4.

[10] Es war einmal ein Holzhauer, der dachte: »Ich will aufs Feld gehen, damit ich irgend einen Baum finde, den ich zerhauen kann und dessen Holz ich heim bringe.« Er ging also aufs Feld, fand einen Baum und hieb davon ab, nahm das Brennholz mit sich, um es zu verkaufen und seinen Kindern dafür Essen zu holen. So ging er fünf Tage lang; jeden Tag holte er im Werte von acht Groschen, bis nichts mehr von dem Baum da war und nur noch die Wurzeln übrig waren. Da dachte er: »Ich will noch einmal hingehen und die Wurzeln des Baumes holen.« Als er nun damit beschäftigt war, die Wurzeln auszureissen, da öffnete sich plötzlich die Erde, und es erschien unter dem Boden eine Höhle an der Stelle, wo der Baum gewesen war. Er ging in die Höhle hinein und fand in ihr zwei Töpfe mit Goldstücken; da dachte er: »Wie soll ich sie nur aufladen? Ich will hingehen und meinen Nachbar rufen.« Der Nachbar war sehr reich, während er arm war. Er ging also zu seinem Nachbar und sagte: »Lieber Nachbar, da ist im Feld ein Baum, zu dem ging ich, um Brennholz von ihm abzuschlagen; vier, fünf Tage holte ich Brennholz von ihm, bis schließlich nur noch seine Wurzeln übrig waren; nun ging ich gestern, um auch diese zu holen, und ich riß sie aus, bis daß nur noch eine einzige Wurzel blieb. Während ich nun damit beschäftigt war, auch diese auszureißen, öffnete sich die Erde und es erschien eine Höhle unter dem Boden. Ich stieg in dieselbe hinab und fand zwei Töpfe mit Goldstücken.« So erzählte der Holzhauer seinem Nachbar. Dann fuhr er fort: »Nun bin ich gekommen, um dich zu rufen, Nachbar, wir wollen sie gemeinschaftlich holen.« »Ja,« sagte[10] dieser, »komm und zeige sie mir.« Sie gingen also hin, damit er sie ihm zeige. Als er ihm die Höhle gezeigt hatte und er die Töpfe mit den Goldstücken gesehen hatte, sagte er: »Geh und hole etwas1, worin wir sie fortschaffen.« Da holte er einen Doppelsack, und sie schafften das Gold fort; vier Tage brauchten sie dazu. Darauf sagte der Holzhauer: »Komm, laß es uns teilen, Nachbar.« Jener erwiderte: »Komm, wir wollen auch die Töpfe holen gehen, und wenn wir dann zurückkommen, so wollen wir sie teilen.« Jener war damit einverstanden, und sie gingen zusammen zu der Höhle, um auch die Töpfe zu holen. Der Holzhauer ging zuerst hinein und lud einen Topf auf. Als er aber durch den Eingang der Höhle wieder hinausgehen wollte, sagte der Nachbar: »Wohin gehst du?« »Wir wollen doch die Töpfe und das Gold teilen gehen,« antwortete er. »So willst du schon von hier weggehen?« »Ja freilich, Nachbar.« Da erklärte jener: »Ich werde dich hier töten.« »Ich bitte dich,« versetzte der Nachbar, »ich habe das Gold gefunden und habe dich gerufen, um es mit dir zu teilen, und jetzt willst du mich töten? Nimm das Gold alles, ich will nichts davon, und du brauchst mir keinen Teil davon zu geben; nur töte mich nicht, ich bin ein verheirateter Mann, ein Familienvater, und habe kleine Kinder. Woher sollen sie zu essen bekommen, wenn du mich tötest? Jeden Tag hole ich für sieben Groschen Brennholz, um ihnen Nahrung zu verschaffen; du willst mich töten, woher sollen sie dann zu essen bekommen?« »Ich werde ihnen zu Essen geben,« erwiderte er. »So beschwöre ich dich bei deinem Halse, meine Frau ist guter Hoffnung, und den Sohn, welchen sie bekommt, sollt ihr den Sohn des Gekränkten nennen.« Darauf warf jener den Holzhauer zu Boden und schnitt ihm den Hals ab; dann ging er nach Haus. Da kamen die Kinder jenes zu ihm und fragten ihn: »Du bist mit unserm Vater ins Feld gegangen, Nachbar; wo ist unser Vater?« Er sagte, indem er sich an den ältesten Sohn wandte: »Dein Vater ging, um Brennholz zu holen, da wurde er im Felde krank und starb und hat mir euch anempfohlen, ich möchte für euch sorgen.« »Ja,« antwortete der älteste Sohn, »so führe mich dahin, wo du ihn begraben hast.« Er aber versetzte: »Es ist ein entfernter Ort, und was willst du dich noch quälen, dorthin zu gehen? Er ist tot, und ich habe ihn begraben; Gott sei ihm gnädig.«

Als jener den Holzhauer töten wollte, hatte dieser gesagt: »O Gott, ich habe ihm nichts Böses getan; aber du, Gott, bist groß, du2 mögest es wissen lassen den kleinen Gott3

Darauf nach einiger Zeit gebar die Frau des Holzhauers einen Sohn; da kam der Nachbar zu ihr und sagte: »Nachbarin, als mein Nachbar auf dem Felde starb, da hat er mich bei meinem Halse beschworen, daß, wenn du gebierst und einen Sohn bekommst, wir ihn den Sohn des Gekränkten nennen sollen.«[11]

Nach einem Jahre überlegte der Mörder: »Ich bin bis jetzt noch nicht zu der Höhle gegangen, in welcher ich meinen Nachbar getötet habe; ich will sehen, was aus ihm geworden ist.« Als er zu der Höhle kam, in der er seinen Nachbar ermordet hatte, fand er einen Rebstock und an ihm eine Weintraube. Die Trauben waren eine Augenweide, es gab nicht ihresgleichen. Da dachte er: »Ich will diese Trauben dem Sultan bringen, daß er sich daran erfreue.« Er nahm ein weißes Tuch, brach die Traube ab und band sie in das Tuch; dann trug er sie zum Sultan und gab sie ihm und kehrte nach Hause zurück. Als sich die Leute4 zerstreut hatten, nahm der Sultan das Tuch und band es auf; da fand er den Kopf eines Menschen darin. Alsbald ließ er den Mann holen und sagte: »Weh mir5, was bringst du mir in dem Tuch?« »Herr,« erwiderte er, »Gott verlängere dein Leben, ich brachte dir Trauben.« »Woher brachtest du die Trauben?« »Es ist da eine Stelle, dahin bin ich gegangen und fand die Trauben und brachte sie dir.« Der Sultan versetzte: »Was mag das für eine Stelle sein, zu der du gegangen bist? Es ist Winter, gibt es jetzt in den Weingärten Trauben? Es gibt keine; woher hast du nun diese Trauben, daß du sie mir bringen konntest?« »Herr,« erwiderte er, »sie stehen an einem geschützten Ort.« »Was ist denn ihr Ort? ein Haus?« »Nein, eine Höhle,« versetzte er. Da holte ihm der Sultan das Tuch und sagte: »Ist das eine Traube oder ist das der Kopf eines Mannes?« »Herr, der Kopf eines Mannes.« »Wie kommt es denn, daß du mir den Kopf eines Mannes bringst?« Er versetzte: »Herr, es war eine Traube.« Aber der Sultan sagte: »Du sollst mir die Sache von Anfang an erzählen, du Verfluchter, sonst lasse ich dir den Kopf abschlagen. Erzähle mir von Anfang an, wie sich die Sache verhält.« »Es ist aber nichts, Herr!« »Wenn nicht etwas wäre,« versetzte der Sultan, »wie ginge es denn zu, daß bei dir Trauben erschienen sind und bei mir der Kopf eines Mannes? Du sollst mir deine Sache erzählen, wie sie sich verhält. Die Menschen kannst du belügen, aber den Sultan, kannst du den auch belügen? Jetzt sollst du da sitzen und mir von dem Kopf des Mannes erzählen, wie es sich damit verhält. Wenn du nicht etwas verbrochen hättest, so würde Gott dich nicht hierher geworfen haben, du Verfluchter; über dich haben nicht die Menschen Zeugnis abgelegt, Gott hat von dir Kunde gegeben. Jedoch erzähle mir die Sache, wie sie sich verhält.« Da bat er: »So gewähre mir Gnade, Herr!« »Ich gewähre sie dir,« sagte der Sultan, »erzähle!« Da erzählte er: »Ich hatte einen Nachbar, einen Holzhauer, der kam zu mir und sagte mir, er sei im Feld gewesen und habe von einem Baum Holz gehauen, bis von diesem nichts mehr übrig war, als die Wurzel, und wie er diese habe ausreißen wollen, da habe sich unter ihr eine Höhle gezeigt und in dieser habe er zwei[12] Töpfe Gold gefunden. Darauf bat er mich, ich möchte mit ihm gehen, um dasselbe zu holen. Wir gingen also zusammen hin, es zu holen, und brachten das Gold in mein Haus. Darauf sagte er: ›Wir wollen teilen, Nachbar.‹ Ich aber erwiderte: ›Laß uns erst die Töpfe holen.‹ Ich ging also wieder mit ihm hin, um die Töpfe zu holen; als ich dort hingekommen war, verführte mich der Teufel, und ich ermordete meinen Nachbar.« So erzählte der Mann dem Sultan; dieser fragte ihn: »Als du ihn ermordetest, was hat er da gesagt?« Er hat gesagt: »Meine Frau ist guter Hoffnung, und ich beschwöre dich bei deinem Halse, daß du den Sohn, den sie bekommt, den Sohn des Gekränkten nennen sollst.« »Und hat er außer diesem Worte nichts weiter gesagt?« fragte der Sultan. »Er hat noch ein zweites Wort gesprochen,« versetzte er. »Was hat er denn gesagt?« »Er hat gesagt: ›Gott, du, Gott, bist groß, du mögest es wissen lassen den kleinen Gott.‹« Da sagte der Sultan:6 »Gott, an dessen Namen wir geglaubt haben7, hat an dem Orte, an welchem dieser Mann getötet worden ist, einen Rebstock hervorsprossen lassen und es sind Weintrauben daran gewachsen, und er bringt sie zum Sultan, damit er es erfährt. Beim Sultan sind sie der Kopf des Mannes.« Darauf ließ der Sultan den Scharfrichter holen und jenem Mann, der seinen Nachbar getötet hatte, den Kopf abschlagen. Dann schickte er Reiter und befahl ihnen, das Gold und alle Gegenstände, welche im Hause jenes Mannes waren, zu holen und sie den Kindern, deren Vater jener getötet hatte, zu geben. Da holten jene das Gold und alle Gegenstände, welche im Hause desjenigen waren, welcher seinen Nachbar ermordet hatte, und gaben es den Söhnen des Ermordeten. Jeden seiner Söhne aber nannten die Leute den Sohn des Gekränkten. Und die Geschichte ist zu Ende.

1

wörtlich: Gefäß, Gerät.

2

[der große Gott,].

3

d.h. den Sultan.

4

welche beim Sultan waren.

5

[dir].

6

[Zusatz des Übersetzers; das Folgende ist in Wirklichkeit nicht Rede, sondern Bemerkung der Erzählerin.]

7

[glauben].

Quelle:
Bergsträsser, G[otthelf] (Hg.): Neuaramäische Märchen und andere Texte aus Malula. Leipzig: F.A. Brockhaus, 1915, S. 10-13.
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