D. Ostasiatische und afrikanische Märchen mit zwei Schildkröten.

[67] Eine besondere Stellung in der Entwicklungsgeschichte der Fabel vom Hasen und der Schildkröte nehmen zwei ostasiatische und afrikanische Märchen ein. Hier kommen nicht mehrere Schildkröten vor, wie in allen bisher genannten, sondern nur zwei. Ich begnüge mich vorläufig damit, sie anzuführen und auf ihre Wichtigkeit hinzuweisen. Später kehre ich zu ihnen zurück.


23a. Erzählung der Singhalesen.


[A2] Eine Schildkröte sah einst einen Löwen an dem Ufer eines kleinen Flusses und sagte zu ihm: »Ich wette, daß ich schneller an die andere Seite des Ufers komme, wenn ich schwimme, als du, wenn du darüber springst.« Der Löwe nahm die Wette an, und sie setzten einen Tag fest, um ihre Schnelligkeit zu prüfen. [C] Unterdessen bat die Schildkröte eine Verwandte, sich an das eine Mußufer zu setzen; sie wolle auf dem andern bleiben, und jede müsse eine Blume im Munde haben. Am festgesetzten Tage erschien der Löwe und sagte zur Schildkröte: »Bist du fertig?« »Ja,« antwortete die Schildkröte. »Nun, so laß uns anfangen,« sprach der Löwe und sprang über den Fluß. Doch war er sehr erstaunt, als er die Schildkröte schon dort fand. Darauf beschlossen sie, daß sie weiter springen wollten, bis einer von ihnen müde würde und die Wette aufgäbe. Also sprang der Löwe von einer Seite zur andern, [B4] bis er zuletzt so matt wurde, daß er in den Fluß fiel und ertrank. Daher stammt das Sprichwort: Ohne List nützt keine Kraft; wo List ist, da ist auch Kraft, gleich wie der Löwe durch List der Schildkröte starb.


  • Literatur: The Orientalist 1, 87. (Das Sprichwort findet sich auch in einem Sanskritwerk Pratyaya-sataka, das in Ceylon verbreitet ist.)

23b. Im wesentlichen übereinstimmend lautet die singhalesische Erzählung bei Steele, Kusa Jātakaya, S. 257.


24. Aus China.


[A] Rabe und Schildkröte wollen durch eine Schnelligkeitsprobe entscheiden wer der älteste ist, und beschließen, über einen Fluß zu setzen. [C] An jedem der beiden Ufer ist eine Schildkröte, die der Rabe vorfindet, wenn er glaubt, zuerst angelangt zu sein. [D.] Da er Verdacht schöpft, ruft er bei einem erneuten Wettfluge inmitten des Weges die Schildkröte an, und von beiden Ufern ertönt die Antwort: »Hier bin ich.«


  • Literatur: Journal asiatique 2, 541 (1881); vgl. Basset, Contes pop. berbères 139. Zur Aufdeckung des Betruges vgl. oben Nr. 1.

25a. Aus Ostafrika. Zwei Schildkröten (Mann und Frau) täuschen in einer Springprobe den Elefanten: siehe oben Nr. 3.


25b. Aus Loango.


Die Krabbe ist über die Maßen hoffärtig und prahlerisch gewesen. Einst verhöhnte sie die Schildkröte ob ihrer Bedächtigkeit und Langsamkeit. Die schlug[67] einen Wettlauf vor. Sie schickte aber heimlich ihre Frau voraus, sich am Bahnende aufzustellen. Die Krabbe rannte geschwind zum Ziele, prallte aber dort so heftig gegen die Schildkrötenfrau, daß sie sich den Kopf eintrieb. Seitdem läuft sie ohne Kopf umher, auch nie mehr geradeaus, sondern ängstlich seitwärts und im Zickzack.


  • Literatur: E. Pechuël-Loesche, Volkskunde von Loango. Stuttgart 1907, S. 106.
Quelle:
Dähnhardt-Natursagen-4, S. 67-68.
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