III. Verschiedenes.

A. Aus Asien.

[288] 1. Aus Annam.


a) Nach einem annamitischen Märchen ist der Moskito eine treulose Frau, der ihr Mann von seinem eigenen Blute zu trinken gab, um sie ins Leben zurückzurufen, als sie gestorben war. Auf der Heimreise vom Paradies wird sie ihm untreu.[288] Buddha befiehlt, sie solle das genossene Blut wiedergeben; doch sie gibt nicht alles wieder und wird nach ihrem Tode in einen Moskito verwandelt. Darum saugt der Moskito das Blut aus, weil er das, was er noch schuldig ist, wiedergeben muß.


  • Literatur: Landes, Contes annamites S. 207 ff. Vgl. Natursagen 1, 280.

b) Ein Oger lebte mit seiner Mutter in den Bergen; täglich ging er in den Wald, Wildbret für sie zu holen. Eines Tages, als die Mutter allein zu Hause war, kam ein Bonze, der ausgezogen war, das westliche Paradies zu suchen. Die Mutter verbarg ihn vor ihrem Sohn; doch der entdeckte ihn und fragte ihn nach dem Ziel seiner Wanderung. Der Bonze erzählte, daß er das Paradies suche, und rührte den Oger durch seine Worte also, daß er ihn fragte, was Buddha von den Menschen fordere. »Ihr Herz,« erwiderte der Bonze. Da öffnete der Oger seine Brust und gab dem Bonzen sein Herz, daß er es Buddha bringe.

Durch dieses Opfer wurden der Oger und seine Mutter Buddhas. Der Bonze aber trug das Herz bis zum Meeresufer; dort warf er es fort, denn es roch schlecht. Bei seiner Ankunft im Paradies fragte ihn Buddha, ob ihm nichts anvertraut worden sei, und sandte ihn zurück, das Herz des Oger zu suchen.

Der Bonze kehrte zum Meeresufer zurück und tauchte ins Meer, konnte das Herz aber nicht wiederfinden. Er wagte nicht, ohne das Herz zurückzukehren, und wurde in einen Tümmler verwandelt. Deshalb taucht der Tümmler unaufhörlich unter und kehrt dann wieder an die Oberfläche zurück.


  • Literatur: Landes, Contes annamites S. 137. In einer V. werden eine böse Zauberin und ihr Mann in Tümmler verwandelt, die stets ins Meer springen, weil sie über den Verlust ihrer Schätze trauern.

2. Singhalesische Sage.


Ein Korawakâ (eine Axt Wassergeflügel) ging einst zu seinem Onkel und bekam Betelnüsse zu verkaufen. Er beauftragte einige Gänse, sie ans Wasserufer zu tragen, und mietete eines Spechtes Boot, um sie hinüberzufahren. Das Boot schlug um, und die Ladung war verloren. Die Gänse hatten durch das Tragen der schweren Säcke mißgestaltete Hälse bekommen, der Specht sucht Holz, um ein neues Boot zu machen, und das Korawakâ klagt noch um die verlorenen Betelnüsse.


  • Literatur: Indian Antiquary 33, 230.

3. Sage der Visayan (Philippinen).


Der Dapay oder die Brahmanenweihe (ein Vogel, der dem Adler ähnlich, aber etwas kleiner ist) sagte einst der Henne, daß er sie liebe. Er suchte sie, und als er sie gefunden hatte, sagte er: »Ich möchte dich zur Frau haben!«

Die Henne sagte: »Es ist mir recht, aber erst müssen mir Flügel wachsen, wie deine, damit ich ebenso hoch fliegen kann!« Der Dapay erwiderte: »Als Zeichen unserer Verlobung gebe ich dir diesen Ring; nimm ihn gut in acht, bis ich wiederkomme.« Die Henne versprach es, und der Dapay flog fort.

Am nächsten Morgen begegnete der Hahn der Henne. Als er den Ring um ihren Hals sah, war er sehr erstaunt und sagte: »Wo hast du den Ring her? Ich glaube, du bist mir nicht treu. Erinnerst du dich nicht, daß du mir versprochen hast, meine Frau zu sein. Wirf den Ring fort!« Da warf sie ihn fort.

Am Ende der Woche kam der Dapay mit schönen Federn, um die Henne zu bekleiden. Als sie ihn sah, erschrak sie und verbarg sich hinter der Tür. Der[289] Dapay kam herein und sagte: »Wie geht es dir, meine liebe Henne? Ich bringe dir ein schönes Kleid!« und er zeigte es der Henne. »Aber wo ist dein Ring? Warum trägst du ihn nicht?« Die Henne konnte zuerst gar nicht sprechen, aber dann versuchte sie ihn zu täuschen und sagte: »O verzeih mir! Gestern ging ich im Garten und begegnete einer großen Schlange. Ich erschrak und lief schnell nach dem Haus. Als ich dahinkam, merkte ich, daß ich den Ring verloren hatte, und suchte ihn überall, aber ich habe ihn noch nicht gefunden.« Der Dapay sah die Henne scharf an und sagte: »Ich hätte nicht geglaubt, daß du so handeln könntest. Ich verspreche dir, wenn du den Ring gefunden hast, komme ich wieder herunter und nehme dich zur Frau. Als Strafe, daß du dein Versprechen gebrochen hast, sollst du immer im Sande scharren und den Ring suchen, und wo ich junge Hühner finde, werde ich sie dir rauben. Dabei bleibt es. Lebewohl!« Damit flog er fort, und seitdem haben alle Hennen der Welt gescharrt, um den Ring des Dapay zu finden.


  • Literatur: Journal of Am. Folklore 20, 100.

B. Aus Afrika.

1. Aus Madagaskar.


Ein Huhn borgte sich von der Gabelweihe (kite) eine Nadel und verlor sie. Da sagte die Weihe: »Es paßt mir nicht, daß du meine Nadel verloren hast.« Darum scharrt das Huhn immer auf der Erde, und darum trägt die Weihe zum Ersatz für die Nadel die Küchlein weg. Und wenn es Frühling ist, schreit die Weihe: Filokòhokòho (filo = Nadel, akòho = Huhn) und verlangt von dem Huhn ihre verlorene Nadel.


  • Literatur: J. Sibree, Folklore of Malagasy Birds = Folklore 3, 364.

2. Aus dem Akwapimlande.


[Ein Mann sagt, wenn seine Mutter stürbe, wolle er ihr zu Ehren den Schwanz der Elefantenkönigin abschneiden und sie dann begraben. Er tut es, als der Fall eintritt, und wird dafür von den Elefantenuntertanen verfolgt. Eine alte Frau hilft ihm und gibt ihm ein Amulet.]

Die (Elefanten-) Königin machte nun eine Kalabasse zurecht, die einen Stiel hatte. Diese nahm sie in die Hand und streichelte sich damit, bis sie sich in einen Menschen und zwar in ein sehr schönes Mädchen verwandelte. Als solches ging sie mit der Kalabasse in der Hand in das Dorf, wohin man ihren abgehauenen Schwanz gebracht hatte. Als die Jünglinge des Ortes sie sahen, priesen sie sie über die Maßen, und jener Mann erklärte, er wolle sie heiraten. Aber das schöne Mädchen sagte: »Wer mit einem Pfeil die Mitte der Kalabasse, die ich dorthin lege, trifft, der soll mich zum Weibe haben.« Alle Jünglinge nahmen nun ihre Bogen, der eine schoß und fehlte, der andere schoß, und es ging neben vorbei; keiner traf. Da sagte einer: »Wenn der Schwanzbrecher da wäre, der würde längst getroffen haben!« Eine kleine Weile nachher kam dieser vom Feld, hob seinen Bogen auf, zielte gut, schoß und traf. Die Jünglinge alle erkannten an, daß er den Preis verdient habe, und er heiratete das Mädchen. Als nun die Zeit des Pflanzens kam, halfen ihm alle Jünglinge, den Busch umzuhauen und das Land zum Bau herzurichten. Sie hatten nur noch die Klötze zum Verbrennen aufzuhäufen und bereits den Anfang damit gemacht, da verlangten sie nach dem Feierabend und sprachen: »Wir sind müde, laß uns nach Hause gehen!« – Er ver setzte: »Gehet ihr voran! Ich will nur noch diesen Holzhaufen mit Feuer anstecken[290] und dann nachkommen.« Nachdem nun alle die Jünglinge gegangen waren, rief ihn jenes Mädchen, sein Weib, und fragte ihn: »Ist's wahr, nennt man dich den Schwanzbrecher?« – Er sagte: »Ja.« – »Also bist du es, der mir meinen Schwanz abgebrochen hat, und du und ich werden nun sogleich sehen, was geschieht.« – Das Weib verwandelte sich nun in einen Elefanten und jagte den Mann um den angezündeten Holzhaufen herum. Der Schwanzbrecher fragte sein Amulet: »Was soll ich tun?« Es erwiderte: »Schlage mit deiner Hand ins Feuer.« Er tat so und verwandelte sich in einen Habicht (asansa) und flog davon. Indem er aber mit seiner Hand ins Feuer schlug, fiel auch sein Amulet hinein, und daher kommt es, daß, wenn jemand auf seiner neuen Pflanzung Busch und Gehölz, das er umgehauen, verbrennt, der Habicht erscheint, das ins Feuer gefallene Amulet zu suchen.


  • Literatur: Barth, Petermanns Mitteilungen 1856, S. 468.

3. Aus Kamerun.


Die Antilope fand viele Nüsse (nußartige Früchte) und steckte sie in eine Tasche. Darauf besuchte sie die Mutter des Schweines. Als sie im Hause des Schweines war, nahm sie immer eine Nuß aus der Tasche und machte sie auf.

Wenn sie eine Nuß aß, sagte sie jedesmal: »Die Augen meiner Mutter sind sehr süß!«

Das hörte das junge Schwein und sagte zur Antilope: »Mein lieber Freund, gib mir auch etwas ab vom Auge deiner Mutter!« Die Antilope antwortete aber dem Schwein: »Ich will dir eins von den Augen meiner Mutter geben, du mußt mir aber dafür ein Auge deiner Mutter geben, damit wir es zusammen essen.«

Das Schwein willigte ein. Es rief seine Mutter und fragte sie: »Wenn ich Schulden habe und du hast Geld, würdest du dann meine Schulden für mich bezahlen?« Die Mutter des Schweines erwiderte: »Ich würde es tun.«

Da erzählte das Schwein seiner Mutter: »Die Antilope und ich sind Freunde geworden. Alles, was einer von uns beiden hatte, das brachte er, und wir verzehrten es gemeinsam. Zuletzt haben wir folgendes ausgemacht: sie solle ihre Mutter blenden, und wir wollten dann beide ihre Augen essen. Danach wollten wir deine Augen blenden und sie essen. Die Augen der Mutter der Antilope haben wir gegessen, und nun sagt die Antilope zu mir: ›Blende auch deine Mutter!‹ Darum rief ich dich.«

Allein die Mutter des Schweines war damit nicht einverstanden. Die Antilope drängte das Schwein jeden Tag, daß es seine Mutter blende.

Als nun die Mutter des Schweines sah, wie die Antilope täglich ihr Kind bedrängte und ihm drohte, rief sie die Antilope und sprach: »Kommt und blendet mich!«

Nun blendeten sie die Mutter des Schweines. Dem Kind des Schweines tat es leid, daß es seine Mutter geblendet hatte. Weil nun seine Mutter blind war und große Schmerzen hatte, trug es sie nach Hause.

Unterwegs trafen sie den Elefanten. Derselbe fragte das Kind des Schweines: »Wen trägst du da?« Da antwortete es dem Elefanten: »Meine Freundin, die Antilope, er sann folgenden Plan: wir wollten beide unsern Müttern die Augen blenden. Darum kann meine Mutter nicht sehen und gehen, und ich trage sie.«

Der Elefant sagte zum Schwein: »Ich verstehe es, deine Mutter wieder sehend zu machen.« Da wurde das Schwein froh und sagte: »Laßt uns schnell nach Hause gehen. Gib dort meiner Mutter die Medizin, die du hast!«

[291] Als sie nun dorthin kamen, sagte der Elefant: »Sucht zwei Steine und Kokosnüsse!« Die Leute (Sklaven) des Schweines gingen aus und suchten, sie fanden aber nur zwei Steine, keine Kokosnüsse.

Die Antilope hörte von dieser Sache. Sie ging aus, die Mutter des Schweines zu besuchen. Als sie hineinkam, grüßte sie alle, die im Hause waren. Die beiden Steine aber, die gebracht worden waren, warf sie fort in den Wald.

Nun kam der Elefant und hatte die Kokosnüsse gefunden. Er sandte Leute aus, die Steine wiederzusuchen. Doch niemand konnte sie finden.

Das Schwein sucht aber bis heute nach den Steinen. Es wühlt fortwährend mit dem Rüssel in der Erde und sucht danach.


  • Literatur: Lederbogen, Kameruner Märchen S. 68.

4. Aus Loango.


Der schwarz- und weißgescheckte Eisvogel hat dem Menschen verraten, wie man Fische fängt. Nun fischen die Menschen überall, und die Eisvögel leiden Not. Wenn sie, nach Beute spähend, über stillen Gewässern rütteln, meinen sie unter sich den Verräter zu sehen und stoßen erbost auf ihn hinab.


  • Literatur: Pechuël-Loesche, Volkskunde von Loango S. 106.

C. Negermärchen aus Nordamerika.

Es gab einmal vor langer Zeit zwei Farmen, die lagen dicht nebeneinander, und auf jeder Farm gab es eine Menge Geflügel. Diese Tiere waren dazumal sehr gesellig, und so geschah es, daß das eine Geflügel eine Gesellschaft gab, zu der es seine Nachbarn einlud.

Als also der Tag gekommen war, krähte der Hahn alle seine Leute zusammen und stellte sie in einer Reihe auf. Der Hahn war der Anführer, dann kam die alte Henne mit den Hühnchen, der Pfau, der Kollertruthahn, das Perlhuhn und die Wackelente und wie sie alle heißen. Als sie aufbrachen, liefen sie alle noch recht unordentlich durcheinander, aber allmählich kriegten sie den richtigen Tritt, und dann gingen sie am Bach vorbei und an den Ställen und waren bald dort, wo der Lärm und die Lustigkeit schon begonnen hatten.

Da tanzten sie nun und spielten und sangen viele Lieder. Als sie sich genug daran erfreut hatten, flog der alte Vater Pfau auf das Scheunentor und blies zum Mittagessen. Sie wuschen sich alle Gesicht und Hände im Hinterhof und gingen dann hinein. Drinnen war aber nichts weiter auf dem Tisch als ein großer Haufen Brot. Da war eine Schicht auf der anderen, und ganz oben darauf, da war ein mächtiger Aschkuchen. Herr Hahn, der sieht sich dies an, zieht die Nase kraus und geht hinaus. Das alte Fräulein Perlhuhn hat ihn aber beobachtet und ruft:


»Gucke da! Gucke da!

Der Hahn bleibt nicht da!«


Darüber gibt es nun großes Hallo; Henne und Hühnchen gackern, der Truthahn kollert, und die Wackelente schüttelt den Schwanz und sagt: »Quicki, Quack! Quack!«

Aber der Hahn nahm seinen Mantel um und marschierte weiter. Das wirkte ja ein bißchen niederschlagend auf die anderen, doch noch ehe der Hahn außer Hör- und Sehweite gekommen war, machten sie sich schon über den Brothaufen, und sieh nur! unter dem Brothaufen da war viel Fleisch und Gemüse und Kartoffeln und Rüben. Der Hahn hörte, wie sie alle etwas bewunderten, kehrte um und guckte durch eine Ritze. Da sah er ja dann, was er sich eingebrockt hatte, und war sehr[292] unglücklich. Die anderen aber riefen ihm alle zu, er solle wieder hereinkommen, doch er war sehr hochmütig, reckte den Kopf in die Höhe, krähte und ging wieder davon. Er hatte aber eine Lehre dabei erhalten, die hat weder er noch seine Familie vergessen. Und wo man einen seines Geschlechtes findet, da scharren sie, ob sie wohl was zu essen finden, ja, sie scharren sogar, wenn ihre Nahrung vor ihnen liegt. Seit jener Zeit hat sich kein Hahn und kein Huhn mehr durch das täuschen lassen, was obenauf ist.


  • Literatur: Harris, Nights with Uncle Remus Nr. 11.

D. Aus Europa.

1. Aus Schweden.


Der Häher (garrulus) verwahrt Nüsse; um sie wieder zu finden, sucht er in den Wolken das Merkmal. Die Wolke aber treibt weg, und er weiß dann nicht, wo die Nüsse sind.


  • Literatur: Cavallius, Wärend II, XXIV.

2. Aus Rumänien.


Als Gott die Welt erschaffen hatte, bestimmte er jedem Vogel seine Nahrung, der Kohlmeise Kürbiskerne. Die freute sich, daß sie so süße Speisen essen sollte, und dachte nicht, an die Schwierigkeit, die Kerne aus der harten Frucht herauszuholen. Als sie nun durch die Welt zog und an ein Kürbisfeld kam, wollte sie die Früchte sogleich mit ihrem Schnabel öffnen; aber alle ihre Bemühungen waren vergebens, denn die Kürbisse waren zu hart. Deshalb mußte sie ihren Hunger mit kleinen Fliegen stillen. So ging's, bis Jesus Christus zur Erde kam; ihm klagte die Meise ihre Not und bat ihn, er möchte ihr doch ein Loch in die Kürbisse machen, damit sie die Kürbisse herausholen könne. Christus erfüllte ihre Bitte und machte in einen großen und schönen Kürbis ein Loch; durch das schlüpfte die Meise alsbald hinein und fraß alle Kerne gierig auf. Seit dieser Zeit fliegt die Meise von einem Kürbis zum andern und sucht einen, der ein Loch hat; in den schlüpft sie hinein und stillt ihren Hunger. Da sie aber vergessen hatte, Christus zu bitten, zwei Löcher zu machen, eins zum Hineinschlüpfen und eins als Ausgang, so wird sie oft von den Kindern überrascht, wenn sie in einem Kürbis sitzt, und so gefangen.


  • Literatur: Marianu, Ornitologia 2, 146.

3. Aus Nivernais.


a) Es waren einmal drei Brüder, der Kuckuck, der Maulwurf und der Karpfen. Sie lebten mit ihrem Vater in gutem Einvernehmen. Eines Tages war der Vater fort und kam nicht wieder. Die drei Brüder waren untröstlich und wollten ihn suchen. Um sich ihre Nachforschungen zu erleichtern, teilten sie sich in die Aufgabe. Der Kuckuck sagte: »Ich werde ihn im Walde suchen, wo er vielleicht aufgehängt ist.« »Und ich,« sagte der Karpfen, »im Wasser, denn ich fürchte, daß er ertrunken ist.« – »Und ich,« sagte der Maulwurf, »in der Erde, wo er vielleicht vergraben ist.«

Der Karpfen und der Maulwurf suchten vergebens; aber ihre Liebe hat sich noch nicht entmutigen lassen, sie setzen ihre Nachforschungen fort. Der Kuckuck fand endlich seinen Vater an dem Aste einer Eiche hängen, und er war davon so betroffen, daß er das Land verließ. Jedes Jahr kommt er indessen zurück und singt während dreier Monate Klagelieder auf seinen unglücklichen Vater.


  • Literatur: Revue des trad. pop. 2, 26 = Sébillot, Folklore de France 3, 9.

[293] b) Der Kuckuck, der Fisch und der Maulwurf waren die Kinder eines Mannes, der viel Mühe hatte, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Der Müller hatte ihm drei Scheffel Getreide vorgeschossen, die er unmöglich wiedergeben oder bezahlen konnte. Der arme Mann hängte sich vor Verzweiflung im Walde auf. Die drei Kinder, die ihren Vater sehr lieb hatten, machten sich, untröstlich über sein Verschwinden, auf die Suche und teilten sich in die Aufgabe.

»Unser Vater ist in der Erde vergraben, im Wasser ertränkt oder in der Luft aufgehängt,« sagten sie, »der Kuckuck wird nachsehen, ob er nicht an einem Aste aufgeknüpft ist, der Maulwurf wird in der Erde suchen und der Fisch im Wasser.«

Der Maulwurf und der Fisch haben ihren Vater nicht gefunden, aber ihr Kummer hat sich nicht vermindert, sie setzten ihre Nachsuchungen fort. Nur der Kuckuck hat ihn entdeckt, an einer dicken Eiche aufgehängt. Vor Kummer hat er, ohne jemanden zu benachrichtigen, das Land verlassen, wohin er nur noch einmal des Jahres zurückkehrt, um im Walde zu singen, während der drei Frühlingsmonate, an dem Jahrestage seines Todes. Vielleicht würde er sich länger aufhalten, wenn er nicht die Forderungen des Müllers fürchtete, der nie für seine drei Scheffel Getreide bezahlt worden ist. Da der Kuckuck nicht für die Schuld seines Vaters aufkommen kann, macht er sich lieber davon, wenn er den Klang der Sicheln hört.


  • Literatur: Revue des trad. pop. 3, 262, Nr. 26.

c) In einer dritten Variante werden die drei als reiche und mächtige Brüder dargestellt, die in ihrem Übermut von Gott verlangen, er solle seine Macht mit ihnen teilen. Gott straft sie dafür, indem er sie in die niedrigsten Wesen verwandelt, in einen Kuckuck, eine Eule und einen Maulwurf, die beständig einander suchen, ohne sich zu finden.


  • Literatur: Ebd.

d) In mehreren Varianten von Nivernais tritt an die Stelle des Fisches bald die Eule bald die Bachstelze, und es heißt von ihnen, daß der Maulwurf, der Kuckuck und die Eule, drei Brüder, ihren Vater verloren, als sie cocu-maillard spielten. Der Kuckuck ruft ihn am Tage, die Eule des Nachts, und der Maulwurf sucht ihn in der Erde.


  • Literatur: Ebd.

e) Eine andere Variante lautet: Die Bachstelze, der Kuckuck und der Maulwurf sind drei Brüder, welche Vater und Mutter getötet haben; darum hat Gott, um sie zu bestrafen, ihnen die menschliche Gestalt genommen. Der Maulwurf sucht sie nun in der Erde, der Kuckuck singt ihnen Totenlieder, und die Bachstelze trägt Trauer.


  • Literatur: Ebd.

4. Aus dem rutenischen Galizien.


Das Ochsenäuglein ist ein verwandeltes Kind, das seinen Vater sehr liebte. Vor langer, langer Zeit überfielen die Tataren das Dorf, verbrannten die Hütten und töteten die Menschen, auch den Vater des Kindes. Dessen Körper warfen sie ins Feuer, den Kopf vergruben sie irgendwo unter einer Wurzel. Darum hüpft das Ochsenäuglein unten an den Wurzeln herum, indem es gehörig ausschaut und den Kopf des Vaters sucht. Es will ihn dort, wo der Körper verbrannt war, begraben. Noch heute kann es den verlorenen Kopf nicht finden. Wenn es ihn aber gefunden hat, wird es ihn begraben und kann wieder ein Mensch werden.


  • Literatur: Zbirnyk 12, 191 Nr. 189 = Soria 1885, S. 129 f.
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 288-294.
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