[80] 26. Die Heldenzwillinge

Es war einmal ein einsames Dorf; in dem lebte nur ein einziger Mensch, ein Mädchen; sonst niemand. Und eines Tages spürte sie, daß sie schwanger war. Sie brach von einem gewissen Baume ein Blatt und fächelte sich damit den Leib. Da kam sie in ganz kurzer Zeit nieder. Zwillinge waren es, die sie zur Welt brachte, zwei Knaben. Überraschend schnell wuchsen sie auf und wurden groß und stark. Und die Mutter lehrte sie Speere herzustellen und mit ihnen nach einem Ziel zu werfen. Die Knaben zeigten sich sehr gelehrig. Da sagte die Mutter eines Tages zu ihnen: »Seht ihr jenen Baum dort? Versucht einmal, ihn mit euren Speeren zu treffen.« Und der Baum zerbarst. »Jetzt seid ihr so stark, daß ihr niemanden mehr zu fürchten habt,« sagte die Mutter stolz. »Wo gibt es kriegerische Männer?« fragten die Knaben, denn sie lechzten danach, ihre Kraft und Geschicklichkeit zu erproben. »Hier in der Nähe gibt es keine,« antwortete die Frau, »aber weiterhin im Busch liegt ein Dorf, dort werdet ihr welche finden.« Die beiden Knaben nahmen ihre Waffen, machten sich auf den Weg, und als sie durch den dichten Busch kamen, [80] entdeckten sie auf einem Baume zwei feindliche Männer. Sie rannten gegen den Baum und brachten ihn mit ihren Schulterstößen zum Stürzen. Am nächsten Augenblick lagen schon die Männer, von den Speeren der Knaben am Boden festgenagelt, stöhnend auf dem Rücken. Die Zwillinge brachten die Verwundeten auf die Beine und schleppten sie ins Dorf zu ihrer Mutter. Dort erschlugen sie die Männer mit ihren Äxten, zerlegten und kochten die Körper und fraßen sie auf. Nun wies die Mutter ihre Söhne an, eine mächtige Baumstammtrommel herzustellen. Als sie fertig war, bearbeiteten die Knaben sie mit ihren Schlegeln, daß es weit über Meer und Busch dröhnte. Viele Männer vernahmen den durchdringenden Schall und kamen herbeigelaufen. Die Mutter schickte ihre Kinder in ein Versteck und hieß sie, auch die große Trommel mitzuschleifen. Die fremden Männer stürmten nun ins Haus und fragten die Frau: »Wer hat denn hier eine Trommel geschlagen?« »Ich weiß es nicht, hier im Dorfe gibt es überhaupt keine Männer.« Da verzogen sich die Leute wieder. Nach kurzer Zeit schlugen die Knaben abermals die Trommel aus allen Kräften. Da kamen viele Leute in Booten übers Meer gefahren, landeten und fragten die Mutter: »Wer hat denn hier eine große Trommel geschlagen?« »Ich weiß es nicht,« sagte sie, »hier gibt es gar keine Männer.« Aber einer von den Fremden schlug vor, »laßt uns im Busch suchen, ich glaube, sie haben sich hier versteckt.« Da fanden sie die beiden Knaben. Alle sahen sie die beiden starken Jungen an, auch die Mädchen, die mit den Fremden gekommen waren. Und sie bewunderten ihre stolzen Körper und ihre entschlossenen Mienen. Ein jedes Weib aber hatte den Wunsch, einen von den beiden Helden zum Manne zu bekommen. Doch die Mutter wollte ihre Kinder nicht hergeben. Diese fingen nun alle ihre Schweine ein, brieten sie und luden die Fremdlinge zu einem großen Schmause. Auf einer langen Planke wurden die Gerichte aufgetischt. Alles ließ sich nun zum Mahle nieder; die beiden Knaben aber saßen auf einer [81] Bank und sahen ihre Gäste schmausen. Aller Mädchen Augen aber hingen an den Knaben. »Wunderbare Krieger sind sie,« sagten die Weiber. Die Männer aber fragten die Mutter: »Woher stammen die Knaben, wer ist ihr Vater?« »Sie haben keinen,« sagte die Frau, »ich habe sie ohne Mann zur Welt gebracht.« »Du lügst,« riefen etliche Gäste, andere aber meinten bewundernd: »Du hast prächtige Männer geboren. Sie haben zwei starke Feinde im Kampf erlegt, Donnerwetter ja, das werden noch einmal große Krieger.« Die Mutter aber ging hin und zerbrach die Kalkflaschen der Knaben. Zornig fuhren die Jungen auf, und erhoben die Hand gegen die Mutter, aber im selben Augenblick verloren sie ihre Menschengestalt und wurden zu Vögeln. Als die Mutter das sah, brach sie weinend zusammen. Sie weinte und weinte, und hörte nie mehr auf zu weinen und zu klagen. Und heute noch lebt sie im sumpfigen Busch als Kröte.

Quelle:
Hambruch, Paul: Südseemärchen. Jena: Eugen Diederich, 1916, S. 80-82.
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