ Wirklich wäre dieses, von Wagner in verbindlicher Bescheidenheit so bezeichnete Verhältnis beider Männer bei dem Altersvorsprung, den Dorn vor ihm voraus hatte, für alle Zeiten ein schönes und würdiges gewesen Leider erwies die Folgezeit, daß wohl Wagner, nicht aber Dorn, zu dessen Aufrechterhaltung geneigt und fähig war!

Er hatte sich die Beantwortung seiner Anfrage postlagernd in das kleine [270] Memel am kurischen Haff erbeten. In diesem entlegenen ostpreußischen Städtchen hatte die Gesellschaft vor Eröffnung der eigentlichen Königsberger ›Saison‹ eine Reihe von Schauspiel- und Opernvorstellungen vor, und Wagner sich mit ihr in der zweiten Augustwoche dahin begeben. Dorns Nachricht aus Riga lautete wenig hoffnungerweckend. Die dortigen Theaterverhältnisse waren gerade damals ganz ungünstig; das Rigaer Theater stand im Begriff, seine Tätigkeit ganz einzustellen, bis etwa eine von der dortigen Kaufmannschaft aufzubringende größere Summe das Bestehen der Anstalt sichern würde. Somit blieb der junge Meister zunächst immer einzig noch auf die Königsberger Aussichten angewiesen. Es war eine traurige Zeit des Entbehrens und der Not; ohne den Lichtstrahl eines frohen Augenblickes, ohne irgend welches Ereignis, das momentan eine freudigere Stimmung hätte aufkommen lassen. So niederbeugend seine Lage durch den beständigen Druck von außen her war, konnte sie ihm doch von der Elastizität seiner Natur nichts rauben; ließ der beengende äußere Druck für den Augenblick nach, so schnellte sie wieder hoch empor. Nur sein künstlerischer Schaffensdrang litt empfindlich darunter; die ihm vergönnte Muße war nicht von der heiteren und befriedigenden Art, um sich mit gesammeltem Geist an ein größeres Werk zu machen. Dafür war sein rastloser Kopf von Projekten erfüllt und er ließ es nicht an Versuchen zu Anknüpfungen und Beziehungen in die Ferne fehlen Welcher zwingende Grund sollte denn ihn, der sich voll Kraft und Fähigkeit fühlte, in dem aussichtslos elenden Verkommen an kleinen deutschen Provinzialbühnen gefesselt erhalten? Je weniger er in seiner nächsten Umgebung einen Anhalt für die nur halbwegs befriedigende Gestaltung seiner Lebenslage antraf, desto heftiger drängte es ihn, sich eine Tür zum Eingang in eine größere Welt zu sprengen. ›Ein Drang entwickelte sich in mir bis zur zehrenden Sehnsucht: aus der Kleinheit und Erbärmlichkeit der mich beherrschenden Verhältnisse herauszukommen. Dieser Drang bezog sich nur in zweiter Linie auf das wirkliche Leben selbst; in erster Linie ging er auf eine glänzende Laufbahn als Künstler hinaus. Dem kleinen deutschen Theatertreiben mich zu entziehen, und geradeswegs in Paris mein Glück zu versuchen, das war es endlich, worauf ich meine Tätigkeit spannte.‹ Das glänzende Paris, der einzige wirkliche Produktor der herrschenden dramatischen Musik und Literatur, von dessen Brosamen er, mit ganz geringen Ausnahmen, die ganze öffentliche theatralische Kunstgenußsucht sich ernähren sah, das Vorbild der größten deutschen Theater, welches diese mit Kostenaufwand und peinlicher Genauigkeit auch in bezug auf Dekorationen, Maschinerien und Kostüme zu kopieren sich mühten, – auf dem Standpunkte seiner damaligen Entwickelung hatte es für ihn die größte Anziehungskraft. Inmitten aller demütigenden Einengung und Beschränkung tauchte der verlockende Gedanke in ihm auf, mit einem Schlage alles abzuwerfen, was ihn bedrückte, die beengenden Fesseln des deutschen Winkeltheatertreibens [271] zu zerreißen und sich der unmittelbaren Quelle kühnster künstlerischer Erfolge zu nähern.

Um diese Zeit fiel ihm, dem von jeher mit aller gleichzeitigen Literatur vertrauten, Heinrich Königs soeben erschienener Roman ›Die hohe Braut‹, in die Hände. ›Alles, was ich las, hatte nur nach seiner Fähigkeit, als Opernstoff verwendet werden zu können, Interesse für mich: in meiner damaligen Stimmung sprach mich jene Lektüre um so mehr an, als schnell das Bild einer großen fünfaktigen Oper für Paris aus ihr mir in die Augen sprang.‹ Er verfaßte sogleich davon einen in voller Breite ausgearbeiteten Entwurf, dem weiter nichts fehlte, als die Versifikation. Diesen Entwurf schickte er, in einer ›passablen französischen Übersetzung‹, direkt an Scribe, den weltbeherrschenden Textdichter der ›Hugenotten‹, die, in demselben Jahre – 1836 – zur ersten Pariser Aufführung gelangt,14 binnen kurzem in vierzig Vorstellungen dreimalhunderttausend Francs eingebracht hatten. In einem Begleitschreiben machte er Scribe den Vorschlag, er solle, wenn das Sujet ihm gefiele, sich die leichte Mühe geben, es zu versifizieren oder sonst zu tun, was ihm daran beliebe. ›Ich wollte die Oper dann komponieren und er sollte dafür sorgen, daß sie unter seiner Autorität und mit seinem Dichternamen in Paris zur Aufführung käme, für welchen Fall ich ihm dann natürlich alle aus dem genannten Unternehmen erwachsenden Vorteile, so weit er davon Gebrauch machen wollte, zu seiner Verfügung stellte; das Wenigste, was doch am Ende ein namenloser deutscher Komponist bieten konnte.‹15 Um sicher zu gehen, daß Entwurf und Brief richtig in die Hände des Adressaten gelangten, übersandte er beides an seinen Schwager Friedrich Brockhaus, der durch eine Kommandite seiner Buchhandlung mit der Seinestadt in ununterbrochenem geschäftlichem Verkehr stand, zur Weiterbeförderung nach Paris.

Die mißlichen äußeren Umstände, in denen er sich damals befand, konnten ihn nicht hindern, sich noch in demselben Herbst mit seiner Braut ehelich zu verbinden. Es war am 24. November 1836, als er, der damals dreiundzwanzigjährige junge Mann, mit der vier Jahre älteren Christine Wilhelmine Planer, dritten Tochter des in Dresden damals noch lebenden Mechanikus Gotthelf Planer, in der Tragheimer Kirche zu Königsberg getraut wurde. Um seine Verheiratung durchzusetzen, mußte er Himmel und Hölle in Bewegung bringen – flectere si nequo Superos, Acheronta movebo – sogar sein Geburtsjahr verleugnen und sich um ein Jahr älter machen, als er wirklich war, weil er mit dreiundzwanzig Jahren nach preußischen Gesetzen noch minorenn gewesen wäre. ›Sponsus hat in Dresden noch eine Mutter am Leben und versichert am 22. Mai 1812 (!) geboren zu sein.Sponsa hat die [272] Einwilligung ihrer Eltern de dato Dresden d. 27. Oktober c. erhalten, und ist ad acta genommen. Das Proklamationsattest aus Magdeburg vom 6. November c. ist beigebracht und ebenfalls beigelegt.‹ So heißt es wörtlich im Trauregister der Tragheimer Kirche; die Eintragung ist von der Hand des Predigers Joh. Friedr. Hapsel erfolgt, der jedenfalls auch den Trauungsakt vollzogen hat.16 Es ist so leicht, die verlockende Täuschung zu durchschauen, unter deren Einwirkung er damals handelte, als er die Schließung des Bundes nicht wenigstens auf eine günstigere Zeit hinausschob Mitten in der Königsberger Ode, und je mehr sich die Unbefriedigung seiner äußeren Lebensverhältnisse für ihn peinigend verschärfte, wollte er sich das ihm verwehrte häusliche Behagen, dessen er für sein Schaffen bedurfte, gleichsam erzwingen! Das Los war geworfen, welches sein ferneres Leben an eine Schicksalsgenossin band, mit der er innerlich so wenig als möglich gemein hatte. Kein Zweifel, daß er ihr wirkliche Liebe entgegenbrachte, die er ihr auch unter den schwierigsten Verhältnissen bewahrt hat; kein Zweifel, daß die beliebte, junge und schöne Schauspielerin es mit dem feurigen jungen Musikdirektor gut gemeint hat, als sie es auf sich nahm, ihm zu einer Zeit der äußersten Haltlosigkeit seiner bürgerlichen Existenz, zu dauerndem Bunde die Hand zu reichen Kein Zweifel endlich, daß sie viel von seiner Begabung, seiner Zukunft erwartete. Nur daß, inmitten der großen Verworrenheit seiner damaligen Lebensbedingungen, das Bild dieser Zukunft in ihr sich zu keiner höheren Vorstellung aufschwang, als zu der einer ehrenvollen Anstellung und reichlichen Versorgung. Was, aus dem tief innersten Bewußtsein des Genius von sich selbst entspringend, bei Wagner schon damals weit über diese Vorstellung hinausging und ihn in der Folge, um höherer Ziele willen, die äußeren Verhältnisse oft mit rücksichtsloser Heftigkeit abbrechen ließ, begegnete in ihr einem unheilbaren und unversöhnlichen Unverständnis. Eine tiefere Empfindung von der überragenden Bedeutung ihres Gatten ist ihr weder in der damaligen unklaren Periode, noch zu irgendeiner folgenden Zeit eigen gewesen; und wenn auch sie ihm Opfer der Liebe brachte, ward ihr doch weder in dem erhebenden Gefühle davon, wem diese Opfer galten, eine begeisterte Genugtuung zuteil, noch konnte sie dem ringenden Künstler jemals die Erleichterung bieten, sich ihr über Das, was ihn erfüllte, anders als in oberflächlichster Weise mitzuteilen. Nie hat es ihr Wagner vergessen, daß sie die schweren Prüfungen der nächsten, wechselvollen Leidensjahre ohne Murren mit ihm ertrug; trotzdem zog der übereilte Schritt dieser Eheschließung bei [273] der unvereinbaren Verschiedenheit der Naturen eine fast ununterbrochene Kette von Trübsalen und inneren Kämpfen nach sich. Das erste dieser Trübsale fällt noch in die Königsberger Zeit.

Zunächst ergab sich, anstatt des ersehnten Behagens der mit schweren Opfern erkauften häuslichen Niederlassung, als erster Erfolg der ›besitzlosen Häuslichkeit‹ ein bitteres Ringen um die bloße äußere Existenz, wogegen jedes höhere Bedürfnis zurücktreten mußte. Seine Wohnung in dieser traurigen Zeit war das Eckhaus am Steindamm Nr. 111, an der Monckenstraße, dort soll er auch ›Hochzeit gemacht‹ haben. Seine damalige ›Kneipe‹ soll ein niedriges Haus in der ca. 20 Spannen breiten Krugstraße gewesen sein: da soll der schmächtige junge Mann mit der mächtigen Stirn und dem energisch vorspringenden Kinn, für sich allein oder mit Theaterangehörigen, gesessen und seine ›Kruke‹ Weißbier getrunken haben. ›Übrigens‹, heißt es in der gleichen Tradition, der wir diese Angabe verdanken, ›ist er damals – durch die Schuld Schuberths, der mit Eifersucht auf ihn blickte – hier arg angefeindet worden.‹17 ›Das Jahr, welches ich in Königsberg zubrachte‹, so berichtet er selbst, ›ging durch die kleinlichsten Sorgen gänzlich für meine Kunst verloren Eine einzige Ouvertüre schrieb ich: Rule Britannia.‹ Um sich Subsistenzmittel zu verschaffen und Fühlung mit dem Königsberger Publikum zu gewinnen, dirigierte er Orchesterkonzerte im Schauspielhause; in einem derselben gelangte die neue Ouvertüre zur Aufführung. ›Die einfache Dekoration des Schauspielsaales‹, berichtet J. Feski im März 1837,18 ›und das Halbdunkel, verleihen (in diesen Konzerten) den Tönen zuweilen einen ganz eigenen mystischen Reiz, was Uneingeweihte für irreguläre Durchgänge halten. Auch ist hier der einzige Ort, wo junge Komponisten ohne Risiko ihre neugeschaffenen Werke baldigst zur Aufführung bringen können. So hörten wir dieses Jahr eine Ouvertüre von Servais und (eine) von Musikdirektor Wagner.‹ über das Werk selbst äußert sich der Berichterstatter nicht näher, über die Vorführung macht er die Bemerkung: ›Herr Musikdirektor Wagner dirigierte das Ganze mit imponierendem Anstand, und suchte sich von dem Fehler, mit beiden Armen zu dirigieren, welcher Herrn Theatermusikdirektor Schuberth vorgeworfen wird, dadurch zu schützen, daß er einen beständig in die Seite stemmt.

Auf den freien Seiten einer fragmentarischen Skizze der ›Rule Britannia‹-Ouvertüre findet sich eine merkwürdige, rasch hingeworfene und nur flüchtig skizzierte wilde Opfer- und Beschwörungsszene aus irgend einem damals in Königsberg aufgeführten Theaterstück. Auf einen solchen Zusammenhang weisen [274] die eingestreuten Stichworte und die vorkommenden Namen altpreußischlitauischer Gottheiten hin. Sie trägt die Überschrift: ›Marcia moderato‹ und beginnt mit einer markant rhythmisierten und eindringlich instrumentierten Introduktion von 24 Takten:


6. Königsberg

Das instrumentale Vorspiel schließt mit drei Tamtam-Schlägen, denen eben so viele langgehaltene Posaunentöne folgen; dann beginnen die Priester ihren Gesang:


›Hört der Götter Spruch! Fühlet ihren Fluch!

Auf blut'gem Throne herrscht Pikullos,

die Feuerkrone trägt Perkunos,

doch Glück zum Lohne schenkt Potrimpos.‹


In den Unisono-Gesang der Priester schmettern die Akkorde der Bläser hinein:


6. Königsberg

Es folgt ein ›Chor der Jünglinge‹:


Perkunos! Perkunos! Nimm auf blutigem Altar unser Opfer gnädig wahr!

Leih' uns Deiner Schrecken Macht, stärke uns in wilder Schlacht!


Die Melodie der Beschwörung gemahnt uns in ihrer melodischen Grundlinie (wenn man sich das letzte Viertel des ersten Taktes wegdenkt) wie ein Hinweis auf das Frageverbot im ›Lohengrin‹:


6. Königsberg

Ein ›Chor der Jungfrauen‹ nimmt dieselbe melodische Phrase in Fdur auf:


[275] Potrimpos! Potrimpos! Nimm auf Deinem Weihaltar unsres Opfers gnädig wahr!

Sende Deines Segens Macht, strahle Licht in unsre Nacht!


worauf sich alle Stimmen kanonisch zum Opfergesang vereinigen:


Für die Opfer, die wir bringen, steht mit eurer Macht uns bei,

daß im Kampfe wir bezwingen Feindes Macht und Tyrannei!


6. Königsberg

und nach einem bloß durch das Stichwort angedeuteten Dialog der Chor der Priester einfällt:


Die Flamme sprüht, der Holzstoß glüht!

Perkunos, Blutgott, gib ein Zeichen,

Wer Dir als Opfer soll erbleichen!


Offenbar handelt es sich bei diesem Entwurf um eine von ihm verlangte musikalische Einlage zu einem Schauspiel, welches das erste Ringen des Christentums mit dem altpreußischen Heidentum und dem blutigen Kult seiner Menschenopfer darstellt. Wir werden an Werners ›Kreuz an der Ostsee‹ mit seinen drei Götzenbildern unter der uralten Eiche des Königs Waidewuthis erinnert; doch hat sich bis jetzt aus den lückenhaften Nachrichten über die damaligen Königsberger Theaterverhältnisse Näheres über das Stück nicht ermitteln lassen.19 Gewiß ist, daß, als nach Schuberths endlich erfolgtem Abgang im März oder April 1837 Wagner an das verlassene Dirigentenpult seines Vorgängers gelangte, auch diesem Theater die drohende Katastrophe eines Bankerotts durch allzu geringe Teilnahme des Publikums an seinen Leistungen nahe bevorstand. Wir erfahren, daß unter der Leitung L. Schuberths die ›Jüdin‹ von Halevy, die ›Puritaner‹ und ›Norma‹ von Bellini als Neuigkeiten ›spurlos vorübergegangen‹ seien;20 und das rezitierende Schauspiel, ›in diesem Winter noch mehr als im vorigen gegen die Oper zurückgestanden habe.‹ [276] Nur Dem. Planer und Mme. Schmidt sei es, zuweilen gelungen, das sehr erkaltete Interesse daran flüchtig anzufachen.21

Den unhaltbaren Zustand der Königsberger Bühne im Auge, sah er sich um so dringender dazu veranlaßt, die bereits angeknüpften Beziehungen in die Ferne wieder aufzunehmen. Scribe, an den er sich mit der Zusendung des Entwurfes gewandt, hatte zwar bis jetzt geschwiegen; aber dadurch ließ sich der junge Meister nicht abschrecken. So schnell gab er seine Wünsche und Pläne nicht auf. Immer den Gedanken an einen Pariser Erfolg festhaltend, trug er sich eine Weile mit der Absicht, die Partitur seines ›Liebesverbotes‹ direkt an den derzeitigen Entrepreneur der komischen Oper einzusenden; dieser sollte die Musik und das Sujet zunächst ›von Auber und Gott weiß wem‹ prüfen lassen; gefiele ihm beides, so mochte er den Text von einem beliebigen Pariser Theaterdichter bearbeiten und der Musik anpassen lassen. Dann kam er aber doch wieder auf Scribe zurück. Nachdem er ein halbes Jahr vergeblich auf Antwort gewartet, schrieb er diesem – bald nach seinem Königsberger Amtsantritt – nochmals. Er nahm die Schuld seines schweigsamen Gönners auf sich selbst: wohl könne er sich denken, daß er (Scribe) in Verlegenheit sei, was er ihm habe antworten sollen, da er ja ihn und seine Tätigkeit als Komponist gar nicht kenne. Um diesem Übelstande abzuhelfen, fügte er seinem Schreiben die Partitur des ›Liebesverbotes‹ bei, und ersuchte ihn sich darüber von Auber und Meyerbeer ein Urteil abgeben zu lassen. Falls sie Beifall erhielte, bot er ihm zugleich auch diese Oper unter denselben Bedingungen an, wie zuvor den Entwurf zur ›hohen Braut‹: er könne sich ja leicht von dem vorhandenen Text eine rohe französische Übersetzung machen lassen und aus diesem ganz nach seinem Gutdünken ein Scribesches Opernsujet verfertigen, um es alsdann der Opéra comique anzubieten. Es existiert auch der Entwurf eines Briefes an Meyerbeer aus dieser Königsberger Periode. Sehr möglich, daß er sich bereits zu gleicher Zeit an den einflußreichen Mann gewandt hat, um diesen Einfluß für sein Unternehmen in Bewegung zu setzen Möglich auch, daß es bloß bei dem Entwurf geblieben ist. Jedenfalls war es unrecht, seine damaligen, noch dazu direkt an Meyerbeer gerichteten Äußerungen gegen seine eigenen, sehr abweichenden späteren ins Feld zu führen, wie dies von mancher Seite her geschehen ist. Wie vieles hatte der junge Künstler nicht erst noch an sich selbst zu erleben, bis er zu einem vorurteilslosen und unbestochenen Urteil über den wahren Wert des gefeierten großen Opernmusikkönigs gelangte!

Aber auch auf dem heimischen Mutterboden Deutschlands ließ er es aus seiner einsamen ostpreußischen Abgeschiedenheit nicht an Versuchen [277] fehlen, das in ihm lodernde Feuer aus der darüber gelagerten Aschenschicht deutscher Kunstbildung herausschlagen zu lassen Damals redigierte August Lewald in Stuttgart die beliebte und weithin verbreitete Monatsschrift ›Europa‹, in wirklich einigermaßen vornehmer äußerer Erscheinung und Ausstattung, mit häufigen Kunstbeilagen usw. Ihm machte sich Wagner von Königsberg aus bekannt und bot ihm das ›Karnevalslied‹ als musikalische Beilage für seine Zeitschrift an. Es freute ihn, seine Komposition nicht allein angenommen und in der erwünschten Weise verwendet zu sehen, sondern auch bei derselben Gelegenheit sein Interesse in so wohlwollender Weise, wie ihm dies lange nicht begegnet war, einer öffentlichen Beachtung gewürdigt zu erblicken. Lewald begleitete die Veröffentlichung mit der Bemerkung, das ›Karnevalslied‹ von Herrn Wagner, Musikdirektor in Königsberg i. Pr., sei aus einer Oper, welche der Autor nach Paris geschickt habe, um sie von Scribe ins Französische übersetzen und auf die dortige Bühne bringen zu lassen. ›Er hat‹, fährt Lewald fort, ›Herrn Scribe alle Autorrechte für den Text abgetreten, worauf hier alles ankommt, indem sonst von den französischen Autoren, die sich durch das Eindringen Fremder beeinträchtigt sehen, Intriguen aller Art zu befürchten sind. Ich werde, wenn ich von dem Erfolg der eingeleiteten Schritte meines jungen Freundes Nachricht erhalten haben werde, solches dem Publikum mitteilen‹. Soweit handelt es sich bloß um die Darlegung eines tatsächlichen Verhältnisses; wirklich erwärmend dagegen konnte die nun folgende Reflexion, die bestätigende Anerkennung der vorhandenen bitteren Notlage des deutschen dramatischen Musikers auf den jungen Meister wirken: ›Wenn die Lage der Dinge in Deutschland sich nicht ändert; wenn es dem talentvollen Komponisten fast schwerer wird, auf dem kleinsten Winkeltheater Deutschlands, als selbst in Paris mit seinem Werke durchzudringen; wenn es den deutschen Bühnenvorständen fortwährend belieben wird, das Gute und Ansprechende, was hier und da noch auftaucht, schnöde zurückzuweisen, und endlich die Theaterkritik von Unwissenden als schmähliches Handwerk stets betrieben wird: so ist es für junge strebsame Geister der einzige Weg, an das Ausland zu appellieren. Ich schreibe diese Bemerkung ganz abgesehen von dem Falle hier nieder, dessen Erfolg ich im voraus keineswegs zu berechnen wage.‹22

Inzwischen näherte sich der nicht länger aufzuhaltende Verfall des Königsberger Theaters in kürzester Frist seiner unausbleiblichen Entscheidung. ›Mein häusliches Trübsal vermehrte sich‹, – mit diesen einzigen kurzen Worten gedenkt Wagner seiner damaligen sorgenvollen Lage. Der erklärte Bankerott der Direktion machte auch hier, wie zuvor in Magdeburg, seiner kurzen Dirigentenfunktion ein Ende. Zu freundschaftlichen Beziehungen unter den Königsberger ›Kunstgenossen‹ war es kaum gekommen. Nur einmal erwähnt er in einem [278] seiner Briefe des nachmaligen, durch Liszt protegierten, Komponisten der ›Comala‹, E. Sobolewski, als fertigen Klavierspielers, der ihm Schumanns damals soeben erschienene Klaviersonate (in Fis-moll Op. 11) vorspielen solle. Zu einem tieferen Verständnis der künstlerischen Persönlichkeit Wagners und seines Wollens ist dieser aber offenbar weder damals noch später gelangt, wie einige seiner in den fünfziger Jahren publizierten Broschüren deutlich genug verraten.23 Von seinen Magdeburger Freunden war ihm der Tenorist Friedrich Schmitt (S. 234) in den fernen Nordosten gefolgt, und stand ihm in den schwierigen Verhältnissen seiner dortigen Existenz treulich zur Seite. Auch ein wohlsituierter Königsberger Kaufmann, namens Abraham Möller, nahm sich mit Rat und Tat seiner an; er wird uns noch weiterhin begegnen. Dann kam mit einem Schlage der unerwartet plötzliche Abbruch aller dortigen Beziehungen. ›Herr Musikdirektor Wagner, der an L. Schuberths Stelle kam‹, berichtet der Königsberger Referent Schumanns, M. Hahnbüchn, in bedauerndem Nachruf, ›hat uns auch schon verlassen, wie es hieß, Familienverhältnisse wegen. Er hielt sich hier zu kurze Zeit auf, um sein Talent mehrseitig zeigen zu können. Seine Kompositionen, von denen ich eine Ouvertüre gehört und eine gesehen habe, zeugen von eigener Produktionsgabe.‹ ›Manche Menschen‹, fügt er in fernerer Betrachtung hinzu, ›sind gleich klar in ihrem Charakter und in ihren Werken, andere müssen sich erst durch ein Chaos von Leidenschaften hindurcharbeiten. Freilich gelangen die letzteren zu höheren Resultaten.‹ über die hier angedeuteten ›Familienverhältnisse‹ hat sich das Zartgefühl Wagners gegen Fernerstehende zu keiner Zeit ausgelassen, weder zu den Lebzeiten seiner ersten Gattin, noch vollends nach ihrem Tode. Bloß in neuester Zeit ist das ungeheuer Schwere, was der junge Meister in dem ersten Halbjahr seiner jungen Ehe durchzumachen hatte, durch Herrn W. Tappert zu öffentlicher Kenntnis gebracht worden, in der Form einer Rechtfertigung der unglücklichen Frau, welche jedoch bei ihrer völligen Unzulänglichkeit tatsächlich vielmehr eine gravierende Belastung derselben vorstellt. Er beruft sich dabei auf einen ihm vorliegenden ›4 Folioseiten umfassenden Bericht‹ in dieser Sache von Wagners eigenem Schwager, dem in seiner Ehrenhaftigkeit [279] unantastbaren Oswald Marbach, von welchem Schriftstück er ›als entbehrlich den größten Teil unterdrückt‹ und hingegen das Eine hervorhebt, daß Wagners Frau ihn damals – von Königsberg aus – heimlich verlassen habe24. Nur soviel möge hier zur Berichtigung der öffentlich gemachten falschen Angaben ausgesprochen werden, daß es weder in der Begleitung eines ›Offiziers‹ geschah (– das kann Marbach unmöglich gesagt haben! –), noch auch, wie Herr Tappert völlig grundlos behauptet, in derjenigen des braven Möller. Als Ursache des verzweifelten Schrittes sind Verblendung, Selbsttäuschung und die Unerträglichkeit des Königsberger Zustandes zu betrachten –, das Unvermögen, es noch länger in der schwierigen Situation auszuhalten. Ein niederschmetterndes Erlebnis dieser Art war der Grund von Wagners plötzlicher Abreise; auch erklärt sich daraus seine kurz darauf ausgesprochene Absicht einer Scheidung der vor kaum sieben Monaten geschlossenen Ehe, von welcher weiter unten die Rede sein wird.

Er ging zunächst nach Berlin, über Berlin nach Dresden. An ersterem Orte verkehrte er mit Schindelmeißer, der inzwischen, als Gläsers Nachfolger, die zuvor von Wagner erstrebte Musikdirektorstelle am Königstädter Theater inne hatte und bei dem er, in seiner damaligen großen Gebeugtheit, ein liebevolles Verständnis seines Zustandes fand Seine Gedanken waren damals auf eine Anstellung in Riga gerichtet, doch scheint es, als habe er seine Frau noch nicht völlig aufgegeben und eine Erschwerung seiner etwaigen Bewerbung darin gesehen, daß er noch nicht wußte, ob auch an sie bei diesem eventuellen Engagement zu denken sei über Berlin begab er sich dann in demselben traurigen Sommer 1837 auf kurze Zeit nach Dresden. Dort brachte ihn die Lektüre der Bärmannschen Übersetzung von Bulwers kürzlich erschienenem Roman ›Rienzi‹ auf eine bereits gehegte Lieblingsidee zurück, den letzten römischen Tribunen zum Helden einer großen tragischen Oper zu machen. ›Der Drang, einer unwürdigen Lage mich zu entwinden, steigerte sich zu dem heftigen Begehren, überhaupt etwas Großes und Erhebendes zu beginnen, selbst mit vorläufiger Außerachtlassung eines nächsten praktischen Zweckes. Diese Stimmung ward in mir lebhaft genährt und befestigt durch die Lektüre von Bulwers »Rienzi«. Aus dem Jammer des modernen Privatlebens, dem ich nirgends auch nur den geringsten Stoff für künstlerische Behandlung abgewinnen [280] durfte, riß mich die Vorstellung eines großen historisch-politischen Ereignisses, in dessen Genuß ich eine erhebende Zerstreuung aus Sorgen und Zuständen finden mußte, die mir eben nicht anders, als nur absolut kunstfeindlich erschienen. Dieser Rienzi, mit seinem großen Gedanken im Kopf und im Herzen, machte mir alle Nerven vor sympathetischer Liebesregung erzittern.‹ Dazu konnte das lyrische Element in der Atmosphäre des Helden, die ›Friedensboten‹, der kirchliche Auferstehungsruf, die Schlachthymnen, bei dem immer noch mehr oder weniger rein musikalischen, der ›Oper‹ zugeneigten Standpunkt seiner damaligen Entwickelung, seine Anziehungskraft auf ihn nicht verfehlen. ›Widerliche äußere Verhältnisse‹ – wir können sie uns nach allem Obigen deutlich vergegenwärtigen – verhinderten ihn zwar fürs erste daran, sich weiter mit Entwürfen zu beschäftigen. Aber die empfangene Anregung blieb in ihm haften.

Von den in diese Zeit fallenden Aufführungen des Dresdener Hoftheaters war insbesondere eine Vorstellung der Halévyschen, Jüdin ›von Eindruck auf ihn, Eine gewisse schauerliche Erhabenheit, durch elegischen Hauch verklärt, ist ein charakteristischer Zug in Halévys besseren, aus dem Herzen geflossenen Produktionen‹, schreibt er wenige Jahre später, und bezeichnet zugleich den allgemein erschütternden Hauptzug der Textdichtung, wie er in jener ›Jüdin‹ wirklich vorhanden sei, als die Ursache davon, daß sich die Musik des Tondichters gerade in diesem Werke auf eine – nie wieder von ihm erreichte – Höhe geschwungen.25 Die von dem trefflichen Chordirektor Wilhelm Fischer einstudierten Chöre erregten seine volle Bewunderung; er mußte später an diese Vorstellung denken, als er die Oper in Paris wieder hörte und bei seinen Betrachtungen über den Unterschied der Dresdener und Pariser Chöre die letzteren nicht sonderlich davonkamen.26 Auch entsann er sich in einer Aufführung der ›Jessonda‹ einen kriegerischen Tanz von dem in Dresden liegenden Militär vortrefflich ausgeführt gesehen zu haben, an den er später gelegentlich der Verhandlungen über den, ausschließlich von Männern auszuführenden kriegerischen Tanz im ›Rienzi‹, als ein Beispiel anknüpft.27 Sonderbar, daß es gerade während dieses, mehr zufälligen, Dresdener Aufenthaltes war, daß ihm die erste Anregung zum ›Rienzi‹ zuteil wurde Nicht eher sollte der römische Befreiungsheld die Szene beschreiten, als bis sein Schöpfer in Wort [281] und Ton eben hierher, wo der erste Keim zur Entstehung des Werkes in seine Seele gesenkt war, den irrenden Fuß aus weiter Ferne zurücklenkte. – Während desselben Verweilens in Dresden empfing er – im Juni – eine eingehende höfliche Antwort von Scribe, welche den famosen Textdichter von dem Vorwurf einer früheren Nachlässigkeit gänzlich freizusprechen schien. Er behauptete Wagners ersten, der Sorgfalt seines Schwagers Brockhaus anvertrauten Brief, nebst Entwurf der ›hohen Braut‹ – gar nicht erhalten zu haben, dankte verbindlichst für die ihm übersandte Partitur des ›Liebesverbotes‹, bat um nähere Aufklärung über das an ihn gestellte Verlangen und versprach für die Sache zu tun, was in seinen Kräften stehe. Das ließ sich hören, und der junge Meister beeilte sich, ihm sogleich von neuem zu schreiben und eine Abschrift des verloren gegangenen Opernentwurfes beizufügen. Beides übergab er der Dresdener Post, ›der Sicherheit wegen unfrankiert‹, – und sah nicht ohne Hoffnung dem weiteren Verlauf der Dinge entgegen.

›Bevor ich jedoch zur Ausführung meines Planes zum »Rienzi« schritt, trug sich manches in meinem Leben zu, was mich, von dem gefaßten Gedanken ab, nach außen zerstreute‹, – mit diesen Worten leitet Wagner selbst den Bericht über seine nun folgenden Lebensschicksale ein. Sein erst vor einem Jahr gegen Dorn geäußerter Wunsch, nach Riga zu gehen, sollte sich nun unvermutet doch noch erfüllen. Für Riga war Karl v. Holtei soeben im Begriff, unter Garantie wohlgeordneter Zustände, eine neue Theatergesellschaft zu bilden; zu diesem Zwecke weilte er in Berlin. Zwei schnell aufeinanderfolgende Briefe vom 7. und 12. Juni an Schindelmeißer handeln von diesem Engagement. Der erste dieser beiden Briefe knüpft in seinen Eingangsworten an einen kurzen Ausflug an, den er von Dresden aus nach Berlin gemacht und von dem er soeben zurückgekehrt war. ›Ich bin‹, heißt es, ›im Eilwagen viel mit mir zu Rate gegangen, und das Resultat ist, daß ich jetzt Alles auf das Engagement nach Riga gebe‹. In diesem Sinne wünscht er sobald als möglich mit Holtei abzuschließen: ›1000 Rbl. Slbr., Kontrakt auf 2–3 Jahre‹. Er verpflichtet sich des Vorstudierens wegen schon Mitte Juli in Riga einzutreffen, und wünscht dementsprechend eine Reiseentschädigung (inklusive seinen früheren Aufenthalt in Riga) von 100 Talern. Der zweite Brief ist eine Antwort auf die inzwischen erhaltene Auskunft Schindelmeißers, dem es ratsam schien, daß Wagner nochmals nach Berlin komme, um die Sache persönlich zu betreiben. Er sagt ihm innigen Dank für seine Freundschaft. ›Ich bin jetzt brotlos‹, heißt es dann weiter. ›Ich muß Riga erhalten. Augenblicklich kann ich hier nicht abkommen; ich wohne bei meinem Schwager Brockhaus, – Ottiliens Mann (S. 256), – liebe Leute. Ich kann sie so schnell nicht verlassen. Schreibe mir umgehend, ob meine schnelle Ankunft in Berlin noch nötig ist; wenn du mir ohnedem zu dem Kontrakt verhelfen kannst, ist's mir sehr lieb‹. In bezug auf seine Frau heißt es in dem ersten Briefe: es brauche [282] dabei auf sie gar keine Rücksicht genommen zu werden; in dem zweiten (vom 12. Juni) ist ausdrücklich davon die Rede, daß gleichzeitig (also erst nach reiflichster Überlegung und inneren Kämpfen) ›seine Klage auf Ehescheidung von seiner Frau an die Königsberger Gerichte abginge‹.28 Mit einem, dem Briefe an Schindelmeißer beigelegten, nicht auf uns gekommenen, besonderen Schreiben wandte er sich außerdem unmittelbar an Holtei und erhielt bald darauf in mündlicher Vereinbarung die von ihm erstrebte Musikdirektorstelle zugesichert.

Fußnoten

1 Laube, Erinnerungen (I. Bd. der Ges. Schriften Laubes) S. 218.


2 Ebendaselbst.


3 Wir nannten soeben die gewesene Magdeburger Sängerin Limbach, sie fand bei Cerf ein Engagement, machte aber unter den ihr bereiteten Kollisionen ihrer dortigen Stellung so üble Erfahrungen, daß sie – kaum ein halbes Jahr später – es vorzog, um mit dem Manne nichts zu tun zu haben, sich ihrem Kontrakt durch den Bruch desselben und eilige Flucht zu entziehen. ›Nicht mehr zu hören, sondern – durchgegangen ist. Mlle. Limbach, erste Sängerin des Königstädter Theaters‹, lautet ein ihr gewidmeter, höhnischer Nachruf aus der Cerfschen Kanzelei. ›Ja, die schöne, sanfte, liebliche, allgemein beliebte, reichlich honorierte Dlle. Limbach hat das Weite gesucht, und ist um 3 Uhr nachmittags aus den Toren Berlins gefahren, nachdem sie um 12 Uhr dem Kommissionsrat Cerf ihr Ehrenwort gegeben, um 3 Uhr nachmittags bei ihm zu erscheinen und ihm in Gegenwart seiner Familie die Versicherung zu geben, daß sie keine bösen Gedanken gegen ihn habe. Welcher rechtliche und ehrliebende Bühnenvorsteher die Flüchtige aufnehmen wird, steht zu erwarten.‹ (Abendztg. v. 24. Febr. 1837.)


4 Dresdener Abendzeitung v. 8. Dez 1836.


5 Eichberger war vor seinem Engagement an der Königstädtischen Oper kurze Zeit unter großem Beifall des Publikums erster Tenorist in Leipzig gewesen, wo ihn jedoch Ringelhardt nicht zu fesseln wußte und Friedrich Schmitt auf kurze Zeit sein Nachfolger wurde, vgl. S. 234 Anm. dieses vorliegenden Bandes.


6 Die Ironie ist hier mit Händen zu greifen: man erkennt und durchschaut leicht seine volle Verachtung gegen den ›Kerl‹, den ›niederträchtigen Kerl‹, auf dessen Protektion er gleichwohl für die Verwirklichung seiner weitgehenden Berliner Hoffnungen angewiesen war.


7 Das Original dieses Briefes ist im Besitz des Herrn F. Avenarius.


8 Oder – bekanntlich! – in den Infinitiv gesetzt; vgl. die köstliche Parodierung seiner Ausdrucksweise in Wagners Briefen an Uhlig, S. 104.


9 Laube, Erinnerungen, S. 208, 218/19 (verkürzt).


10 ›Während ganz Deutschland Felix Mendelssohns musikalischer Religion sein Herz erschließt, wird in Berlin dem Drange nach Frömmigkeit durch philosophischen Pietismus abgeholfen‹... (Ges. Schr. I, 232).


11 Der erwähnte Artikel ist leider nicht auf uns gekommen. Daß er in der ›Neuen Zeitschrift für Musik‹ nicht erschien, darauf bezieht sich Wagner noch in einem späteren Briefe aus Königsberg (3. Dez. 1836). ›Meinen Aufsatz Ende Mai aus Berlin haben Sie wohl nicht aufgenommen; die Polemik gegen Rellstab in dieser Weise genierte Sie wohl? Nichts für ungut!‹


12 So über das soeben, im Juni 1836, von ihm in Riga veranstaltete erste allgemeine Musikfest der russischen Ostseeprovinzen.


13 Auch dieser Brief Wagners ist von Dorn, der sich gern wiederholt, und seine Begegnungen mit Wagner nicht oft genug erzählen konnte, in den Jahren 1865, 1870, 1877 in Journalaufsätzen und Broschüren auszugsweise oder vollständig mehrfach zum Abdruck gebracht.


14 Mit Nourrit, Levasseur und Dlle. Falcon in den Hauptrollen.


15 Brief an August Lewald vom 12. November 1838. (Original im Besitz von Regierungsrat H. Steger in Wien).


16 Sonderbarer Weise ist jedoch in dem uns vorliegenden ›Auszug aus dem Tragheimer Trauregister‹ nicht allein das Lebensalter Wagners selbst, sondern auch das seiner Braut, unrichtig angegeben: er ist – aus Not – ein Jahr älter, sie hingegen drei Jahre jünger gemacht, er als 24jährig, sie als 23jährig angegeben. Geboren ist sie tatsächlich – nach Ausweis der dortigen Kirchenbücher – zu Öderan im Erzgebirge am 5. September 1809.


17 So will es Louis Köhler, nach der Aussage von Wagners damaligem Klavierstimmer Louis Örtel, in Erfahrung gebracht haben.


18 Schumanns ›Neue Zeitschrift für Musik‹ 1837, I Nr. 30, S. 120. (Feski = Pseudonym für Sobolewski.)


19 Die oben mitgeteilten melodischen Fragmente hat zuerst W. Tappert in seinem Aufsatz ›Perkunos-Lohengrin‹ (Mus. Wbl. 1887, S. 414/15) veröffentlicht. Über die drei altpreußischen Gottheiten vgl.Henri Wissendorff, Notes sur la Mythologie des Lataviens, Paris 1893 (S. 14 ff. 26).


20 Schumanns Neue Zeitschrift für Musik 1837, I Nr. 30.


21 A. Woltersdorf, Geschichte des Königsberger Theaters von 1744–1855 (Theatralisches. Berlin, 1856, S. 83).


22 Europa. Chronik der gebildeten Welt, 1837, II, S. 240.


23 Eduard Sobolewski, ›Oper, nicht Drama‹, Bremen 1857. ›Das Geheimnis der neuesten Schule der Musik‹, Leipzig 1859. Letztere auffallend wenig Geheimnisvolles enthaltend. Wenn es je ein solches Schulgeheimnis gab, war es bei diesem vortrefflichen Musikdirektor, Komponisten und Klavierlehrer vor dem Ausplaudern gesichert. Gewiß meinte er dabei nicht das wahre und einzige Geheimnis aller Kunst, von welchem Wagner um eben jene Zeit in seinem Brief über Franz Liszts symphonische Dichtungen gehandelt hatte: ›Das Wesen der Individualität und der ihr eigenen Anschauung würde uns immer ein Geheimnis bleiben, wenn es sich nicht in den Kunstwerken des genialen Individuums offenbarte. Aber nur an dieses Kunstwerk und seinen Eindruck auf uns können wir uns halten; wer darüber laut und breit sprechen könnte, müßte eben nicht viel davon in sich aufgenommen haben.‹


24 W. Tappert, ›Minna Wagner‹ (in der Zeitschrift ›Die Musik‹ 1901/02, III. Quart, S. 1406/07). Der im übrigen rein kompilatorische Aufsatz, der an Tatsächlichem sonst auch nicht das mindeste Neue enthält, versucht die von ihm selbst produzierten Beschuldigungen dadurch zu entkräften, daß er von dem ›böszüngigen Eifer der Leipziger Klatschbasen‹ spricht; er hat aber dabei den doppelten Fehler begangen, daß er 1) den Namen Marbachs als Zeugen nennt, auf welchen diese Signatur nicht paßt, und 2) daß er dessen Angaben nicht einmal mit dessen Worten anführt, sondern sie in seine eigene, in diesem Zusammenhang – und überhaupt – unzitierbare, Tappertsche Ausdrucksweise einkleidet.


25 Es ist uns noch aus dem Sommer des Jahres 1878 erinnerlich, wie der Meister mitten in lebhaften Ausführungen über die eigenartige Bedeutung der Halevyschen Musik den Klavierauszug der ›Jüdin‹ aus seiner Bibliothek hervorholte, um zum Beleg einige Stellen daraus auf dem Flügel vorzutragen.


26 Vgl. die Briefe an Wilhelm Fischer, S. 255. 256. 264. ›Ich komme immer nur wieder auf die » Jüdin« zurück, denn dies ist die einzige moderne Oper, deren ich mich (aus Dresden) deutlich erinnere: ich sah sie im Sommer 1837 bei Ihnen, und gestehe, daß ich das nicht unbedeutende Ballet darin gar nicht übel gefunden habe, sowohl was Arrangement als Aufführung betraf.‹


27 Ebenda, S. 268.


28 Beide Briefe sind zuerst in der ›New-York-Tribune‹ von 1899, dann in der ›Allgem. Musikzeitung‹ desselben Jahres, S. 413, endlich in den ›Bayreuther Blättern‹ 1903, S. 21 ff. abgedruckt; nur daß in dem letzteren Abdruck der Hinweis auf die beabsichtigte Ehescheidungsklage taktvoll weggelassen, in dem zweitgenannten Abdruck hingegen (›Allgem. Musikzeitg.‹) durch gesperrten Druck hervorgehoben und eigens mit der Dornschen Verleumdung von dem ›sehr lebenslustigen‹ Charakter Minnas (vgl. S. 296 dieses Bandes) in Beziehung gesetzt ist.

Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 263-283.
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