Sosanoo und Inada.

[111] Sosanoo konnte sich noch immer nicht entschließen, in das Reich der Unterwelt, das er sich doch nach freier Wahl von seinem Vater als Wohnsitz erbeten, einzukehren, und so stieg er zunächst auf die Erde nieder, nachdem ihm in Folge seiner Vergehen der Himmel verschlossen war. Hier auf Erden dachte er noch einige Zeit zu verweilen; er durchstreifte Korea, wo er indessen nicht bleiben mochte, und kam nach Idzumo, das an der Nordküste des westlichen Japan liegt. Hier ging er am Ufer des Sonnenflusses hinauf, und als sein Blick die Wasserfläche streifte, da sah er zwei Eßstäbchen daher schwimmen. »Ah,« rief er aus, »da, woher ihr kommt, müssen auch Leute wohnen!« Und als er so gesprochen, ging er raschen Schrittes weiter, denn er war neugierig, zu erfahren, wer hier hauste. So wanderte er fort und fort und hörte endlich ein lautes Weinen und Wehklagen. Er stutzte, horchte und ging eilig nach der Gegend hin, woher die Jammertöne kamen, und wie er in eine Thalschlucht einbog, da sah er einen Greis mit seiner Gattin, zwischen denen ein wunderschönes Mädchen saß, das bitterlich weinte und schluchzte. Er vernahm, wie die beiden alten Leute das Mädchen vergebens zu trösten versuchten, und wie sie selbst immer wieder in laute Klagetöne ausbrachen. Eilig trat er herzu und fragte nach dem Grunde ihrer Klagen.

»Ich bin Aschinadzutschi, der Gott dieses Landes,« sprach der Greis. Er hatte sich erhoben und grüßte mit tiefer Verbeugung den Fremdling; dann fuhr er fort: »Friedlich pflege ich mit den meinen des Reisbaues, und es bliebe uns nichts zu wünschen übrig, wenn wir nicht von einer furchtbaren, unbeschreiblich grausamen Plage heimgesucht wären. Sieben Töchter, welche mir diese meine Frau schenkte, sind bereits von einem gewaltigen Seeungeheuer verschlungen. Das Ungethüm kam daher, wenn meine Töchter gerade in der Blüthe ihrer Schönheit standen,[112] doch es kannte kein Erbarmen, es kümmerte sich nicht um unser Wehgeschrei, sondern verschlang sie. Nun haben wir nur noch unsere letzte Tochter, unsere schöne und gute Inada, und auch diese wird das Ungeheuer uns rauben, wir wissen es nur zu wohl, und deshalb klagen und weinen wir mit unserem lieben Kinde.«

Sosanoo war über die Maßen erstaunt, als er die Leidensgeschichte des Greises hörte. Er erkundigte sich umständlich nach dem Ungeheuer, das so viel Leid verursachte, und erfuhr, daß dasselbe ein fürchterlicher Drache mit acht Köpfen sei, dessen glühende Augen weithin leuchteten und so roth wie rothe Beeren wären. Sein Rücken sei mit förmlichen Wäldern bewachsen und sein Bauch sei blutroth und stets mit Blut besudelt, das ganze Ungethüm aber so lang wie eine Thalwindung.

Jetzt gab sich Sosanoo zu erkennen und versprach den Aermsten Hülfe in ihrer Noth. Zugleich aber bat er den Greis und seine Gattin, ihm die schöne Inada zur Frau zu geben, im Fall es ihm gelingen sollte, dieselbe aus den Klauen des Drachen zu erretten. Mit tausend Freuden versprachen dies die alten Leute, und auch Inada war es zufrieden. Nachdem nun Sosanoo ein Weilchen über die Sache nachgedacht hatte, gebot er den Eltern, eine große Menge Sake zu bereiten, das ist feuriger Wein, den die Japaner aus Reis herstellen. Er selbst baute acht Zimmer, die er oben offen ließ, und in jedes derselben stellte er einen großen Bottich mit Sake. Als nun das Ungeheuer im Anzuge war, da zog er rasch Frauenkleider an und stellte sich so, daß sein Spiegelbild auf dem ersten Bottich zu sehen war. Der gierige Drache sah den Schatten und stürzte sich sofort auf den Bottich, da er glaubte, der Schatten sei die Jungfrau selbst. Blindlings leerte er den Bottich voll Sake, und als er empor sah, da schwebte der Schatten auf dem zweiten Bottich, und ebenso rasch und gefräßig fiel das Ungeheuer über diesen her. Und wie auch der geleert war, so ging es an alle die übrigen, aller Sake ward verschlungen, und ganz wie Sosanoo es sich gedacht, so kam es. Als der Drache den achten und letzten Bottich[113] geleert hatte, fiel er betrunken zur Erde, schlief ein und rührte kein Glied. Jetzt trat Sosanoo hervor, zog sein Schwert und hieb mit kräftiger Hand dem Unhold alle seine Köpfe ab und zerschnitt den mächtigen Körper. Als er aber den Schwanz durchhauen wollte, da ward sein gutes Schwert schartig; er verwunderte sich sehr darüber, denn das war ihm noch nie geschehen. Als er aber der Ursache nachforschte, da entdeckte er in dem Schwanze des Drachen ein Schwert, das ungleich besser als das seinige war. Er nannte es das Wolkenschwert, weil der Drache stets mit dickem Gewölk umgeben war, und sandte es zu fernerer Sühne an seine Schwester Amaterasu in den Himmel hinauf zum Geschenk. Diese hielt das wunderbare Schwert hoch in Ehren und gab es später ihrem Enkel, dem Urahn der Mikados, mit auf die Erde hinunter. Alsdann ist es mit den übrigen Schätzen der Mikados von einem auf den anderen übergegangen, und viele große Heldenthaten sind mit ihm verrichtet, insbesondre durch den berühmten Kaisersohn Yamatodake, durch den es den Namen Grasmäher erhielt, wie die Sage von diesem Helden berichtet.

Nachdem Sosanoo die schöne Inada, ihre Eltern und das ganze Land von dem gräulichen Drachen befreit hatte, da bekam er zur Belohnung, wie ihm versprochen war, Inada zur Gemahlin. Er errichtete ein Haus in Idzumo und machte auf seinen Sieg über den Drachen und seine Vermählung das älteste Gedicht, das man in Japan kennt, daher man ihn als Erfinder der Dichtkunst preist. Auch lebte er mit Inada glücklich und vergnügt und bereute es nie, noch eine Weile auf der Erde geblieben zu sein. Sein und der Inada Sohn aber wurde der Ahn eines Herrschergeschlechtes, dessen berühmtester Sprößling, Ookuninuschi, sich rühmen konnte, Sosanoos Urenkel zu sein.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 111-114.
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