II. Die mündliche Überlieferung des Orients.

[20] Die mündliche Überlieferung des Orients zeigt mehr oder weniger Unterschiede von der literarischen. Außer dem zu Anfang des Kapitels genannten japanischen Märchen finden sich noch folgende:


1. Aus Bannú.


Ein Alligator und ein Schakal waren gute Freunde, sehr zum Leid der Frau des Alligators, die sich von ihrem Manne vernachlässigt fand. Sie überlegte, wie[20] sie dem abhelfen könne, stellte sich krank und weigerte sich lange, ihrem Manne die Ursache zu nennen. Eines Tages sagte sie ihm, daß das Heilmittel ihrer Krankheit für ihn nicht zu erreichen sei und sie also sterben müsse.

»So sage mir wenigstens, was es ist,« sagte der Alligator.

»Es ist das Herz eines Schakals,« erwiderte die Kranke.

Der Alligator ermahnte seine Frau, guten Muts zu sein, ging zu seinem Freund, dem Schakal, und lud ihn ein, mit ihm über den Fluß zu gehen.

»Aber ich kann nicht schwimmen,« sagte der Schakal.

»Das macht nichts, ich trage dich auf meinem Maul herüber.«

Also brachen sie auf.

Als sie mitten im Fluß waren, zitterte der Schakal vor Furcht und fragte den Alligator, ob auch keine Gefahr dabei wäre, worauf der Alligator erwiderte, er wolle ihn töten und das Herz seiner Frau bringen.

Der Schakal lachte und sagte: »O du Narr, ich habe mein Herz am Ufer gelassen. Wenn du es brauchst, so trage mich zurück.«

Der einfältige Alligator tat es, aber sobald der Affe trocknen Boden unter den Füßen hatte, lief er in den Dschungel und hat nie wieder mit einem Alligator Freundschaft geschlossen.


  • Literatur: Thorburn, Bannú or Our Afghán Frontier, S. 219 f.

2. Aus Nordindien. (Durch neue Motive verändert.)


Ein Krokodil und ein Schakal waren einst gute Freunde. Der Schakal kam oft zum Flusse, um zu trinken, und wenn er seinem Freund begegnete, so unterhielten sie sich miteinander. Eines Tages sah der Schakal an der einen Seite des Flusses wunderbare Melonen und wünschte sogleich, sie zu haben. Er verbarg aber seinen Wunsch und sagte zum Krokodil: »Ich wollte, ich könnte an das andere Ufer des Flusses gelangen, um etwas Luftveränderung zu haben. Es würde mir sicher gut tun, aber wie kann ich dorthin gelangen?« »Das ist leicht,« erwiderte das Krokodil. »Ich bringe dich hinüber.« Also setzte sich der Schakal auf das Krokodil, das schwamm mit ihm hinüber und brachte ihn am Abend wieder zurück. Das geschah so jeden Tag, bis die Melonen zu Ende waren. Der Schakal brachte aber seinem Freunde keine und erzählte ihm gar nichts davon, sondern sagte immer, er täte es um seiner Gesundheit willen. Aber eines Tages dachte er, er müsse wohl seinem Freunde für all seine Gefälligkeit einen Dienst erweisen. »Bist du verheiratet?« fragte er. »Nein,« sagte das Krokodil. »Ich habe niemand zum Heiraten gefunden.« »O, ich werde dich schon verheiraten,« rief der Schakal. »Verlaß dich auf mich, ich finde eine Braut für dich.« Aber er sah sich gar nicht nach einer um, während das arme Krokodil nun voll Erwartung war. Der Schakal rührte sich nicht, und das Krokodil machte ihm Vorwürfe, daß er sein Wort nicht hielte, da er ihn so oft über den Fluß zur frischen Luft getragen habe. Als er nun den Schakal oft mahnte, nahm dieser den Stein eines Wäschers, einen großen, und den Stock, mit dem er die Wäsche geschlagen hatte, einen Frauenrock und sari, den er zum Trocknen ans Ufer gelegt hatte, und machte aus diesem allen eine Frau. Dann ging er zum Krokodil, sagte ihm, seine Braut sei da, und lief fort. Das Krokodil freute sich, ging zu der Gestalt und redete sie an, bekam aber keine Antwort. Er sprach noch einmal, und wieder kam keine Antwort. Da wurde er böse und zog am Rock, so daß alles zerfiel und er sah, daß er getäuscht worden war. Voll Wut schwor er Bache und beschloß, den Schakal zu töten. Eine Zeitlang zeigte dieser sich nicht, aber das Krokodil wußte, daß er zum Trinken kommen mußte, und lag[21] jeden Abend auf der Lauer, unter Baumwurzeln am Ufer des Flusses. Eines Abends kam der Schakal in die Nähe vom Krokodil ans Wasser. Da ergriff dies das Bein seines Feindes. »Was du da zu haben glaubst, ist nicht mein Bein,« rief der Schakal, »das ist nur ein Stück Holz.« Da ließ das Krokodil los, schnappte nach einer nahen Wurzel, und der Schakal lachte laut, daß seine List gelungen war, und rettete sich in den Dschungel.


  • Literatur: Folklore VII, 87. Vgl. North Indian Notes and Queries 3, 119. Frere, Old Deccan Days, p. 279, nr. 24. Jacobs, English Fairy Tales, p. 164.

3. Aus Korea.


Der Fischkönig ist durch einen Angelbaken in der Nase krank geworden. Es findet große Beratung statt, wie zu helfen sei. Die Schildkröte sagt: »Frische Kaninchenaugen werden helfen!« und erbietet sich, das Kaninchen ins Meer zu bringen. Sie schwimmt ans Ufer. Das Kaninchen kommt vorbei und fragt: »Was machst du hier?« Die Schildkröte erwidert, sie hätte sich einmal die Gegend ansehen wollen; es sei aber nicht der Mühe wert. Sie beschreibt das Wasser als viel schöner und bringt so das Kaninchen dazu, mit ihr zu gehen.

Als das Kaninchen im Fischpalast merkt, in welcher Absicht es geholt ist, sagt es, es habe zwei Paar Augen, eins für schlechtes Wetter – das trage es gerade jetzt –, das andere habe es im Sande am Ufer vergraben, ehe es hierhergekommen sei. Es wolle aber gern zurückkehren und eins für den guten Zweck opfern. Die Fische sind ganz beschämt durch diesen Edelmut. Die Schildkröte trägt es wieder ans Ufer, und es läuft davon.


  • Literatur: Allen, Korean Tales, p. 34.

4. Aus Siam.


Ein Affe wird von einem Tiger am Halse gepackt und lacht. Der Tiger fragt ihn, warum er lache.1 Der Affe sagt:

»Du hast mein Herz nicht getroffen, ich muß über dei nen Fehler lachen.«

»Wo ist denn dein Herz?« fragte der Tiger.

»Wo anders als an meiner Schwanzspitze,« sagte der Affe.

Da ließ der Tiger den Hals des Affen los und wollte den Schwanz packen; aber der Affe war schnell auf dem Baum und in Sicherheit.


  • Literatur: The Orientalist II, 45.

Auch nach Afrika ist diese Fabel gelangt.


5. Variante der Suaheli.


Auf einem am Meeresstrande wachsenden Feigenbaume hatte ein Affe sein Heim aufgeschlagen. In den salzigen Wogen tummelte sich oft ein Hai, dem der Affe zuweilen die wohlschmeckenden Feigen zuwarf. Das Verhältnis des Landbewohners zu dem Wasserbewohner wurde dadurch mit der Zeit recht herzlich. Eines Tages kam der Hai wieder und lud den Affen zu einer Festlichkeit ein, die er dem Freunde zu Ehren in seiner Meeresheimat veranstalten wolle. Der Affe bestieg denn auch den Rücken des Fisches und segelte vergnügt mit ihm von dannen. Sobald aber das Land außer Sicht war, erklärte der Hai, daß er nicht die[22] Wahrheit gesagt habe. Nicht zu einem Feste habe er den Affen geholt, sondern um ihn zu schlachten, da der König der Haie schwer erkrankt sei und nur durch den Genuß eines Affenherzens gerettet werden könne. Der Affe sah das Kritische der Situation wohl ein, entfliehen konnte er nicht, doch er wußte Rat. Mit bedauerndem Tone erklärte er, daß er nach der Gewohnheit der Affen sein Herz an dem Feigenbäume aufgehängt habe, dem König also leider nicht helfen könne. Nach einigem Hin- und Herreden brachte ihn der Hai ans Land zurück, damit er das vergessene Herz hole. Der Affe kletterte schleunigst auf den Baum und erzählte dem Hai, als dieser nach längerem Warten zum Aufbruch trieb, eine neue Fabel, welche die Nutzanwendung bringt.


  • Literatur: Wiener Zeitschrift für Kunde des Morgenlandes 7 (1893), 215. Aus einer Suahelihandschrift von C.G. Büttner, mitgeteilt von R. Otto Franke. Vgl. Büttner, Suaheli-Schriftstücke 1892 (Lehrb. d. Sem. f. Orient. Spr. zu Berlin X), Verh. d. Berl. Ges. f. Erdkunde 1893, 147 ff. Steere, Swahili-Tales. London 1870, S. 3 ff.

Man könnte zweifeln, ob die Suaheli-Erzählung aus einer arabischen Übersetzung des indischen Fabelwerkes stamme, oder ob sie unmittelbar aus indischer Quelle genommen sei. Da aber der hinterlistige Freund des Affen in der arabischen Version die Schildkröte ist (Benfey I, 420), so ist der Hai offenbar statt des Krokodils einer indischen Vorlage eingesetzt worden, was um so leichter geschehen konnte, als die Worte für Krokodil, Śiśumāra und makara, zugleich Delphin bedeuten. Es kommt hinzu, daß die Geschichte unter Steeres Erzählungen steht, unter denen noch einige andere auf indischen Ursprung zurückführen, so die vom Esel ohne Herz und Ohren. (Vgl. Wiener Zeitschr. 7, 216 und 384) Diese findet sich ferner in Verbindung mit der Geschichte vom Affen und Haifisch – also ganz so beisammen wie im Tantrākhyāyika – bei J. Becker, La troisième expédition beige au pays noir p. 238 = La vie en Afrique (1887) 2, 247.

Bei den heutigen vielfachen Ansiedelungen von Indern an der Ostküste Afrikas haben solche Übereinstimmungen nichts Wunderbares. Es müßte sich aber um Südinder handeln. Denn im Norden ist die alte Form des Pañcatantra längst geschwunden.

Fußnoten

1 Dieser Zug findet sich in einer Erzählung der Śukasaptati wieder: Textus simplicior Nr. 44 (Übers, v. Schmidt, S. 64), Handschrift A Nr. 46, Marāthī-Übers. Nr. 44 übers. T. Schmidt, S. 127), Textus ornatior Nr. 54 (Übers, v, Schmidt, Stuttgart, Kohlhammer 1899, S. 129). Vgl. Mēghavijayas Auszug aus dem Pañcatantra IV, XIII (ZDMG. LVII, S. 686 f.; Deutsche Übersetzung ZVfV. 1906, S. 268).


Quelle:
Dähnhardt-Natursagen-4, S. 23.
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