23. Die tapfere Tochter.

[109] Ein alter Adliger hatte drei Töchter, aber keine Söhne. Eines Tages fiel es ihm ein, daß er eigentlich die Tapferkeit seiner Töchter erproben könnte und zu diesem Zwecke befahl er der ältesten Männerkleider anzulegen, ein Pferd zu besteigen und auf Abenteuer auszuziehen. Er selbst aber lauerte ihr unter einer Brücke auf, über die sie kommen mußte. Als nun seine Tochter gerade über diese Brücke ritt, sprang der Alte hervor und tat, als ob er sie angreifen wollte; sie erschrak aber so heftig, daß sie ohnmächtig vom Pferde fiel.

Am folgenden Tage schickte er seine zweite Tochter aus. Auch der lauerte er wieder auf und als er sie angriff, brannte ihr Pferd durch und sie fiel, wie die erste, in Ohnmacht. Der Alte hob seine Tochter auf und trug sie nach Hause.

Dann schickte er seine Jüngste auf Abenteuer. Wieder lauerte ihr Vater unter der Brücke, sprang plötzlich hervor und griff seine Tochter an. Das Pferd tat erschreckt einen Seitensprung; die Reiterin aber hielt es mit starker Hand zurück und gab ihm einen Schlag mit der Reitpeitsche, der auch noch ihren Vater den einen kleinen Finger kostete. Trotz des Schmerzes freute sich der Vater über den Mut seiner Jüngsten, ließ sie weiterreiten und kehrte nach Hause zurück. Das Mädchen aber ritt, als es über die Brücke war, geradeaus. Ob sie lange so weiterritt, oder nicht, wer weiß es? Aber schließlich kam sie in einen Ort. »Was gibts Neues bei euch?« frug sie den ersten besten. »Bloß dies eine,« antwortete man ihr, »daß unser Chan für seinen Sohn ein Mädchen freien will, das von vielen Wächtern und Geistern bewacht wird, und daß sich niemand findet, der den Auftrag ausführen will.« Der unbekannte Ritter aber gefiel durch sein Benehmen allen so sehr, daß sie ihn baten, doch diese schwierige Sache[110] auf sich zu nehmen. Nach vielen Bitten willigte das Mädchen endlich ein.

Sie machte sich also auf die Suche. Unterwegs kam sie durch eine brennende Steppe und fand drei junge Schlangen, die dem Feuer zu entkommen suchten. Sie hob sie mit ihrer Reitpeitsche auf und rettete sie so. Als sie die brennende Steppe hinter sich hatte, setzte sie die Tierchen wieder auf den Boden und ritt ihnen dann nach, ohne sie aus dem Auge zu verlieren. Die Schlangen aber krochen auf einen großen Kurgan24 zu. Als sie näher kamen, öffnete sich dieser und hinter den Schlangen trat auch das Mädchen ein. In dem Kurgan aber hauste ein guter Geist, die Mutter der drei jungen Schlangen. »Jedes Jahr bekomme ich drei Junge,« sagte diese, »aber jedesmal kommen sie mir im Steppenbrande um; wärest du nicht dagewesen, hätte ich auch diese drei verloren. Es gibt nichts, was ich für dich nicht tun würde. Sag, was wünschest du?« »Für mich persönlich will ich nichts. Aber ich bin auf der Suche nach einem gewissen Mädchen. Hilf mir dabei.« »Das ist nicht schwer,« entgegnete die Schlangenmutter, »nur kannst du auf diesem Pferd nicht dahinkommen. Setz' dich lieber auf einen Rappen. Wenn du an Ort und Stelle bist, verstecke dich hinter dem Haus und lauere auf sie, wenn sie ausgeht; dann springe mit deinem Rappen über den Zaun und wenn er dann niederkniet, packe das Mädchen und reite, was dein Pferd nur hergeben kann; niemand wird dich einholen und du kannst wohlbehalten heimkehren.«

Also setzte sich das Mädchen auf den Rappen und machte sich auf den Weg. Sie tat alles so, wie ihr geheißen worden war; trotz allem Geschrei der Wächter brachte sie das geraubte Mädchen glücklich fort. Als sie in die Stadt des Chans, für den sie den Auftrag ausführte, kam, sagte das geraubte Mädchen zu ihr: »Ich werde die Heiratsurkunde erst unterzeichnen, wenn man mir den Koffer[111] mit sieben Schlössern bringt, der in ein Hundefell eingewickelt in einem geheimen Zimmer steht«. Unsere Heldin wandte sich also wieder an die Schlangenmutter um Rat. »Wenn du das ausführen willst,« sagte diese, »so mußt du auf einem Grauen hinreiten. Wenn du an ihr Haus kommst, ahme den Hundegang nach, und niemand wird dich stören. Wenn du drin bist, rühre die Türen mit diesem Stöckchen an; sie werden sich dann von selbst öffnen, und wenn du das Hundefell anfaßt, geht es gleichfalls von selbst auf; nimm dann den Koffer und reite zurück.«

Die Heldin führte alles so aus, wie ihr geraten worden war. Aber die Braut wollte, obgleich sie jetzt ihren Koffer hatte, von einer Heirat nichts wissen. »Im Meere leben ein Büffelstier und sieben Büffelkühe,« sagte diese, »die führe mir zuerst her und melke die Kühe. Die Milch mußt du dann kochen und heiß in einen Trog gießen. Da werde ich dann von der einen Seite hineinspringen und durchschwimmen, von der anderen Seite soll der hineinspringen, der mich heiraten will. Schwimmt er auch durch, so bin ich einverstanden, wenn nicht, heirate ich ihn nicht.«

Wieder mußte unsere Heldin sich auf den Weg machen. Die Schlangenmutter sagte ihr: »Setze dich diesmal auf einen Falben und reite ans Meer. Wenn du dort bist, wälze dich mit deinem Pferd in schwarzem Sande und reite dann ins Meer hinein. Wo die Büffel auch sein mögen, dein Falber findet sie. Gib nur acht, daß du nicht vom Pferd fällst, wenn der Stier dich anfällt.« Alles führte die Heldin getreulich aus. Der Büffel griff sie an, aber sie trieb ihn ans Ufer. Der Büffel aber verfluchte sie – und die Verwünschungen dieses Büffels gingen immer in Erfüllung. »Wer uns aus dem Meere jagt, soll ein Weib werden, wenn es ein Mann ist und ein Mann, wenn es ein Weib ist«, brüllte er. Und in der Tat, unsere Heldin verwandelte sich sofort in einen Mann. Als er nun die Büffelkühe heimgetrieben hatte, ließ er sie melken und die Milch kochen. Die Milch wurde dann in einen Trog getan und die Braut[112] warf sich von der einen, der Sohn des Chans von der andern Seite hinein. Der aber wurde in der heißen Milch zerkocht und man mußte seinen Körper herausfischen; die Braut aber schwamm durch.

»Der Sohn des Chans ist tot!« riefen alle, »der soll jetzt die Braut haben, der sie geholt hat!«

So geschah es denn auch und sie lebten glücklich und zufrieden miteinander.

24

Künstlicher Grabhügel.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 109-113.
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