Die Qualle.

[64] Ihr wundert euch vielleicht, warum die Qualle nackt umherschwimmt und weder ein Gehäuse noch eine Schale hat? Das war in alter Zeit nicht so; da hatte sie eine Schale gleich anderen Muschelthieren, aber sie verlor sie durch ihre eigene Schuld, und wie das zuging, das will ich euch erzählen.

Die Meeresprinzessin Otohime in Riugu, von der ihr schon im Märchen von Uraschimataro gehört habt, erkrankte einst sehr;[64] Niemand konnte ihr helfen, und so siechte sie lange Zeit in schwerer Pein dahin. Endlich aber fand sich ein erleuchteter Arzt am Hofe des Königs, ihres Vaters, ein und erklärte, daß sie nur durch den Genuß einer Affenleber Gesundheit und Frohsinn wieder zu erlangen vermöge. Sofort traf man Anstalten, einen Affen herbeizuschaffen, den man schlachten könnte, um die Leber aus seinem Bauche zu bekommen. Die kluge Schildkröte ward ausersehen, die Reise nach dem Lande anzutreten, und erhielt den Auftrag, einen Affen lebend und gesund herbeizubringen. Also machte sich die Schildkröte auf und davon; sie kam ans Land und wanderte ins Gebirge, wo viele Affen leben. Aber so leicht war das nun allerdings nicht, eines dieser Thiere zu bewegen, mitzugehen, und deshalb mußte die Zuflucht zur Listge nommen werden. Eines Tages stellte sich die schlaue Schildkröte schlafend; sie lag da an einer schattigen Stelle und rührte kein Glied. Die neugierigen Affen kamen herbei und betrachteten sie von allen Seiten, und ein junges Aeffchen, das dreister als die anderen war, ging an sie heran und befühlte das schöne glänzende Schild, das sie auf dem Rücken trug. Da plötzlich fuhr sie empor, schnappte mit dem Maule nach dem Aeffchen und richtig bekam sie seine Hand zu fassen, welche sie mit dem Maule festhielt. Als die anderen Affen sahen, daß der Schildkröte nicht zu trauen war, liefen sie davon und ließen ihren jüngeren Gefährten im Stich.

Die Schildkröte aber sprach zu ihrem Gefangenen: »Wem du nicht willig thust, was ich dir sage, so tödte ich dich. Jetzt steig auf meinen Rücken; du mußt mit mir gehen.« Zur Sicherheit hielt sie fortwährend die Hand des Affen fest; was wollte das arme Thier also machen? Es fügte sich eben, so gut es ging, in sein Schicksal.

Die Schildkröte trabte nun, so rasch sie konnte, von dannen, dem Strande zu, und als das Wasser erst ihre Füße bespülte, da ging es pfeilschnell hinab in das Meer, dem Palaste der Meeresprinzessin zu. Alles freute sich, als der Affe glücklich auf dem Rücken der Schildkröte anlangte, und nun ward derselbe[65] so freundlich aufgenommen und so gut verpflegt, daß er bald alle Sorge vergaß und sich in der Fremde heimisch fühlte. Mitunter freilich überkam ihn doch das Heimweh, und dann ging er traurig umher und suchte ein stilles Plätzchen, wo er ungestört weinen und seufzen konnte. Und als ihn eines Tages wiederum diese Traurigkeit befiel, da trat die mitleidige Qualle zu ihm heran und sagte theilnehmend: »Ja, du magst wohl weinen, du armes Thier, ich beklage dich von ganzem Herzen! Deine Tage sind gezählt; nicht lange mehr kannst du dich deines Lebens freuen, dann wirst du geschlachtet und verspeist werden!«

Der Affe erschrak fürchterlich; er sprang auf und fragte hastig die Qualle, was er denn verbrochen hätte, daß man ihm nach dem Leben trachte?

»Du hast gar nichts verbrochen,« erwiderte die Qualle, »aber wie sollen wir deine Leber bekommen, ohne daß du geschlachtet wirst? Und deine Leber müssen wir haben, denn ohne die kann unsere Prinzessin nicht gesund werden. Also füge dich in dein Schicksal und mache keinen Lärm; es ist genug, daß ich dich von Herzen bedauere, mehr kannst du nicht verlangen.« Damit ging die Qualle fort, und der Affe war ganz starr vor Schrecken und Erstaunen. In seinen Eingeweiden wühlte es, und es war ihm, als würde seine Leber schon aus seinem Bauche geschnitten, so daß er sich unwillkürlich zusammenkrümmte.

Doch in seiner Herzensangst verlor er die Besinnung nicht, sondern er dachte darüber nach, wie er sich wohl retten könnte, und richtig! nach einigem Sinnen fand er guten Rath. Hatte ihn die Schildkröte schlau bethört, so sollte sie erfahren, daß er auch nicht zu den Dummen gehörte. So stellte er sich ganz sorglos und sprang vergnügt umher; als es aber bald darauf anfing zu regnen, begann er laut zu heulen und zu schreien. Die Schildkröte, welche zu seiner Hauptpflegerin bestellt war, kam herbei und fragte nach dem Grunde seiner Klagen, und da erzählte ihr der Affe mit den kummervollsten Geberden, er habe seine Leber zum Trocknen auf einen Busch gehängt, und wenn[66] es nun immerfort regne, so müsse sie verderben und er könne sie nicht mehr brauchen. Und dabei wehklagte und winselte der Schalk, daß es einen Stein erbarmen mußte, und rief fort und fort, warum man ihn so eilig aus seiner Heimat entführt hätte, ohne daß er seine Leber hätte mitnehmen können.

Nun war guter Rath theuer; verblüfft standen alle da, und sofort beschlossen sie, daß die Schildkröte den Affen wieder ans Land bringen solle, damit er seine Leber holen könne; zugleich ward sie bei strenger Strafe dafür verantwortlich gemacht, daß sie den Affen keinen Augenblick außer Acht ließe, damit er heil und gesund mit der werthvollen Leber zurückkäme. Der Affe aber wußte durch allerlei Reden, mit denen er den Aufenthalt im Palaste Riugu rühmte, die Schildkröte sorglos und vertrauensvoll zu machen, so daß sie zuletzt gar nicht mehr auf ihn Acht gab. Sie kamen ans Land, wanderten wohlgemuth in die Berge, und als der Affe seine Familie erblickte, entwischte er der Schildkröte und erzählte allen die entsetzliche Geschichte, die ihm widerfahren war. Und da gab es ein Zetergeschrei über die Unbill, und die Affengesellschaft kam überein, sich gehörig an der Schildkröte, die den Affen entführt hatte, zu rächen. Sie liefen auf sie zu, legten sie mit vereinten Kräften auf den Rücken und rissen ihr unbarmherzig das Brustschild vom Leibe. Mit bitteren Vorwürfen und Scheltreden überhäuft, jagten sie nun die Schildkröte fort, die noch froh war, mit dem Leben davon zu kommen. Matt und verdrossen eilte sie zu dem Palaste der Prinzessin Otohime zurück, denn ihre Brust, die kein Schild mehr hatte, war bloß, und die Kälte, die sie empfand, machte sie elend und krank. Als sie angelangt war und alles erzählt hatte, was ihr widerfahren, da wurde großer Rath gehalten und vor allem ausgeforscht, wie es wohl gekommen sein könne, daß der Affe erfahren habe, weshalb er aus seiner Heimat entführt sei. Und – siehe da – der Verdacht blieb auf Niemand anders als auf der unglücklichen Qualle hängen, und zuletzt mußte sie eingestehen, daß sie die Uebelthäterin sei und alles an den Affen ausgeplaudert habe.[67]

Da wurde die Prinzessin sehr böse und nahm zur Strafe der Qualle ihre Schale ab, aus der sie der Schildkröte ein neues Brustschild machen ließ. Und so ist es gekommen, daß die Qualle bis auf den heutigen Tag ihren weichen Körper ohne allen Schutz im Meere umhertragen muß. Wäre sie nicht vorwitzig gewesen und hätte sie nicht geplaudert, dann hätte sie ihre Schale wie alle anderen ihres Geschlechtes behalten.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 64-68.
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