V. Entstehung des Ungeziefers aus einem Drachenhaupt.

[170] Eine andere Sagengruppe beruht, wie es scheint, auf der von Haberland im Globus 39, 221 nachgewiesenen griechischen Anschauung von der Geburt der Bienen aus dem Stierleibe, für welche die ältesten Zeugen griechische Dichter aus dem Zeitalter der Ptolemäer sind und welche später häufig bei Dichtern und Naturkundigen bis in den Beginn der neuen Zeit wiederkehrt. Ähnlichen Ursprung schrieb man auch den Wespen und Hornissen zu, welche aus verfaulenden Pferden entstehen sollten; aus dem Eselsleibe kommen nach Konrad von Megenberg rote Fliegen. Indem sich solche Anschauung mit Sagen von Drachenkämpfen verband – wie leicht das geschehen konnte, zeigt die soeben mitgeteilte Variante S. 169, Nr. 2 – entwickelte sich die Sage von der Entstehung des Ungeziefers aus einem Drachenhaupt.


Sagen der Balkanvölker.


a) Golubac ist nicht weniger berühmt durch seine Fliegen als durch seine historischen Erinnerungen. In die Felsenbrüstung, die es umgeben, senkt sich eine feuchte und ungesunde Grotte, welche gefährlichen Insekten zum Schlupfwinkel dient. Eine Überlieferung will, daß sie dort zu Hause seien. Der Kopf eines Drachen, den St. Georg getötet, sei in die Höhlung geworfen worden, und aus seinem faulenden Fleisch seien die bösen Tierchen hervorgegangen ... Diese Fliegen vermehren sich in schrecklichem Umfang und dehnen ihren Raub weit aus.


  • Literatur: Kanitz, Donaubulgarien S. 399. Schott, walachische Märchen. Mélusine 2, 19 f., wo der serbische Volksglaube an die Entstehung des Ungeziefers aus einem toten Haupte erwähnt ist und verwiesen wird auf La Save, le Danube et le Balcan, Paris, Plou, 1884, p. 160. Revue des trad. pop. 2, 370 = Tour du monde 11, 79 = Léger, Le Danube et le Balcan p. 161.

b) Der berühmte Held Jovan Jorgovan zog aus, um den Drachen zu besiegen, der das Land besonders bei Craiova unsicher machte. Mit Hilfe seines schnellen Bosses holte er das Untier ein, schlug ihm drei von den sieben Köpfen ab, verfolgte es weiter, bis es schließlich nur noch mit dem letzten Haupt in die Donau sprang. Vorher aber verkündigte der Drache seinem Besieger, daß an dieser Stelle, wo er ins Wasser ging, für Jorgovan und sein Pferd schwere Gefahren entstehen würden. Und deshalb kommen von dort alljährlich die zahlreichen Fliegen, die besonders die Pferde plagen.

[170] 1. Variante: Die Fliegen entstehen aus dem Drachenhaupte, das sich in eine Grotte flüchtete.

2. Variante: Ein Kaiser hatte einen Sohn und drei Mädchen; die zwei älteren setzten ihre jüngste Schwester aus, weil sie schöner war als sie. Der Sohn suchte sie aber und fand sie beschützt von einem Drachen. Im Kampfe schlug er dem Untier das Haupt ab, dieses entfloh und versteckte sich in einer Höhle. Daraus entstehen die Fliegen.


  • Literatur: Marianu, Insectele S. 333.

In diesen Zusammenhang gehört wohl auch folgende Sage der Berbern:


Im Inneren der Sahara leben die Jeraiduja (Heuschrecken-Besitzer), die Macht über die Heuschrecken haben, und sie pflegten Geschenke vom Sultan zu bekommen und hielten die Heuschrecken zurück. Jedes Jahr kam ein Ungeheuer in die Gegend und starb da, die Leute verbrannten den Leichnam, und alles war in Ordnung. Aber wenn es nicht verbrannt wurde (da die Leute nicht gut gelaunt waren), so verfaulte es, und es wurden unzählige Maden ausgebrütet, und diese wurden zu Heuschrecken.


  • Literatur: Journal of the Anthrop. Instit. of Great Britain and Ireland 21, 72.

Wenn es in einer Variante (ebd.) heißt, daß die Heuschrecken aus einer Höhle in der Sahara kommen, über die heilige Leute Wache halten, so scheinen mir die beiden Sagen zusammengenommen auf Verwandtschaft mit den Balkansagen hinzudeuten. Solche Verwandtschaft wäre jedenfalls innerhalb des islamischen Kulturgebietes nichts Ungewöhnliches.

Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 170-171.
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