19. [278] Muchie Lal.
19. Muchie Lal

Es war einmal ein Rajah und eine Ranee, die hatten kein Kind. Sie wünschten sich eines und baten die Götter um einen Sohn, – aber es war alles vergebens; ihre Gebete wurden nicht erhört. Eines Tages brachte man eine Anzahl Fische in die Schloßküche, die waren für des Rajahs Tafel bestimmt, und unter denselben befand sich ein kleiner lebender Fisch. Die Uebrigen waren sämmtlich todt. Eine Dienerin der Königin sah das, nahm den kleinen Fisch und that ihn in einen Wasserbehälter. Bald darauf bemerkte ihn die Königin, fand ihn niedlich, und da sie keine Kinder hatte, wurde er ihr Liebling. Sie verschwendete all' ihre Zuneigung an den Fisch und liebte ihn als einen Sohn, und das Volk nannte ihn deßhalb Muchie-Rajah oder den Fisch-Prinzen. Muchie Rajah aber wuchs schnell und konnte bald nicht mehr in dem kleinen Wasserbehälter bleiben, daher setzte man ihn in einen größeren, und als ihm auch das zu klein ward, kam er in ein weites hölzernes Gefäß. Mit der Zeit jedoch konnte er seiner zunehmenden Größe wegen auch in diesem weiten hölzernen Fasse nicht mehr bleiben, und nun ließ ihm die Ranee ein Basin machen, und in dem lebte er eine Zeitlang ganz glücklich und zufrieden, und zweimal am Tage fütterte sie ihn mit gekochtem Reis. Obgleich man nun Muchie-Rajah für einen Fisch hielt, so war das doch nicht der Fall. Er war eigentlich ein junger Rajah. Da er sich aber den Zorn der Götter zugezogen hatte, so war er von[279] ihnen zur Strafe dafür in einen Fisch verwandelt und in den Fluß geworfen worden.

Als ihm nun die Ranee eines Tages seine gewöhnliche aus Reis bestehende Mahlzeit brachte, öffnete Muchie-Rajah seinen Fischmund und sprach: »O königliche Mutter, königliche Mutter, ich fühle mich hier so vereinsamt. Kannst Du mir nicht eine Gemahlin besorgen?« Die Ranee versprach ihm, den Versuch zu machen, und schickte deßhalb an all' ihre Bekannten und ließ fragen, ob sie ihr nicht eins ihrer Kinder überlassen wollten, damit es ihren Sohn, den Fisch-Prinzen heirathe. Aber sie alle entgegneten: »Wir können Dir keine von unseren lieben, kleinen Töchtern geben, damit sie von einem Fisch verschlungen werde. Mag auch derselbe Muchie-Rajah heißen und hoch in Deiner königlichen Gunst stehen.«

Bei Erhaltung dieser Nachricht wußte die Ranee nicht, was sie nun anfangen sollte. Sie hegte indessen für Muchie-Rajah eine so thörichte Liebe, daß sie beschloß, ihm um jeden Preis eine Frau zu verschaffen. So schickte sie abermals Boten aus, doch diesmal gab sie ihnen einen großen Sack, gefüllt mit einem Lac Goldmohurs1 und sprach zu ihnen: »Durchwandert jedes Land, bis ihr eine Frau für meinen Muchie-Rajah findet, und derjenige, der Euch sein Kind giebt, damit sie die Muchie-Ranee werde, soll diesen großen, mit Goldmohurs gefüllten Sack erhalten.« Die Boten machten sich auf die Reise, doch manchen Tag lang forschten sie vergebens, nicht einmal die Bettler ließen sich dazu bewegen, ihnen ein Kind zu verkaufen. Sie fürchteten alle, der große Fisch werde es verschlingen. Endlich erreichten die Boten ein Dorf, in dem wohnte ein Fakeer, der hatte sich nach dem Tode seiner ersten Frau zum zweiten Male wieder[280] verheirathet. Seine erste Frau hatte eine kleine Tochter hinterlassen, und seine zweite Frau hatte auch eine Tochter. Die zweite Frau aber haßte ihre kleine Stieftochter, gab ihr schwere Arbeit, kaum satt zu essen und that alles, was in ihrer Macht stand, um sie aus dem Wege zu räumen, damit sie das Gute, was sie besaß, ihrer eigenen Tochter zuwenden könne. Als sie von dem Auftrage hörte, den die Boten ausrichten sollten, schickte sie in Abwesenheit des Fakeers zu ihnen und ließ ihnen sagen: »Gebt mir den Sack voll Goldmohurs, und dann mögt ihr meine kleine Tochter dem Muchie-Rajah als Frau bringen.« Denn sie hegte den Glauben, daß der große Fisch das kleine Mädchen fressen, und daß es ihr dann nicht mehr zur Last fallen würde. Sie wandte sich darauf zu ihrer Stieftochter und sprach: »Gehe an den Fluß, wasche Dein Saree, damit Du anständig gekleidet bist und diese Leute, die Dich an den Königshof führen werden, begleiten kannst.« Das Mädchen ging nach diesen Worten traurigen Herzens an den Fluß, denn da ihr Vater nicht daheim war, blieb ihr keine Hoffnung ihrem Schicksale zu entgehen. Sie kniete am Flußufer nieder, wusch ihr Saree und weinte bitterlich. Da fielen ein paar Thränen in die Höhle eines siebenköpfigen Cobra, der in einer Flußvertiefung wohnte. Der Cobra war ein sehr kluges Thier, und als er das Mädchen sah, streckte er den Kopf aus seiner Höhle und sprach: »Warum weinst Du, mein kleines Mädchen?« »O Herr«, entgegnete sie, »ich bin sehr unglücklich. Mein Vater ist nicht daheim, und meine Stiefmutter hat mich an die Diener der Ranee verkauft, und nun soll ich die Frau des großen Fisches Muchie-Rajah werden. O, ich weiß bestimmt, daß er mich frißt.« »Befürchte nichts, meine Tochter«, sagte der Cobra. »Nimm diese drei Steine und verberge sie zwischen den Falten Deines Sarees.« So sprechend gab er ihr drei kleine, runde[281] Kieselsteine. »Der Muchie-Rajah, dessen Fran Du werden sollst, ist kein wirklicher Fisch, sondern ein verzauberter Rajah. Die Königin wird Dich in ein kleines Zimmer führen, welches sie in der Einfassung des Bassins hat bauen lassen. Hat sie das gethan, so warte dort, und schlafe ja nicht ein, sonst kommt der Muchie-Rajah und frißt Dich jedenfalls. Sobald Du sein Plätschern im Wasser hörst, so beeile Dich, ihn, wenn Du seiner ansichtig wirst, mit dem ersten Steine zu werfen. Dann wird er auf den Grund des Bassins sinken. Naht er sich Dir ein zweites Mal, so wirfst Du den zweiten Stein auf ihn, dann geschieht das nämliche. Darauf kommt er zum dritten Mal, und wirfst Du ihn mit dem dritten Stein, so erhält er seine menschliche Gestalt wieder.« Nach diesen Worten tauchte der Cobra unter und verschwand in seiner Höhle. Die Fakeertochter nahm die Steine, und obgleich sie den ihr verheißenen Erfolg bezweifelte, so beschloß sie doch dem Rathe des Cobra Folge zu leisten.

Als sie den Palast erreichte, empfing sie die Ranee freundlich und sprach zu den Boten: »Ihr habt Euren Auftrag gut ausgerichtet, dies ist ein kleines, liebes Mädchen.« Dann ließ sie sie vermittelst eines Korbes in den Teich hinab, und so kam sie in das für sie erbaute Zimmer. Als die Fakeertochter dasselbe betrat, schien es ihr, als habe sie in ihrem Leben noch nie ein so hübsches, kleines Gemach gesehen. Die Königin hatte das allerdings für die Frau ihres Lieblings reizend einrichten lassen. Das kleine Mädchen würde sich nun fern von ihrer Stiefmutter und von all' der schweren Arbeit befreit, sehr glücklich gefühlt haben, wäre nicht vor ihr das dunkle, schwarze, undurchdringliche Wasser gewesen, und hätte sie sich nicht vor dem schrecklichen Muchie-Rajah gefürchtet.

Nachdem sie eine Zeit lang gewartet hatte, hörte sie einen[282] plätschernden Ton, und es wogten kleine Wellen gegen die Thürschwelle. Die kamen schneller und schneller heran, das Geplätscher ward lauter und lauter, bis sie schließlich über dem Wasser einen großen Fischkopf hervorragen sah. Es war der Muchie-Rajah, der mit geöffnetem Rachen herbeischwamm. Die Fakeertochter nahm rasch einen der Steine, die ihr der Cobra gab, und warf den Fisch damit, da sank er auf den Grund des Wassers. Er erhob sich abermals und kam auf sie zu. Da warf sie ihn mit dem zweiten Steine, und wieder sank er unter, und als er das dritte Mal noch geräuschvoller als früher heranschwamm, schleuderte sie ihm mit aller ihr zu Gebote stehenden Macht, den dritten Stein zu. Kaum hatte ihn derselbe berührt, so war auch der Zauber gelöst, und anstatt des Fisches stand ein junger, schöner Prinz vor ihr. Die arme, kleine Fakeertochter war so bestürzt, daß sie kein Wort hervorzubringen vermochte. Der Prinz aber sprach zu ihr: »Hübsches Mädchen, fürchte Dich nicht. Du hast mich aus schrecklichen Banden erlöst, das kann ich Dir nie genug danken, aber willst Du meine Muchie Ranee werden, so wollen wir morgen Hochzeit halten.« Dann setzte er sich auf die Stufen, die zu dem kleinen Gemache führten, dachte über sein seltsames Schicksal nach und erwartete den Tagesanbruch.

Früh am Morgen erschienen verschiedene neugierige Leute, um nachzusehen ob der Muchie-Rajah seine arme kleine Frau verschlungen habe, aber ihre Vermuthung ging nicht in Erfüllung, denn als sie über die Basinmauer blickten, sahen sie zu ihrem Erstaunen nicht den Muchie-Rajah, sondern einen herrlichen Prinzen! Die Neuigkeit verbreitete sich bald durch das ganze Schloß. Da eilte der Rajah herzu, da eilte die Ranee herzu, da eilte all ihr Gefolge herzu, und der Muchie Rajah und die Fakeerstochter wurden vermittelst eines Korbes aus dem[283] Wasser gezogen. Und als sie ihre Erlebnisse erzählten, erscholl ein lauter, nie gehörter Jubel. Die Ranee aber sprach: »Jetzt habe ich doch endlich einen Sohn gefunden!« Das Volk aber war so froh, glücklich und stolz über den neuen Prinzen und die neue Prinzessin, daß es den Weg vom Teich an bis zum Schlosse mit Blumen belegte und fortwährend rief: »Kommt und seht unsren neuen Prinzen und die Prinzessin, sah man je welche, die so himmlisch schön waren? Kommt und seht ein echtes, königliches Paar! Zwei göttergleiche Sterbliche!« Und als sie im Schloß anlangten, heirathete der Prinz die Fakeertochter. Nun lebten sie eine Zeitlang sehr glücklich. Als die Stiefmutter der Muchie-Ranee von diesem Ereignisse hörte, besuchte sie ihre Stieftochter oftmals und that, als freue sie sich ihres Glückes, und die Ranee war so gut ihr all' das früher angethane Herzeleid zu vergeben und empfing sie immer sehr freundlich. Da sprach die Ranee zu ihrem Manne: »Ich sehne mich danach meinen Vater wiederzusehen. Wenn Du es mir erlaubtest, so möchte ich wohl in mein heimathliches Dorf, um ihn zu besuchen.« »Gut«, erwiderte er, »das magst Du thun.« »Bleibe aber nicht zu lange fort, denn ehe Du nicht zurückkehrst, habe ich keine frohe Stunde.« So reiste sie ab, und ihr Vater freute sich, als er sie wiedersah; aber ihre Stiefmutter, die sehr freundlich that, lachte heimlich, als sie daran dachte, daß die Ranee nun in ihrer Macht sei. Und sie beschloß ihr, wo möglich die Rückkehr ins Schloß zu verwehren. Deßhalb sprach sie eines Tages zu ihrer rechten Tochter: »Es ist traurig, daß Deine Stiefschwester, anstatt von dem Fische verschlungen zu werden nun als Königin das ganze Land beherrscht, während wir nur einen einzigen Lac Goldmohurs bekommen haben. Befolge meinen Rath, damit Du anstatt ihrer Ranee wirst.« Dann sagte sie ihr, daß sie die Ranee an den Fluß locken und[284] sie bitten müsse, ihr doch einmal ihre Juwelen zu leihen. Dann sollte sie sich selbst mit denselben schmücken, der anderen aber einen Stoß geben, damit sie im Fluß ertrinke. Das Mädchen willigte ein, es zu thun und als sie am Flußufer standen, sprach sie: »Schwester darf ich einmal Deine Juwelen umbinden? Sie sind so schön!« »Ja«, sprach die Ranee, »und dann betrachte Dich im Fluß, um zu sehen, wie sie Dir stehen.« – Mit diesen Worten band sie sich ihren Halsschmuck ab und legte ihn um den Hals der anderen. Als sie das aber that, gab ihr ihre Stiefschwester einen Stoß, so daß sie rückwärts ins Wasser fiel. Das Mädchen wartete, ob der Leichnam auch wieder auf der Oberfläche erschiene und lief dann zu ihrer Mutter und sprach: »Mutter, hier hast Du ihre Juwelen, sie selbst aber wird uns keinerlei Aerger mehr bereiten.«

Nun aber traf es sich zufälliger Weise, daß, als die Ranee durch ihre Stiefschwester ins Wasser gestoßen wurde, der siebenköpfige Cobra daselbst herumschwamm, und als der die Ranee in Todesgefahr sah, trug er sie auf seinem Rücken in seine Höhle und legte sie dort sanft und ungefährdet nieder. Die Höhle, in welcher der Cobra mit Weib und Kind lebte, hatte zwei Eingänge. Der eine befand sich im Wasser und mündete in den Fluß, der andere führte oberhalb des Wassers ins freie Feld. Zu diesem hochgelegenen Theile seiner Höhle führte der Cobra Muchie-Ranee. Dort wurde sie von ihm und seinem Weibe auf das Beste verpflegt und verlebte manchen Tag in ihrer Gesellschaft. Die böse Fakeerfrau schmückte indessen ihre eigene Tochter mit den königlichen Juwelen, führte sie zum Schloße und sprach: »Seht, Muchie-Rajah, hier bringe ich Euch meine liebe Tochter und Eure Gemahlin ungefährdet und sicher wieder.« Der Rajah sah sie an und dachte: »Die sieht ja gar nicht aus wie meine Frau.« Da jedoch das Zimmer[285] dunkel und das Mädchen sehr geschickt verkleidet war, so glaubte er sich zu irren. Am andern Tag sagte er wieder: »Entweder hat sich meine Frau zu ihrem Nachtheil verändert, oder sie ist es nicht selbst. Sie war ja immer so strahlend fröhlich. Sie hatte eine so reizende Art und Weise mit mir umzugehen und unterhielt mich so angenehm, während diese Frau kaum den Mund öffnet.« Er merkte aber noch immer nicht den Betrug, sondern tröstete sich mit den Worten: »Vielleicht ist sie nur ermüdet durch die lange Reise.« Am dritten Tag vermochte er die Ungewißheit nicht länger zu ertragen, sondern riß ihr den Schmuck ab. Da sah er, daß es nicht seine kleine liebe Frau, sondern eine ganz Fremde war. In seinem Zorn warf er sie aus dem Zimmer und sprach: »Mach, daß Du fortkommst, Du bist die elende Nachahmung einer anderen; aus diesem Grunde schone ich Deines Lebens.« – Doch gebot er seiner Wache die Fakeerfrau zu holen, um zu erfahren, ob sie etwas von seiner Frau wisse, sonst wolle er sie hängen lassen. Die Fakeerfrau aber hatte durch Zufall vernommen, daß der Muchie Rajah ihre Tochter aus dem Schlosse gejagt habe, daher versteckte sie sich und war nicht zu finden.

Unterdessen lebte die Muchie Ranee, die nicht wußte auf welche Weise sie nach Haus kommen sollte, in der Höhle des großen siebenköpfigen Cobra, und er sowohl als seine Frau und seine Kinder behandelten sie freundlich und liebten sie, als gehöre sie zu ihnen; und als sie daselbst einen kleinen Sohn bekam, nannten sie ihn nach seinem Vater dem Muchie-Rajah, – Muchie-Lal2. Muchie-Lal war ein lustiger, lieblicher und tapferer Knabe, und er spielte jeden Tag mit den jungen Cobras.3[286] Als er ungefähr drei Jahre alt war, kam ein Spangenverkäufer daher. Die Muchie-Ranee kaufte ihm einige Arm- und Kniespangen ab und that die um die Handgelenke und Knöchel ihres Knaben. Sie waren aber alle am andern Tage beim Spielen zerbrochen. Als die Ranee den Spangenverkäufer wieder sah, kaufte sie ihm abermals einige ab, und das that sie jeden Tag bis der Spangenverkäufer ganz reich wurde, durch all die Spangen, die der kleine Muchie-Lal verbrauchte; denn die Cobrahöhle war voller Schätze und die Muchie-Ranee durfte so viel Geld, wie sie wollte, ausgeben. Der Cobra erfüllte jeden ihrer Wünsche, doch das wonach sie am meisten verlangte, fortzugehen, um ihr Schloß und ihren Gemahl aufzusuchen, das erlaubte er ihr nicht. »Wenn Dein Mann hierher kommt und Dich holt«, pflegte er zu sagen, »dann magst Du ihn begleiten. Aber so allein lasse ich Dich nicht im Lande umherirren, um ihn zu suchen.« Und so sah sie sich gezwungen, dort, wo sie war, zu bleiben.

Die ganze Zeit hindurch forschte nun der arme Muchie Rajah in jedem Theile des Reiches nach seiner Frau, aber er konnte auch nicht das Geringste von ihr erfahren. Der Kummer und Gram über ihren Verlust machte ihn beinahe wahnsinnig, und schließlich wanderte er von Ort zu Ort und rief immer: »Sie ist fort, sie ist fort.« Nachdem er vergebens bei jedem Bewohner ihres heimathlichen Dorfes Erkundigungen einzuziehen versucht hatte, begegnete er eines Tages dem Spangenverkäufer und sprach zu ihm: »Woher kommst Du?« Der Spangenverkäufer antwortete: »Ich habe soeben an die Leute, die dort unten im Fluß in der Cobrahöhle wohnen, einige Armbänder verkauft.« »Leute? Was für Leute?« fragte der Rajah. »Ei nun«, entgegnete der Spangenverkäufer, »es sind eine Frau und ein Kind. Das Kind ist der schönste Knabe, den ich je sah. Er ist ungefähr drei Jahre alt und da er viel herumläuft, zerbricht[287] er immer seine Spangen, und deßhalb kauft ihm seine Mutter täglich neue.« »Weißt Du, wie das Kind heißt?« fragte der Rajah. »Ja«, antwortete der Spangenverkäufer in gleichgültigem Tone, »die Dame nennt ihn immer ihren Muchie-Lal.« »Ach«, dachte Muchie-Rajah, »gewiß ist es meine Frau.« – Dann setzte er hinzu: »Guter Spangenverkäufer, ich möchte wohl die fremden Leute, von denen Du sprichst, sehen, kannst Du mich nicht zu ihnen führen?« »Heute Abend geht es nicht mehr«, erwiderte der Spangenverkäufer. »Die Nacht ist hereingebrochen, und wir würden sie nur erschrecken. Aber morgen gehe ich wieder hin, und dann kannst Du mit mir kommen. Begleite mich inzwischen, und ruhe Dich in meinem Hause aus, denn Du scheinst mir matt und angegriffen zu sein.« Der Rajah war damit zufrieden. »Am folgenden Morgen jedoch weckte er in aller Frühe den Spangenverkäufer und sprach: Laßt uns nun zu den Leuten, von denen Du mir gestern erzähltest, gehen.« »Nur Geduld«, sagte der Spangenverkäufer, »es ist noch viel zu zeitig. Ich gehe nie vor dem Frühstück aus.« So mußte der Rajah nun warten, bis der Spangenverkäufer zum Gehen bereit war. Endlich begaben sie sich auf den Weg, und als sie die Cobrahöhle erreichten, so sah der Rajah zuerst einen kleinen Knaben, der mit jungen Cobras spielte.

Als nun der Spangenverkäufer daher kam und mit seinen Spangen klingelte, hörte man drinnen in der Höhle eine sanfte Stimme rufen: »Komm her, mein Muchie Lal, Du sollst Deine Spangen anprobiren.« Da kniete Muchie-Rajah vor dem Höhleneingange nieder und sagte: »O Dame, zeigt mir nur einmal Euer schönes Antlitz.« Bei dem Ton seiner Stimme eilte die Ranee hinaus und rief: »O mein Gemahl, o mein Gemahl, nun hast Du mich endlich gefunden!« Und dann erzählte sie ihm, daß ihre Schwester den Versuch gemacht habe,[288] sie zu ertränken, daß der gute Cobra ihr Leben gerettet und sie und ihr Kind gehegt und gepflegt habe. Dann sagte er: »Und willst Du nun mit mir in meine Heimath kommen?« Sie erzählte ihm, daß der Cobra sie ungern ziehen lassen würde, und sprach: »Ich will ihm erst mittheilen, daß Du gekommen bist, denn er ist wie ein Vater zu mir gewesen.« Nun rief sie: »Vater Cobra, Vater Cobra, mein Mann ist gekommen, um mich zu holen, darf ich ihn begleiten?« »Ja«, entgegnete er, »wenn Dein Mann selbst gekommen ist, um Dich zu holen, so magst Du gehen.« Und das Cobraweibchen sprach: »Leb wohl, liebe Dame, wir missen Dich schweren Herzens, denn wir liebten Dich wie eine Tochter.« Und all die kleinen Cobras waren tiefbetrübt, weil sie ihren kleinen Spielgefährten hergeben sollten. Den jungen Prinzen, den sie so gern hatten! Der Cobra beschenkte Muchie Rajah, Muchie Ranee und Muchie Lal mit den reichsten Gaben, die er in seiner Schatzkammer fand, und dann reisten sie nach Hause und lebten von nun an sehr glücklich, und Du sollst eben so glücklich leben.


19. Muchie Lal
1

Ein Lac Goldmohurs ist so viel als £ 150,000.

2

Kleiner Fisch.

3

Siehe die Bemerkungen.

Quelle:
Frere, M[ary]: Märchen aus der indischen Vergangenheit. Hinduistische Erzählungen aus dem Süden von Indien, Jena: Hermann Costenoble, 1874, S. 278-289.
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