Ukemotschi.

[103] Zur Zeit, als der Feuergott Kagutsutschi geboren und von seinem Vater Isanagi in drei Stücke gehauen wurde, da entstanden aus seinem Blute noch die Gottheiten des Ackerlandes und der Felder. Von diesen stammte in gerader Linie die nahrungspendende Göttin Ukemotschi.

Amaterasu, welche auf ihres Vaters Geheiß die Welt beherrschte, hörte einst oben im Himmel, wo sie residirte, von dieser nahrungspendenden Göttin und beauftragte ihren Bruder, den Mondgott Tsukuyomi, sich auf die Erde zu begeben und der Sache nachzuforschen. Tsukuyomi folgte sofort dem Befehle und fand auch alsobald die Göttin Ukemotschi auf. Er begrüßte dieselbe und erbat sich von ihr Speise, um seinen Hunger zu stillen. Ukemotschi, hoch erfreut über die Gesandtschaft, willfahrte seinem Wunsche nur zu gern; sie wandte sich gegen das Meer, und siehe da, es fielen zu Tsukuyomi's großer Verwunderung viel große und kleine Fische aus ihrem Munde, Fische mit breiten oder schmalen Flossen. Dann aber richtete sie sich gegen die Berge und Wälder, und alsogleich kamen aus ihrem Munde mancherlei Thiere, mit Federn und Haaren bedeckt. Ukemotschi wandte sich nun gegen das ebene Feld, und da kam aus ihrem Munde Reis hervor. Ukemotschi bereitete nun die Speisen und ordnete sie auf hundert kleinen Tischchen vor Tsukuyomi an. Dieser aber war nicht im Stande, einen Bissen zu essen; er[103] hatte der Göttin Treiben beobachtet, und es ekelte ihn vor den Speisen, die aus ihrem Munde gekommen waren. Sein Zorn entbrannte. »Abscheulich,« rief er, »welche verächtlichen Dinge sind dies? Wie kannst du wagen, mir so etwas vorzusetzen, und glauben, daß ich esse, was in so unreiner Weise aus deinem Munde hervorgegangen ist?« Ukemotschi war erschrocken; doch bevor sie noch ein Wort entgegnen konnte, hatte der Wütherich sie schon mit seinem scharfen Schwerte niedergehauen.

Tsukuyomi kehrte hierauf zum Himmel zurück und erzählte der Amaterasu den Verlauf seiner Sendung. Doch Amaterasu billigte sein grausames Verfahren durchaus nicht und war sehr erzürnt darüber. »Du bist ein Bösewicht,« sprach sie zu ihm, »wir sind fortan geschieden!« Darauf blieb sie einen ganzen Tag und eine ganze Nacht fern von ihm und ließ ihn den Himmel nur dann erleuchten, wenn sie es nicht that.

Zur Ukemotschi aber sandte sie nun einen anderen Himmelsgott, den Wolkengebieter Amakumanouschi, der sich erkundigen sollte, ob der armen Erschlagenen nicht mehr zu helfen sei. Ukemotschi aber war inzwischen gestorben und es war ihr nicht zu helfen. Dem Himmelsgotte war es sehr leid. Amaterasu keine bessere Nachrichten bringen zu können; doch als er die erschlagene Ukemotschi genau betrachtete, da sah er Wunderdinge, die ihn nicht wenig in Erstaunen setzten. Oben aus ihrem Scheitel da entsproßte das Rind und das Pferd; auf ihren Augenbrauen da wuchs der Maulbeerbaum und das Seidengespinst; aus den Augenhöhlen kam koreanische Hirse hervor und auf der Stirn wuchs die eigentliche Hirse. Auf ihrem Bauche da sproßten der wunderbare goldährige Reis, die große Bohne, die kleine, rothe Bohne und die Gerste.

Von allen diesen merkwürdigen Dingen nahm Amakumanouschi eine Probe mit sich in den Himmel hinauf, um sie der Sonnengöttin Amaterasu zu zeigen. Diese war darüber hoch erfreut und sprach: »Das sind vortreffliche Dinge; sie sind köstliche Speise für das herrliche Geschlecht der lebenden Menschen,[104] das bislang nur grüne Kräuter aß.« Doch auch der Himmel sollte Nutzen von der Entdeckung ziehen, denn Amaterasu ordnete an, daß dort der Reis angepflanzt würde, theilte die Felder ab und zog ihre Grenzen. Sie gründete Dörfer und gab ihnen Vorsteher, gerade so, wie es später ihre Nachkommen auf Erden thaten. Sofort ging es an die Bestellung der Reisfelder, und schon im nämlichen Herbste hingen auf den großen und kleinen Feldern der Himmelsebene von hochgewachsenen Halmen die schweren Ähren herab. Auf alle Hügel des Himmels aber pflanzte sie den Maulbeerbaum; sie nahm das Seidengespinst in den Mund und zog die feinen, glänzenden Fäden daraus hervor. Und wie sie sah, daß alles zu gedeihlichem Nutzen sich entfaltete, da ward auch die Erde mit allen diesen Dingen gesegnet. Amaterasu wurde die erste Lehrerin des Ackerbaues; sie bestimmte nach weiser Einsicht, daß der Reis auf den tiefer gelegenen Feldern zu bauen sei; die Hirse, die Gerste und alle Bohnenfrüchte sollten dafür auf die höher gelegenen Felder gepflanzt werden, wo sie vortrefflich gedeihen. Auch preist man sie als die Erfinderin der Kunst, die Seide zu spinnen und zu weben.

Seit jener Zeit aber wird Ukemotschi neben der Sonnengöttin Amaterasu auf Erden hoch geehrt, und viele Tempel, die man zu ihrem Ruhm erbaut hat, künden dies noch heute. Sie beschirmt vornemlich den Reisbau und thut dies vereint mit ihrem treuen Diener, dem weißen Fuchs; denn während sie für das Gedeihen der Reispflanzen sorgt, verjagt dieser die schädlichen Mäuse und Ratten, die der Frucht nachstellen. Und deshalb findet man auch neben den Heiligthümern der Göttin aus Stein gehauene Füchse als Sinnbild ihrer Gemeinschaft. Besonders tritt diese Sitte zu Tage vor dem großen Tempel von Inari unweit der großen Stadt Kioto, und deshalb erhalten oft die Göttin Ukemotschi sammt ihrem Diener, der häufig auch als alter Mann den Menschen erscheint, den Namen Inari-Sama, das heißt Herrin oder Herr von Inari.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 103-105.
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