II
14. Die Gesellschaft der Schweigenden.

[142] In der Stadt Hamadân1 gab es eine berühmte Gesellschaft Gelehrter. Ihr erster Statutenparagraph lautete so: »Die Gelehrten dieser Gesellschaft denken viel und sprechen wenig.« Man nannte sie die Gesellschaft der Schweigenden, und viele hervorragende Gelehrte hatten sich in sie aufnehmen lassen.

Eines Tages kam Doktor Zâb und wollte bei ihr eintreten. Da ersuchte er den Pförtner, zum Vorsitzenden zu gehen und ihm ein Billet zu überreichen, auf dem folgendes geschrieben stand: »Doktor Zâb bittet bescheiden um einen Platz.« Der Pförtner besorgte das sofort, aber es war kein[142] Platz frei. Die Gesellschaft ärgerte sich sehr darüber und bedauerte es, dass sie den Doktor Zâb, der wegen seines Verstandes berühmt war, zurückweisen musste. Der Vorsitzende dachte über die Sache nach,2 und dann füllte er eine grosse Tasse bis an den Rand mit Wasser, dass sie auch nicht einen Tropfen mehr fassen konnte. Dann liess er den Doktor eintreten. Als er eintrat, sah er ihn mit trauriger Miene an und zeigte ihm die als Symbol dienende Tasse, ohne ein Wort zu sprechen. Doktor Zâb begriff, dass in der Gesellschaft kein Platz mehr für ihn sei, aber er gab die Sache noch nicht auf. Er bat vielmehr um ein Stückchen Papier, und das nahm er und legte es auf den Spiegel des Wassers in der Tasse, ohne davon auch nur einen Tropfen zu verschütten. Als sie das sahen, klatschten sie in die Hände über diese bewundernswerte Antwort und nahmen Doktor Zâb auf. Sie gaben ihm dann das Gesellschaftsbuch, in dem ihre Namen eingetragen standen, damit auch er seinen Namen in dasselbe eintrage. Er trug nun seinen Namen ein, indem er Schweigen beobachtete, und dankte ihnen auch, ohne zu sprechen. Dann schrieb er an den Rand des Buches die Zahl l••3 – das war die Zahl [der Mitglieder] der Gesellschaft – und setzte einen Punkt hin an Stelle einer Ziffer, so kam heraus •l••, worauf er hinschrieb: »Sie sind nicht mehr und nicht weniger.« Da antwortete ihm der Vorsitzende freundlich, indem er einen Punkt auf den Punkt [, der an Stelle] der Ziffer [stand,] setzte, so (l••): ll••, und schrieb hin: »Gewiss sind sie jetzt mehr und zwar um zehnmal so viel als früher.«4


[143] 15. Seefahrer erleiden Schiffbruch. Ein Teil von ihnen erreicht eine Insel, von denen einige da bleiben, während andere von den Schiffstrümmern ein Fahrzeug verfertigen und die Reise fortsetzen. Das Fahrzeug kann sie aber nicht alle tragen, und sie werfen das Loos, wen sie ins Meer werfen sollen. Dasselbe fällt auf einen Soldaten. Sein jüngerer Bruder bittet jedoch, lieber ihn ins Meer zu werfen, und das geschieht. Er folgt ihnen aber schwimmend, und sie versuchen vergebens ihn fernzuhalten. Schliesslich haben sie doch Mitleid mit ihm und nehmen ihn wieder auf. So rettet er seinem Bruder und sich selbst das Leben.

1

Es dürfte wohl eher Hamadân gemeint sein.

2

JER. übersetzt êrê, mit »er sah« (= syr. âr), das, wenn es richtig ist, nur so aufgefasst werden kann, wie in der Übersetzung; ich möchte aber eher êrê, = arab. ḥâra setzen, trotzdem dass arab. im Neuaramäischen gewöhnlich h ist.

3

= 100. In den arabischen Zahlen ist ein Punkt gleich unserer 0.

4

Statt 0100 kam also 1100 heraus, d.h. 100 + 10 × 100. Die Darstellung im Original ist nicht sehr klar.

Quelle:
Lidzbarski, Mark (Hg.): Geschichten und Lieder aus den neuaramäischen Handschriften. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1896, S. 142-144.
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