XII
Das Schädelkind.1

[217] Ueber die Schädelkinder vgl. BENFEY, KlSchr. III p. 75 und LIEBRECHT, GGA 1872 p. 1512 ff. Die Geschichte hat auch einige Verwandtschaft mit den Däumlingsmärchen.


Es war einmal ein Bruder, der hatte eine Schwester, die lebten in günstigen Verhältnissen. Da sagte er einmal zu seiner Schwester: »Gieb du auf das Haus acht, ich will eine Pilgerfahrt unternehmen.« Er besorgte dann seine Geschäfte und machte sich auf den Weg. Ein Jahr und zwei und drei – eines Tages, als er seines Weges zog, sah er einen vertrockneten Menschenschädel auf dem Wege liegen. Er blieb stehen und dachte über ihn nach, dabei schlug er mit seinem Stocke auf ihn, und der Schädel zerbrach. Da kam aus ihm eine Muschel heraus, aber er liess sie liegen und setzte seinen Weg fort. Doch die Muschel begann zu gehen und ihm nachzurufen: »Menschenkind! nimm mich mit, du wirst meiner noch bedürfen.« Er wandte sich um, und siehe, die Muschel war es, die ihm nachrief. Da bückte er sich, hob sie auf, legte sie in seine Busentasche und ging weiter.

Er wanderte eine Zeitlang in der Welt umher, dann kehrte er nach Hause zurück. Da sprach seine Schwester:[217] »Ziehe deine Kleider aus, mein Bruder, ich will gehen und sie waschen.« Er zog die Kleider aus, und seine Schwester nahm sie, um sie zu waschen. Da dachte sie sich: »Mein Bruder ist lange in der Welt gereist, ich will doch nachsehen, ob er nicht etwas in seine Busentasche gelegt und es dann vergessen hat.« Sie steckte ihre Hand in die Tasche und fand eine Muschel. Da sprach sie: »Wenn ich sie wo hinlege, vergesse ich sie vielleicht noch. Vielleicht liegt aber meinem Bruder an ihr.« Dann nahm sie sie und legte sie in den Mund, und dann setzte sie sich hin, um zu waschen. Doch bald schmolz die Muschel in ihrem Munde, und sie schluckte sie hinunter. Als sie dann mit der Wäsche fertig war, ging sie wieder in die Wohnung hinauf, sagte aber ihrem Bruder nichts, denn sie dachte nicht mehr daran.

Es verging ein Monat und zwei und drei und sechs, da entdeckte die Frau, dass sie schwanger war. Die Leute verbreiteten auch das Gerücht, und man sprach: »So lange der Bruder des Mädchens nicht hier war, sahen wir nicht, dass ihr Fuss einen Fehltritt that; jetzt, wo ihr Bruder heimgekommen ist, ist sie schwanger; sie ist also nur von ihrem Bruder schwanger.« Auch ihr Bruder hörte das Gerücht, und er wollte seine Schwester töten. Er trat ins Haus und zog den Dolch, um sie zu töten. Doch die Frau rief: »Um Gottes- und deinetwillen, Bruder! warte doch, ich will es dir erzählen.« »Sprich!« rief er, »wie ging das zu?« »Mein Lieber«, sagte sie, »dir mag es verborgen sein, aber Gott kann es nicht verborgen sein. An dem Tage, als du von der Reise zurückkamst, als ich hinging, deine Kleider zu waschen, sagte ich mir: ›Ich will einmal in der Tasche meines Bruders suchen, ob er nicht etwas hineingelegt und es dann vergessen hat.‹ Als ich nun die Hand in deine Tasche steckte, fand ich eine Muschel. Ich dachte mir: ›Vielleicht liegt ihm etwas an ihr, daher will ich sie nicht wo hinlegen, denn vielleicht vergesse ich sie‹. Ich legte sie daher in den Mund; aber sie schmolz bald in meinem Munde, und ich schluckte[218] sie hinunter. Von ihr bin ich nun schwanger. Jetzt, wenn du willst, töte mich, wenn du willst, lass mich am Leben.«

Als der Bruder das vernahm, liess er sie am Leben und tötete sie nicht. Als dann die neun Monate verflossen waren, gebar sie einen Sohn durch den Mund. Ihr Bruder war gerade pflügen gegangen, und da sagte sie: »Was soll ich thun? Ich kann meinem Bruder das Mittagbrod nicht hintragen und weiss auch nicht, wer es ihm hintragen soll.« Da erhob sich das Kind und sprach: »Mütterchen, ich will meinem Onkel das Mittagbrod bringen.« »Schweig!« sagte sie zu ihm, »du bist ja kaum zur Erde gefallen, wie solltest du deinem Onkel das Mittagbrod hintragen können! Und woher weisst du, wo er pflügt.« »Doch«, sagte es, »ich kann das Mittagessen hintragen und weiss auch, wo er pflügt.« Da nahm es einen Beutel, hängte sich ihn um den Hals, seine Mutter legte das Mittagbrod für ihren Bruder hinein, und es ging weg, indem es den Beutel hinter sich nachschleifte, bis es zu seinem Onkel kam. »Guten Tag(?), Onkelchen«, rief es. Dieser blickt nach dieser Seite, nach jener Seite – er sieht aber niemanden. Da sagt er: »Woher kommt das, und woher habe ich einen Neffen?« Das Kind zog dann den Beutel, bis es zu seinem Onkel kam, und als dieser dann hinblickte, siehe, da kommt etwas wie eine Ratte heran, und ein Beutel hängt ihm um den Hals. »Du, wer bist da?« fragt er es. »Ich bin dein Neffe«, antwortet es. – »Wann bist du denn geboren, du?« – »Eben jetzt bin ich zur Welt gekommen.« – Da nahm er ihm den Beutel ab und setzte es unter den Sattel. Hier blieb es eine Weile, und dann rief es: »Onkelchen!« – »Was giebt's?« – »Jetzt wird Ali Agha hier vorbeikommen; wenn er vorbeikommt, rufe nach ihm, ich habe eine Sache mit ihm abzumachen.« »Ich kenne Ali Agha nicht«, antwortete der Onkel. »Er wird jetzt vorbeikommen«, sagte das Kind; »er reitet auf einem bläulichen Maultiere und trägt einen Mantel aus Stoff von Ğezira und eine karmesinrote Hose an den Beinen.« Nach[219] einer Weile kam auch Ali Agha, und da rief das Kind: »Ali Agha! Ali Agha! komm hierher, ich habe etwas mit dir zu thun.« Ali Agha, der dachte, dass der Pflüger ihn rufe, wandte sich um, kam an ihn heran und fragte ihn: »Was willst du?« »Nicht ich habe dich gerufen«, antwortete er, »das Kind, das unter dem Sattel sitzt, hat dich gerufen.« Ali Agha ging dann an das Kind heran und fragte: »Was willst du?« »Komm her, steig ab und setze dich hier hin, ich habe dir etwas zu sagen«, antwortete es. »Dann sprich!« sagte der Agha. »Du hast einen Traum gesehen«, begann es, »und das hast du gesehen: die Sonne ging in einem Winkel deines Hauses auf. Jetzt nun gehst du zum Kadi von Märdîn, damit er dir den Traum deute. Aber sollte er dich fragen, in welchem Winkel deines Hauses die Sonne aufgegangen sei, so sage ihm: ›Du musst es wissen‹, und wenn du es ihm sagst, dann wird ein mit Goldstücken gefüllter Kessel ihm zufallen. Wahre also dein Interesse«

Als Ali Agha das Kind so kundig sah – er hatte vierhundert Tscherchis und eine Ladung Früchte mit sich, die er dem Kadi von Märdîn bringen wollte – da nahm er zweihundert Tscherchis und gab sie dem Kinde und dazu noch die Hälfte der Ladung Früchte. Dann ritt er nach Märdîn.

Hernach rief das Kind seinen Onkel und sprach: »Komm her.« Als sein Onkel kam, gab es ihm die zweihundert Tscherchis und die halbe Ladung Früchte. »Nimm, Onkelchen«, sagte es, »und iss; so lange mir wohl ist, soll dir auch kein Leid zustossen.« Als sein Onkel das sah, gewann er das Kind sehr lieb. Jeden Tag legte er es in einen Beutel, hängte ihn an den Sattelknopf an seinem Esel und führte es mit sich aufs Feld. Es vergingen darüber ungefähr fünf, sechs Tage, und Ali Agha kehrte nach Hause zurück. Da sagte das Kind zu seinem Onkel: »Onkelchen!« – »Jawohl.« – »Jetzt wird der Kadi von Märdîn kommen und[220] mich dir abkaufen wollen. Sieh zu, dass du mich nicht billig weggiebst; verlange einen hohen Preis für mich und zwar verlange dies. Sprich: ›Wenn du mir den Maulesel samt seinem Geschirr giebst, auf dem du während der Feier der Wallfahrt reitest, dann gebe ich es dir; wo nicht, gebe ich es dir nicht.‹« Noch sprachen sie, als der Kadi von Märdîn kam. Da rief das Kind ihm zu: »Komm hierher! komm hierher!« und der Kadi kam mit seinem Gefolge zum Pflüger. Als sie abstiegen, lief das Kind schnell zu seiner Mutter und rief ihr zu: »Steh schnell auf und richte einen Platz her, wir haben Gäste!« Die Mutter erhob sich schnell, schnell, breitete an einem Ort Polster aus und brachte Speisen und Getränke herbei, bevor noch ihr Bruder und der Kadi kamen. Dann setzte die Gesellschaft sich hin und ass und trank. Als sie gegessen und getrunken hatten, sagte der Kadi: »Nun, weisst du, weswegen ich gekommen bin?« »Rede, Effendim!« sagte der Bauer. Der sprach: »Ich habe gehört, dass du einen Schwestersohn hast, ich wünsche, dass du mir ihn verkaufest. Sieh zu, was er kosten soll?« »Wenn du mir den Maulesel samt seinem Geschirr giebst«, erwiderte der Mann, »auf dem du während des Wallfahrtsfestes reitest, so will ich ihn dir geben.«

Als er dies gesagt hatte, erkannte der Kadi, dass der Mann von dem Kinde belehrt worden sei, und sprach: »Deine Lehrer gaben dir keine [gute] Lehre, und die dich im Lesen unterrichten, gaben dir nichts [Gutes] zu lesen.«2 Dann sagte er zu einem seiner Diener: »Geh, bringe jenes Maultier samt seinem Geschirr hierher.« Der Diener ging und brachte das Maultier, und der Kadi gab es dem Manne. Dann nahmen sie das Kind, legten es in einen Beutel und entfernten sich.

Als sie in Märdîn ankamen, nahm der Kadi das Kind, gab es seiner Tochter und sagte zu ihr: »Geh, schlachte es,[221] nimm ihm das Herz heraus, koche eine Schüssel Reis, lege das Herz auf die Schüssel und bring' es her, damit ich es esse.« Die Tochter nahm das Kind und wollte sich daran machen, es zu schlachten. Da sagte es aber zu ihr: »Schlachte mich nicht, du wirst meiner noch bedürfen.« »Dann wird mein Vater mich töten«, sagte sie. Da sagte es: »Höre auf mich, ich will dir etwas sagen: Nimm ein junges Hündchen und schlachte es an meiner Statt. Dann nimm ihm das Herz heraus, lege es auf die Schüssel und bringe sie deinem Vater. Das Herz des Hundes und das Herz des Menschen sind einerlei.« Als die Tochter sah, dass der Junge so klein und so süss war und alles wusste, that sie, wie er ihr gesagt: sie verschaffte sich ein junges Hündchen, schlachtete es, nahm ihm das Herz heraus, kochte eine Schüssel Reis, legte das Hundeherz auf die Schüssel und brachte sie ihrem Vater; das Kind hingegen verbarg sie. Als dann ihr Vater das Herz ass, vergass er auch das, was er gewusst hatte.3

Eines Tages sah der Gouverneur von Märdîn einen Traum. In seinem Traume sah er, dass ein schwarzer Hund von seinem Tische ass, und tagtäglich erschien ihm dieser Traum. Das drückte ihn sehr, und er schickte nach dem Kadi, dass er ihm diesen Traum deute. Da sagte der Kadi: »Ich weiss nichts mehr.« Aber der Pascha sagte zu ihm: »Entweder du deutest den Traum, oder ich töte dich.« Der Kadi liess sich dann eine Frist von drei Tagen geben und kam sehr traurig nach Hause. Seine Tochter brachte ihm das Abendessen, aber er wollte es nicht essen. »Warum bist du traurig, und warum isst du nicht?« fragte ihn die Tochter. »Meine Lage und Geschichte ist die«, antwortete er. »O dass du doch, Tochter, nicht das Kind geschlachtet hättest![222] Mochte darum jetzt eine Schuld von tausend Lire auf mir lasten.« Als die Tochter sah, dass der Vater sich in einer grossen Verlegenheit befand, sprach sie: »Wenn ich jetzt das Kind bringe, was giebst du mir da?« »Sage, was du willst«, rief er aus, »und ich will es dir geben, denn du erkaufst dadurch mein Leben.« Da ging sie, holte das Kind und gab es ihrem Vater. »Weisst du, was ich von dir will?« fragte er es. »Sprich!« antwortete es. Er sagte: »Der Pascha hat einen Traum gesehen, und ich will, dass du mir seine Deutung sagst; sonst lässt er mich töten.« »Und wenn ich sie dir auch sage«, erwiderte es, »bis du dort hinkommst, vergisst du sie ja. Nimm mich vielmehr unter deinen Mantel, trage mich mit dir hin und dort bücke dich zu mir herab, da werde ich sie dir sagen, und du sage sie dein Gouverneur.«

Er nahm es unter seinen Rock und begab sich früh zum Gouverneur. »Bist du gekommen?« fragte ihn dieser. »Jawohl, Effendim!« »Wohlan, dann sage mir die Deutung meines Traumes.« Der Kadi bückte sich zum Kinde herab und sagte zu ihm: »Sprich doch!« Doch es redete nicht. Da bat er es eindringlich, dass es doch sprechen möchte; aber es sprach nicht. Plötzlich sah er, wie es aus seinem Busen herunterschlüpfte und mitten [im Zimmer] dasass. »Was soll ich dir sagen«, rief es, »du bist ja ein Esel geworden, du weisst nichts mehr.« Der Gouverneur ward verwirrt und erstaunt [und wusste nicht], was das bedeuten solle. Dann erhob sich das Kind und sagte zum Gouverneur: »Der Kadi weiss nichts mehr, er ist ein Esel geworden. Sage mir deinen Traum, und ich will ihn dir deuten.« »Wohlan«, sagte der Gouverneur, »deute meinen Traum. Jede Nacht sehe ich in meinem Traume, dass ein schwarzer Hund von meinem Tische isst.« »Effendim!« sagte es, »wenn ich dir deinen Traum deute, wirst du es ebenso bereuen, wie dein Grossvater über den Papagei Reue empfand.« »Du bist eben geboren«, versetzte der Gouverneur, »wie hast du meinen Grossvater gesehen? Wohlan, erzähle es mir, damit[223] wir sehen, wie mein Grossvater über den Papagei Reue empfand.« Darauf sprach es:

Effendim! Eines Tages sass dein Grossvater auf dem Throne, und der Papagei hatte sich auf seine Hand niedergelassen. Da sah dieser, dass seine Angehörigen nach dem Hochgebirge zu einer Hochzeit zogen, und bat deinen Grossvater, dass er ihm gestatte, mit ihnen hin aufzufliegen. Dein Grossvater liess ihn los, und er flog davon. Der Geschäftsträger deines Grossvaters sagte nun: »Der Papagei kommt nicht wieder«, während dein Grossvater sagte: »Er wird wiederkommen.« Da wetteten sie mit einander, dass, wenn er zurückkäme, das ganze Vermögen des Geschäftsträgers dem Pascha zufallen sollte, und wenn er nicht käme, man das ganze Vermögen des Gouverneurs zum Geschäftsträger bringe. Sie stellten die Bedingung auf vierzig Tage.

Neun und dreissig Tage waren verflossen, seitdem der Papagei weggeflogen war, und er kam nicht wieder. Der Geschäftsträger freute sich nun, und dein Grossvater war traurig. Es wurde Mittag, und der Papagei kam nicht. Da begann der Geschäftsträger Lastträger zusammenzurufen, damit er, sobald die Sonne untergegangen wäre, sich daran machte, das Vermögen des Gouverneurs zu sich tragen zu lassen. Aber vor Sonnenuntergang kam der Papagei und stieg auf die Hand deines Grossvaters hinab. Da liess dieser die ganze Habe des Geschäftsträgers zu sich bringen.

Der Papagei nahm aus seinem Schnabel drei Kerne heraus und legte sie in die Hand deines Grossvaters. Dieser gab sie dem Gärtner und sagte ihm: »Gehe, säe sie im Garten, wir wollen sehen, was aus dem Geschenke des Papageien werden wird.« Der Gärtner ging, säte sie im Garten, und es wuchs ein Baum heraus. Nach drei Jahren brachte er drei Äpfel hervor. Als diese reif waren, pflückte der Gärtner einen von ihnen ab, um ihn deinem Grossvater zu bringen. Als er dann über die Strasse ging, traf ihn der Geschäftsträger. »Was hast du da?« fragte er ihn.[224] »Das ist von den Früchten4, die der Papagei meinem Herrn gebracht hat«, antwortete der Gärtner. Darauf sagte der Geschäftsträger zu ihm: »Mein Sohn ist sehr krank, gieb mir die Frucht, damit ich sie ihm zeige, vielleicht wird er gesund.« Darauf nahm er den Apfel und trat ins Haus. Hier stiess er Messer in denselben hinein, dann streute er Gift auf die Messerstiche und gab ihn dann dem Gärtner zurück. Der Gärtner nahm ihn, brachte ihn deinem Grossvater und sagte: »Das ist die Frucht von dem Geschenke, das der Papagei dir brachte.« Aber die Leute sagten: »Kein Mensch esse davon, so lange wir nicht an einem Hunde einen Versuch angestellt haben und sehen, dass er frisst. Vielleicht ist es eine Frucht des Todes.«

Sie nahmen dann ein Stück von ihm und warfen es einem Hunde vor, und der frass es und verendete. Als dein Grossvater das sah, packte er den Papagei, zog ihm das Fell ab und warf ihn weg, indem er sagte: »Du bist also mein Feind!«

Der Gärtner nahm sich das zu Herzen, und in seiner Betrübnis ging er nach dem Garten und sprach: »Ich will gehen und auch ein Stück essen, vielleicht sterbe ich.« Als er in den Garten kam, nahm er einen von den Äpfeln und ass ein Stück. Er war ein Greis, da wurde er wie ein Knabe von vierzehn Jahren. Als er dies sah, pflückte er auch den letzten Apfel und begab sich zu deinem Grossvater. Er trat ein und legte den Apfel vor deinen Grossvater hin. »Was ist das?« fragte dieser. »Das ist von den Früchten,5 die der Papagei gebracht hat«, antwortete er, »und ich bin euer Gärtner. Infolge meines Ärgers, den ich empfand, als ich jenen Vorfall sah, ging ich und sagte mir: ›Auch ich will ein Stück essen, vielleicht sterbe ich.‹ Als ich aber gegessen hatte, wurde ich ein Knabe.« Da nahm er ein Stück und ass es vor deinem Grossvater. Und wer auch[225] von jener Frucht ass, wurde, wenn er ein Greis war, zum Jüngling. »Wie kam es denn also beim ersten Falle, dass ich etwas dem Hunde vorwarf, und er davon starb?« fragte dein Grossvater. »Als ich auf den Markt kam«, erzählte der Gärtner, »kam der frühere Geschäftsträger an mich heran, bat mich, den Apfel ins Haus hineinnehmen zu dürfen, und nahm ihn hinein. Ich weiss nun nicht, was er mit ihm machte.«6

»Nun sieh, was für eine gute Frucht der Papagei deinem Grossvater brachte, und er schund ihn. Bedenke auch, wie sehr dein Grossvater über den Papagei Reue empfinden musste, aber noch viel mehr wirst du über mich Reue empfinden, wenn ich deinen Traum deute.« »Wenn ich es denn so sehr bereuen soll«, erwiderte der Gouverneur, »dann ist es nicht nötig, dass du meinen Traum deutest. Lass es, mag es so bleiben.«

Der Traum des Gouverneurs blieb also ohne Deutung. Er beunruhigte ihn aber so sehr, dass er es nicht mehr aushalten könnte, und so schickte er denn nach dem Kinde und sprach: »Komm her, deute meinen Traum.« »Wenn ich deinen Traum deute«, antwortete es, »dann wirst du es bereuen, wie dein Vater über seinen Falken Reue empfand.« »Wohlan«, sagte der Gouverneur, »lass uns sehen, wie mein Vater über seinen Falken Reue empfand.« Da erzählte es.

»Eines Tages nahm dein Vater etwa vierzig Reiter mit sich und zog auf die Jagd aus. Da sah er eine Gazelle, die alle Farben der Welt an sich hatte.« Da rief er den Reitern zu: »Ich verlange von euch, dass ihr mir diese Gazelle lebend fanget. Wenn sie aber unter dem Bauche des Rosses jemandes durchläuft, und er sie nicht fängt, so töte ich ihn.« Die Reiter umringten die Gazelle, dann kam diese und sprang unter dem Bauche des Rosses deines Vaters durch, ohne dass er[226] sie erwischte. Sie bekam einen Vorsprung (?), aber dein Vater verfolgte sie. Er erreichte sie hier, er erreichte sie da, durch diese Wendung, durch jene Wendung, er holte sie aber nicht ein. Dann trat sie in ein Flussbett und verschwand vor seinen Augen. Alle Reiter waren mit ihren Rossen am Platze zurückgeblieben, und dein Vater war nun allein. Es herrschte eine Hitze, und er bekam einen gewaltigen Durst. Da stieg er vom Pferde, zog es hinter sich nach und stieg das Flussbett hinauf, indem er Wasser suchte. Er wurde durstig zum Sterben; wenn eine Schale Wasser in seine Hand geraten wäre, hätte er sie um hundert Lire ausgetrunken. In seinem Durste kam er an eine hohe Felsenkluft, und siehe da, es tröpfelte Wasser aus der Kluft herunter. Rasch, rasch nahm er eine Schale heraus und stellte sie unter die Tropfen.7 Sein Falke war ihm auf die Hand herabgeflogen. Als die Schale nun voll war, und er sie nahm und an den Mund setzte, schlug der Falke mit seiner Pfote darauf und schüttete sie aus. Da er ihm sehr lieb war, tötete er ihn nicht, sondern er schlug ihn nur einmal mit der Hand auf den Kopf. »Du Unglücksvogel«, sagte er, »wie bist du doch (?) mein Feind!« Dann stellte er zum zweiten male die Schale unter die Tropfen.8 Als sie voll war, nahm er sie, um sie an den Mund zu setzen, doch da schlug der Falke wieder mit seiner Pfote darauf und schüttete sie aus. Da sprang dein Vater auf, und voller Wut zog er dem Falken das Fell ab und schleuderte ihn weg. Nachher kam ihm der Verstand in den Kopf, und er sprach: »Bis meine Schale wieder voll ist, sterbe ich. Warum steige ich nicht da oben hinauf, um nachzusehen, woher das Wasser kommt. Wenn ein Quellchen da ist, will ich daraus trinken.« Als es ihm gelungen war hinaufzuklimmen, siehe, da lag ein getöteter Drache hingeworfen. Die Sonne hatte [ihre Strahlen] auf ihn geworfen, er war nun zerflossen, und sein Fett und Gift floss herab aus der Felsenkluft. »Hätte dein[227] Vater getrunken, so wäre er auf der Stelle gestorben. Der Falke hatte ihn aber nicht gelassen, und für das Gute, das er ihm erwiesen, hatte er ihn geschunden.9

Siehe, wie sehr dein Vater über seinen Falken Reue empfand. Auch du wirst, wenn ich deinen Traum deute, so sehr über mich Reue empfinden.« »Du!« rief der Pascha aus, »mag ich es bereuen oder nicht; in das Pech und die Pechgrube!10 auf! deute meinen Traum!« »Dann auf und folge mir«, sagte das Kind. Der Gouverneur erhob sich und folgte ihm. – »Öffne diese Thür!« – Er öffnete sie. – »Öffne auch diese«, bis zu sieben Thüren. In dem Zimmer, das hinter den sieben Thüren war, sah er einen Sklaven, von den Schwarzen – eine jede seiner Schnurrbarthälften war eine Spanne lang, und seine Augen glotzten. »Das ist der schwarze Hund, der an deinen Tisch kommt und von ihm isst«, sagte das Kind. »Tag für Tag schläft er bei deiner Frau.« Als er das gesagt hatte, wurde er wieder zu einem trockenen Schädel, wie er gewesen war.

1

Im Texte: »Geschichte eines Bruders und einer Schwester.«

2

Vgl. p. 48 oben und Anm. 1.

3

Der sehr alte und sehr verbreitete Zug vom Herzessen, der auch in der deutschen Mythologie eine Rolle spielt, hat sich besonders in der Märchengruppe erhalten, zu der St. XVI dieser Sammlung gehört.

4

Im Texte der Singular.

5

Im Texte der Singular.

6

Diese Geschichte findet sich auch KNOWLES, FtKash. p. 35 f. und ZDMG XXI p. 520 f.

7

Im Texte der Singular.

8

Im Texte der Singular.

9

Zu dieser Episode vgl. BENFEY, Pantsch. I p. 485 f.; ferner KNOWLES, FtKash. p. 437 f. – vgl. auch die Nachweise p. 438 no. 17 und 19 – und MALCOLM, Sketches I p. 263 f., wo sie von Abbâs dem Grossen erzählt wird.

10

Nach einer Randglosse in C ist es ein Schimpfausdruck (zu bḳîrâ: šatm bu,d makân); aber es dürfte wohl eher ein Fluch sein.

Quelle:
Lidzbarski, Mark (Hg.): Geschichten und Lieder aus den neuaramäischen Handschriften. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1896, S. 217-228.
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