XV
Wie die Ṭiâri die Sonne suchten und fanden.

[129] Im Gebiete von Ṭiâri fällt immer Schnee, auch im Herbst und auch im Frühling, [überhaupt] zu allen Jahreszeiten, besonders aber im Winter. Eines Tages kam Gewitter und Wind und Wolken und Regen, dass die Leute einander nicht sehen konnten. Da sprachen die Leute von Ṭiâri zu einander: »Was sollen wir nur anfangen? die Sonne ist verunglückt.« – Sie sahen, dass Nebel da war und kein Sonnenschein, da dachten sie, die Sonne wäre verunglückt. – Dann sagten sie: »Gehen wir die Sonne suchen; sie ist verunglückt!« Sie zogen nun ins Gebirge, um die Sonne zu suchen, vielleicht würden sie sie finden, auf dass sich wieder Sonnenschein bei ihnen einfände. Und sie begannen zu suchen in den Bergpässen und Flussthälern und[129] Schluchten (?) und gingen auch in einen tiefen Wald hinein. Da sahen sie eine Hohle. Sie gingen an die Mündung derselben heran und erblickten da einen Löwen. »Das ist die Sonne!« riefen sie aus, »da hat sie sich versteckt.«1 Dann riefen sie dem Löwen zu: »Komm heraus! komm hierher! versteck dich nicht da!« Der Löwe aber begann sie anzubrüllen, sprang auf sie los, packte einen von ihnen am Kopf, riss diesen ab und lief davon.

Sie wandten sich dann hin und erblickten ihren Gefährten ohne Kopf. Da riefen sie seiner Frau zu: »Frauchen! dein Mann hat seinen Kopf nicht bei sich, vielleicht hat er ihn zu Hause gelassen.« »Ich will gehen und nachsehen«, sagte sie. Sie ging dann hin, suchte im Hause herum und fand da ein Häufchen zusammengefegter Haarsträhne. Da kam sie und rief: »Meine Lieben! kommt! ich habe seinen Kopf gesehen, er ist zu Hause.« Nun sagten sie zu dem Manne, dessen Kopf abgerissen war: »Auf! wir wollen gehen, nimm deinen Kopf, schnell aufgestanden!« Er antwortete jedoch nicht. Da riefen sie wieder: »Auf, junger Mann, warum antwortest du nicht?« Dann meinten sie: »Wecket ihn, liebe Leute, er ist eingeschlafen.« Als sie jedoch sahen, dass er auf das Rufen und Schreien nicht hörte, sagte einer von ihnen: »Wohlan, lasset von ihm ab, wenn er kommen will, wird er schon von selbst kommen.« Sie liessen ihn nun da und gingen nach Hause.2

Der Löwe kehrte nachher zu seinem Lager zurück, und als er den Mann da tot liegen sah, ging er heran und verzehrte ihn ganz.[130]

Das ist von dem Verstande der Leute von Ṭiâri erzählt worden, wie stumpf er ist und nichts durchschneiden kann.

1

Es ist vielleicht nicht ganz zufällig, wenn die Ṭiâri als Nachbarn des persischen Reiches die Sonne mit einem Löwen in Zusammenhang bringen.

2

Auch die Schildbürger lassen bei ihrem Versuche, den durstigen Nussbaum zu tränken, bei dem einer von ihnen um den Kopf kommt, in dessen Hause anfragen, ob er denn mit dem Kopfe ausgegangen sei.

Quelle:
Lidzbarski, Mark (Hg.): Geschichten und Lieder aus den neuaramäischen Handschriften. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1896, S. 129-131.
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