V. Der Traumseher.

[51] Es lebte ein Mann mit seiner Frau und sie hatten einen Sohn. Dieser Sohn legte sich abends schlafen und am Morgen steht er auf und sagt zur Mutter:

»Mütterchen, ich habe einen Traum gehabt, aber ich erzähle ihn dir nicht.«

Die Mutter sagt: »Warum willst du ihn nicht erzählen?«

Jener antwortet: »Ich will nicht und damit abgemacht.«

Die Mutter nahm ihn und prügelte ihn gehörig durch.

Da ging er zum Vater und sagte zu ihm:

»Väterchen, ich habe einen Traum gehabt, aber der Mutter habe ich ihn nicht erzählt, auch dir erzähle ich ihn nicht.« Auch der Vater prügelte den Sohn durch. Dieser begann[51] zu schmollen und lief aus dem Hause fort. Er ging, er ging den ganzen Tag, begegnete einem Wanderer und sagt zu ihm:

»Sei gegrüsst!« Jener antwortet: »Sei gegrüsst!«

»Ich habe einen Traum gehabt, habe ihn aber weder der Mutter noch dem Vater erzählt, auch dir erzähle ich ihn nicht!« Und er ging weiter. Und so kam er bis zum Emir und sagt zu ihm:

»Emir, ich habe einen Traum gehabt, habe ihn aber weder der Mutter, noch dem Vater, noch dem Wanderer erzählt und auch dir erzähle ich ihn nicht.«

Der Emir befahl ihn zu ergreifen und in seine Bodenkammer zu werfen.

Der Jüngling verschaffte sich von jemand ein Messer und fing an die Diele zu zerschneiden.

Er schnitt und schnitt bis er über dem Gemache der Tochter des Emirs ein Loch ausgeschnitten hatte. Sie hatte eben einen Teller mit Speise zugedeckt und war hinaus gegangen.

Der Jüngling stieg hinunter, leerte den Teller, ass sich satt und kroch in seine Kammer zurück.[52]

So machte er es am ersten, zweiten, dritten und vierten Tage und die Tochter des Emirs weiss nicht, wer ihre Portion verzehrt. Da gab sie einmal acht und versteckte sich hinter den Tisch. Sie sieht, es steigt ein Jüngling herunter und fängt an von ihrem Teller zu essen. Sie stürzt auf ihn zu und sagt: »Wer bist du?«

Dieser antwortet: »Ich habe einen Traum gehabt, habe ihn aber weder der Mutter, noch dem Vater, noch dem Wanderer, noch dem Emir erzählt; der Emir hat mich in die Bodenkammer werfen lassen. Jetzt hängt es von deinem Willen ab, mache was du willst.«

Der Jüngling blickte die Jungfrau an und sie gewannen einander lieb und – der Mensch ist ja sündlich – sie wurde schwanger.

Um diese Zeit kam der König des Abendlandes zum Könige des Morgenlandes, um für seinen Sohn um seine Tochter zu werben. Er nahm und schickte ihm eine eiserne Stange mit gleichen Endspitzen und fragt: »Welche ist von den zwei Spitzen die untere und welche die obere? Wenn Ihr es erratet – gut, wenn nicht, so nehme ich Eure Tochter mit.«

Der König liess alle fragen, aber niemand kann es sagen. Die Königstochter erzählt es ihrem Geliebten und dieser sagt: »Geh, sage deinem Vater, dem Emir, er soll die Stange[53] in den Teich werfen, das schwere Ende wird in den Boden sinken, durchbohrt es und schickt die Stange dem Könige des Abendlandes. Es zeigte sich, dass er Recht hatte und die Boten kehrten zu ihrem Könige zurück.«

Darauf schickt derselbe König drei Pferde von derselben Farbe und demselben Wüchse und lässt fragen: »Welches von ihnen ist das einjährige Füllen, welches das zweijährige und welches ist die Stute? Wenn Ihr es erratet – gut, wenn nicht, so nehme ich Eure Tochter mit.« Es versammelten sich alle geschickten Leute, aber niemand konnte es erraten.

Der König ist ratlos und weiss nicht, was er machen soll.

Die Königstochter ging zu ihrem Geliebten und sagt: »Weisst du, dass man mich fortführen will?« und sie erzählte ihm was und wie.

Dieser sagt: »Gehe und sage deinem Vater: ›Mögen sie ein Bündel Heu ins Wasser tauchen, mit Salz bestreuen und es abends den Pferden vorlegen.‹ Morgens wird zuerst die Stute heraustreten, nach ihr das zweijährige, dann das einjährige.«

Das thaten sie auch und schickten dem Könige des Abendlandes die Antwort. Dieser König wartet etwas und schickt dann einen stählernen Spiess und einen stählernen Schild[54] und lässt sagen: »Wenn Ihr mit diesem Spiesse den Schild durchbohrt, so gebe ich Eurem Sohne meine Tochter zur Frau. Wenn nicht, so schickt Eure Tochter meinem Sohne!«

Es versammelte sich viel Volk und mit ihm der König selbst, aber auf keine Weise können sie den Schild durchbohren. Da erzählt die Königstochter ihrem Vater von ihrem geliebten Gefangenen. Der König lässt ihn zu sich kommen. Der Jüngling kommt, stösst den stählernen Spiess in den Boden und mit dem Schilde darauf schlagend durchbohrt er diesen.

Da der König keinen Sohn hatte, nahm er ihn an Sohnesstatt an und dieser geht der Verabredung gemäss zum Könige des Abendlandes, um dessen Tochter heimzuführen.

Er ging, er ging – wie lange ist nicht bekannt – er sieht, jemand hat das Ohr an die Erde gelegt und horcht.

Er fragt ihn:

»Wer bist du?«

Jener antwortet:

»Ich bin der, der alles erfährt, was auf der Welt gesprochen wird.«

Dieser sagt:

»Das ist mir ein wackerer Kerl! er erfährt alles, was auf der Welt gesprochen wird.«

Jener sagt:[55]

»Ich bin kein wackerer Kerl. Ein wackerer Kerl ist derjenige, der mit einem stählernen Spiesse den stählernen Schild durchbohrt hat.«

Dieser sagt:

»Das bin ich, seien wir Brüder!«

Und sie gingen zusammen weiter. Sie gingen, sie gingen, sie sehen, es hat einer an jeden Fuss einen Mühlstein angebunden und mit einem Beine schreitet er nach Chisan,1 mit dem andern nach Stambul.

Der Jüngling sagt:

»Das ist mir ein wackerer Kerl! mit dem einen Beine schreitet er nach Chisan, mit dem andern nach Stambul.«

Jener antwortet: »Ich bin kein wackerer Kerl; ein wackerer Kerl ist derjenige, der mit einem stählernen Spiesse den stählernen Schild durchbohrt hat.«

Dieser sagt: »Das bin ich, seien wir Brüder!«

Sie waren nun ihrer drei und gingen weiter. Sie gingen, sie gingen, sie sehen in der Mühle mahlen sieben Mühlsteine Getreide und einer allein isst das alles und wird nicht satt und brummt: »Ach, Väterchen, ich sterbe ja vor Hunger.«[56]

Da sagt er:

»Das ist mir ein wackerer Kerl!« Sieben Mühlsteine mahlen für ihn allein Getreide und doch kann er nicht satt werden und brummt noch: »Ich sterbe vor Hunger.«

Jener antwortet: »Ich bin kein wackerer Kerl; ein wackerer Kerl ist derjenige, der mit einem stählernen Spiesse einen stählernen Schild durchbohrt hat.«

Dieser sagt: »Das bin ich, seien wir Brüder!«

Sie waren nun vier und gingen weiter. Sie gingen, sie gingen, sie sehen, einer hat die ganze Welt auf sich geladen und will sie eben! in die Höhe heben.

Da sagt er: »Das ist mir ein wackerer Kerl! Er hat die ganze Welt auf sich geladen und will sie in die Höhe heben.«

Jener antwortet: »Ich bin kein wackerer Kerl; ein wackerer Kerl ist derjenige, der mit einem stählernen Spiesse den stählernen Schild durchbohrt hat.«

Dieser sagt: »Das bin ich, seien wir Brüder!«

Sie waren nun fünf und gingen weiter. Sie gingen, sie gingen, sie sehen, einer liegt am Bache und schlürft das ganze Wasser aus[57] und schreit noch: »Ach Väterchen, ich verschmachte vor Durst!«

Da sagt er: »Das ist mir ein wackerer Kerl!« Er trinkt den ganzen Bach aus und schreit dennoch: »Ich verschmachte vor Durst!«

Jener antwortet: »Ich bin kein wackerer Kerl; ein wackerer Kerl ist derjenige, der mit einem stählernen Spiesse den stählernen Schild durchbohrt hat.«

Dieser sagt: »Das bin ich, seien wir Brüder!«

Sie waren nun sechs und gingen weiter. Sie gingen, sie gingen, sie sehen, ein Hirt spielt die Schalmei und Berge und Thäler, Felder und Wälder, Menschen und Tiere, alles tanzt dazu.

Da sagt er: »Das ist mir ein wackerer Kerl, alle Berge und Thäler bringt er zum Tanzen.«

Jener antwortet: »Ich bin kein wackerer Kerl; ein wackerer Kerl ist derjenige, der mit einem stählernen Spiesse den stählernen Schild durchbohrt hat.«

Dieser sagt: »Das bin ich, seien wir Brüder!«

Sie waren nun ihrer sieben und gingen weiter.

Jene fragen den Königssohn: »Bruder, der du mit einem stählernen Spiesse den stählernen Schild durchbohrt hast, wohin führt uns denn Gott?«[58]

»Wir gehen die Tochter des abendländischen Königs holen.«

»Nur du kannst sie heiraten,« antworten sie.

Sie gingen in das Schloss des Königs, um seine Tochter zu holen. Aber der König will seine Tochter nicht fortlassen, ruft seine Leute zusammen und sagt: »Die sind nach der Braut gekommen und werden jetzt keinen Hunger haben. Vielleicht werden sie einen oder zwei Bissen essen. Heizt daher ein in zwanzig Backöfen und backt Brot darin und kocht einundzwanzig Kessel Suppe. Wenn sie das alles aufessen, gebe ich ihnen meine Tochter, sonst nicht.«

Die sieben Brüder waren in einem besonderen Zimmer. Der, welcher mit dem Ohre am Boden horcht, lauscht und hört den Befehl des Königs und sagt: »Du Bruder, der du mit einem stählernen Spiesse den stählernen Schild durchbohrt hast, hast du verstanden, was der König gesagt hat?«

»Du Verderber! Wie kann ich denn wissen, was er gesagt hat, da ich nicht in demselben Zimmer bin? Nun, erzähle, was er gesagt hat!«

»Er hat befohlen, in einundzwanzig Öfen Brot zu backen und einundzwanzig Kessel Suppe zu kochen. Wenn wir das alles aufessen, lässt er seine Tochter fort, sonst nicht.«[59]

Derjenige der Brüder, der das auf sieben Mühlsteinen gemahlene Getreide verzehrt hatte, sagt: »Fürchtet euch nicht! Ich werde voraus gehen und alles, was mir in die Hände kommt, allein verzehren und noch dazu schreien: ›Ach, Väterchen, ich sterbe vor Hun ger!‹«

Als der König das sah, erschrak er: »Möge sie Gott verderben! Vor ihnen muss man ja entlaufen!«

Er rief seine Leute zusammen und sagt: »Macht im ganzen Hause Feuer an, bestreut es mit Asche und bedeckt sie mit Filzdecken! Wenn sie abends hineinkommen, werden sie gewiss alle miteinander verbrennen.«

Der Scharfhörige hört das alles und sagt: »Du Bruder, der du mit einem stählernen Spiesse den stählernen Schild durchbohrt hast, hast du verstanden, was der König gesagt hat?«

»Nein, wie kann ich es denn wissen? Nun, was hat er denn gesagt?«

»Macht im ganzen Hause Feuer an, bestreut es mit Asche und bedeckt sie mit Filzdecken! Wenn sie abends hineinkommen, werden sie alle miteinander verbrennen.«

Derjenige der Brüder, der den ganzen Bach ausgetrunken hatte, sagt: »Ich will gehen und mich satt trinken und dann vor euch hineingehen. Wenn ich ins Zimmer komme,[60] werde ich alles Wasser ausspeien und das ganze Haus in ein Meer verwandeln.«

Abends lässt sie der König holen und bittet sie, sich in das für sie bestimmte Zimmer zur Ruhe zu begeben. Als nun der Wassertrinker den Mund aufthut, füllt er das ganze Zimmer mit Wasser an. Sie gingen in ein anderes Zimmer.

Der König verlor ganz die Besinnung und weiss nicht was er machen soll. Er rief seine Leute zusammen, aber diese schreien einstimmig: »Mag geschehen, was will, wir lassen unsere Prinzessin nicht fort.«

Der Scharfhörige hört das alles und sagt: »Du Bruder, der du mit einem stählernen Spiesse den stählernen Schild durchbohrt hast, hast du verstanden, was der König gesagt hat?«

»Woher soll ich denn wissen, was er da sagt?«

»Nun höre! Mag geschehen was will, die Tochter lass ich nicht fort, sagt er.«

Derjenige der Brüder, der die ganze Erdkugel auf sich geladen hatte, sagt: »Wartet, ich werde es ihm geben! Ich lade sein ganzes Schloss und sein ganzes Land auf mich und trage es fort.«

Er nahm das Schloss auf den Rücken und geht fort. Der Hirt fing an seine Schalmei zu[61] spielen und Berge und Thäler tanzen dazu. Und der, der sich an jeden Fuss einen Mühlstein gebunden hatte, geht voraus und so ziehen sie lustig lärmend fort.

Da fing der König an zu weinen und bittet sie ihm sein Schloss zurück zu lassen. »Die Tochter,« sagt er, »nehmt mit, ihr habt sie euch verdient!«

Das königliche Schloss liessen sie an Ort und Stelle, der Hirt hört auch auf, seine Schalmei zu spielen und Berge und Thäler, Wälder und Felder hörten auf zu tanzen. Sie nahmen die Königstochter und machten sich auf den Rückweg. Jeder der Helden kehrte an seinen Wohnort zurück und der, der mit einem stählernen Spiesse den stählernen Schild durchbohrt hatte, nahm die Jungfrau und zog zum morgenländischen Könige. Er kommt hin und sieht, seine geliebte Prinzessin hat ihm einen Sohn geboren. Auch sie nahm er zur Frau.

In der Nacht legten sie sich schlafen; da spricht er zu sich selbst: »Ich habe eine Sonne zur einen Seite und eine Sonne zur andern und ein heller Stern spielt auf meiner Brust.«

Am andern Morgen lässt er seine Eltern rufen, geht zum Könige und sagt: »Jetzt will ich euch meinen Traum erzählen.« Jene sagen: »Nun, was denn?« Er antwortet: »Ich sah im[62] Traume eine Sonne auf der einen Seite und noch eine Sonne auf der andern und ein heller Stern spielte auf meiner Brust.«

Jene fragen: »Einen solchen Traum hast du gehabt?«

Er antwortet: »Bei Gott, ich habe einen solchen Traum gehabt.«

Vom Himmel fielen drei Äpfel herab: einer für den Erzähler, der zweite für den, der ihn erzählen liess, der dritte für den Zuhörer.

1

Am Wansee.

Quelle:
Chalatianz, Grikor: Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1887, S. 51-63.
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