X. Das Beißen der Baumwurzel.

[245] Eine nur aus mündlicher Tradition bekannte Sage oder richtiger gesagt schwankhafte Episode, denn sie scheint ihrer Komposition nach lediglich als Fortsetzung einer andern Szene gedacht zu sein, behandelt das Motiv vom ›Beißen in die Baumwurzel‹1.


Die Situation ist folgende2: Der Bär verfolgt den Fuchs [meist geht die Szene: »der Geschlagene trägt den Ungeschlagenen« voraus3], der in die Höhlung unter einer Baumwurzel schlüpft, und packt ihn mit den Zähnen an einem Hinterbein. Der Fuchs sagt im spöttischen Tone: »Beiße, beiße nur in die Baumwurzel!« Der Bär läßt das Bein fahren und packt die Baumwurzel, der Fuchs entweicht, oder nach anderen Fassungen sagt er: »Beiße mich nicht ins Bein!« Der Bär hält die Wurzel fest, bis er dessen überdrüssig wird, seines Weges zieht und den Fuchs sich selbst überläßt.


Die List, um die es sich hier handelt, steht ihrer Idee nach nicht ganz vereinzelt da, denn ähnliche Situationen in anderen Tiermärchen haben Anlaß zur Entstehung ähnlicher Proben von Schlauheit gegeben. In einem estnischen Märchen trägt z.B. der Wolf den angeblich toten Fuchs auf eine Anhöhe und schnuppert dann, einem Rate des Fuchses folgend, nach dem Winde, um zu wissen, an welchem Ende er anfangen müsse den Fuchs zu fressen; unterdessen macht sich dieser auf und davon.4

Auch das schnelle Hersagen von Baumnamen5 ist gelegentlich eines der Halslösungsmittel, derer sich der Fuchs dem Wolf gegenüber bedient.6[245]

Die Handlung in unserer kleinen Geschichte ist einer Naturdeutung nicht günstig, denn ihr fehlt ein geeignetes Moment, an das sich ein ätiologischer Schluß klammern konnte. Wenn wir dennoch in einer finnischen Variante der Andeutung einer Ätiologie begegnen, so werden wir nicht überrascht sein, eine ganz allgemeine Feindschaftsbegründung zu finden.


Es war damals zu den Zeiten, als noch alle Geschöpfe redeten und arbeiteten, da betrog der Fuchs die andern Tiere des Waldes auf alle erdenkliche Weise. Einmal gingen der Bär, der Hase, der Fuchs und die Katze hinaus zum Beerensammeln. Der Bär machte sich ein Körbchen aus Birkenrinde, und fing an es mit Beeren zu füllen. Doch die andern, der Hase, der Fuchs und die Katze fraßen ihre Beeren beim Pflücken auf. Dann, als sie nach Hause kamen, stellte der Bär seinen Korb auf die Diele und sagte: »Wer von diesen Beeren im Korbe frißt, den will ich selber fressen.« Sobald der Bär in irgendwelchen Geschäften hinausgegangen war, fraß der Fuchs die Beeren des Bären aus dem Korbe, und als er fertig war, strich er mit seiner Zunge über das Maul des Hasen. Der Bär kam heim und sah, daß seine Beeren aus dem Korbe fort waren, und fragte: »Wer hat die Beeren aus dem Korbe gefressen?« Der Fuchs sagte: »Der Hase hat's getan, denn sein Maul ist jetzt noch voll Beeren.« Da ging der Bär sofort hin und fraß den Hasen ganz und gar auf. Dann machte er sich zum zweiten Male auf und pflückte seinen Korb voll Beeren. Dann stellte er ihn nach der Heimkehr mit denselben Worten auf die Diele, ging hinaus und sagte: er werde nun sehen, ob ihm jemand die Beeren jetzt noch wegfressen werde. Der Fuchs aber schlich sich hin und fraß die Beeren aus dem Korbe, und strich mit der Zunge den Beerensaft über das Maul der Katze. Der Bär trat herein und sah, daß seine Beeren im Korbe wieder gefressen sind. Er fragte: »Wer hat denn jetzt meine Beeren aus diesem Korbe gefressen?« Der Fuchs sagte: »Das hat wohl die Katze getan, man sieht auch den Beerensaft an ihrem Maule.« Der Bär warf sich auf die Katze und fraß sie gerade so, wie den Hasen. Dann gingen sie zu zweit in den Wald und der Bär füllte wieder seinen Korb mit Beeren. Dann stellte er wieder den Korb an die frühere Stelle und ging hinaus. Der Fuchs fing an zu sinnen, wie er es jetzt wohl anstellen solle. Aber da fiel ihm ein Ausweg ein: er schraubte einen kleinen Holzspahn durch die Wand, und ging dann hin und fraß die Beeren aus dem Korbe. Und grad wie er damit fertig war, trat der Bär hinein, und als er sah, daß seine Beeren gefressen waren, wollte er sich auf den Fuchs werfen. Aber der Fuchs wartete wahrscheinlich nicht darauf, sondern wollte durch das Loch in der Wand entschlüpfen. Er war noch nicht draußen, da hatte ihn der Bär am Schienbein gepackt und biß darauf. Doch der Fuchs schreit: »Woi, du armer Bär, der du mein Bein nicht zu packen weißt; was findest du denn an diesem Holzstück zu beißen.« Der Bär ließ das Bein des Fuchses los, und biß sich an dem Holzstück fest. Der Fuchs entkam aus den Krallen des Bären, und fing an zu schreien und zu spotten: »Woi, du armer Bär, der du so verrückt warst und mein Bein losließest, und ein Holzstück zwischen die Zähne nahmst.« Wohl eilte der Bär dem Fuchs nach, aber er erwischte ihn nicht. Seit der Zeit hat es der Bär dem Fuchs noch nicht verziehen, daß er ihn so betrogen hat.


  • Literatur: Freundlichst mitgeteilt von Prof. K. Krohn. Zur Vermengung mit dem Thema »Halbaus-Ganzaus« vgl. oben S. 241.

Fußnoten

1 Krohn S. 62 ff. 122 f. Vgl. ferner Poestion, Lappl. Märchen S. 9. 1, 7. Schreck, Finn. Märchen S. 210. Jahn, Volkssagen Nr. 558. The Orientalist 1, 234 Anm. 3. Natursagen Bd. 3, 211, oben S. 22 Nr. 2. Arnaudin, Contes pop. de la Grande Lande p. 133. Indian Antiquary III, 10. Blätter f. pomm. Volksk. 9, 36.


2 Vgl. die Urform bei Krohn S. 62.


3 Vgl. Krohn S. 64.


4 Kallas, Achtzig Märchen Nr. 73, 2, vgl. Krohn S. 122.


5 Krohn S. 65.


6 Vgl. auch Warnke, Die Qellen etc. S. 206 zu Marie fab. 60.


Quelle:
Dähnhardt-Natursagen-4, S. 246.
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