6. Kapitel.

Die Entstehung des Ungeziefers.

[151] Die Deutungen der Sage knüpfen sich mit Vorliebe an solche Tiere, zu denen der Mensch in irgendwelcher Hinsicht Beziehungen hat. Mögen diese Ton innerlicher Art sein und etwa in Furcht, Verehrung, Abscheu bestehen,[151] oder mögen sie äußerlich sein und etwa mit der Lebenshaltung, der Befriedigung notwendiger Kulturbedürfnisse, oder mit Gewinnsucht und Jagdlust zusammenhängen – die Tiere, um die er sich kümmert, wecken sein Erklärungsbedürfnis und rufen eine ganze Reihe von Sagen hervor.

Auch die überaus lästige Plage des Ungeziefers beschäftigt seine Phantasie. Wozu ist dieses Übel auf der Welt? Je weniger er zu antworten weiß, umsomehr drängt sich die andere Frage auf: Wie kam es auf die Welt? Dualistische Sagen führen es auf den Urheber alles Bösen, den Teufel, zurück (vgl. Bd. 1, Reg. u.d.W. ›Ungeziefer‹). Christliche Sagen fassen es als Strafe für Müßiggang auf (vgl. Bd. 2, Reg.).

Sehr nahe liegt die Vorstellung, daß die überall und in Massen auftretenden Fliegen, Moskitos und dergleichen Geschmeiß aus der über die Welt verwehten Asche eines Unholds oder einer Schlange entstanden sei. Zumeist wird der Unhold als Blutsauger oder Menschenfresser dargestellt; die Gier der Moskitos findet durch diesen Ursprung ihre Erklärung. Wie sich im folgenden zeigen wird, sind Sagen dieser Art vermutlich in Asien entstanden und sowohl westwärts als auch ostwärts nach Amerika gewandert.

Eine zweite Gruppe geht von der Tatsache aus, daß Verwesung und Entstehung von Gewürm miteinander zusammenhängen, folgert daraus den Ursprung der Insekten und bringt ihn mit Drachensagen in Verbindung.

Eine dritte Gruppe nähert sich wieder jenen christlichen Sagen und berichtet von bösen Geistern, die durch göttliches Walten in Ratten oder Wanzen verwandelt werden.

Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 151-152.
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