[216] 52. Die Geschichte von den Tieren, die sich ein Boot bauten

Vier Vögel, der Krebs und die Ratte zogen aus, um sich ein Boot zu bauen. Sie gingen in den Wald und holten sich Bauholz. Da es sehr heiß war, wurden sie bald durstig und sandten einen Vogel fort, um Wasser zu holen. Das gab es jedoch nur im Lande der Eidechsen. Die Eidechse füllte ihm die Schalen mit Wasser und sagte zu ihm: »Nun laß mich auch einmal trinken, dann kannst du gehen.« Der Vogel wollte ihr nichts abgeben und antwortete: »Nein, du bekommst nichts von dem Wasser; wir brauchen es selber, denn meine Freunde und ich sind beim Holzfällen.« Da wurde die Eidechse wütend. Sie nahm dem Vogel das Wassergefäß weg, warf es ihm an den Kopf und eilte in den Busch. Der Vogel hatte nun kein Wasser; und seine Kameraden starben fast vor Durst.

Da sprach der Krebs: »Jetzt werde ich es versuchen; ich will hingehen und Trinkwasser holen.« Er tat es; und die Eidechse gab ihm bereitwilligst das erbetene Wasser. Wiederum sagte die Eidechse: »Nun laß mich auch einmal trinken, dann kannst du gehen.« Der Krebs wollte ihr nichts abgeben und antwortete: »Nein, du bekommst nichts von dem Wasser; wir brauchen es selber, denn meine Freunde und ich sind beim Holzfällen.« Da wurde die Eidechse wütend. Sie [216] fuhr auf den Krebs los und wollte ihn töten. Der richtete sich jedoch auf und zwickte die Eidechse mit den Scheren in die Zunge. Sie schrie: »Krebs, lieber Krebs, laß los!« Der zwickte die Eidechse weiter, so lange bis sie tot war.

Er ging zu seinen Kameraden zurück, und die Sechse bauten ihr Boot fertig. Dann setzten sie sich hinein und wollten ein wenig spazierenfahren. Als sie auf dem Meere waren, wurde das Boot leck und füllte sich langsam mit Wasser. Da sagten sie: »Was sollen wir nun anfangen!« – »Ich werde fortfliegen,« sprach der eine Vogel. – »Das wollen wir auch tun,« sagten die anderen drei Vögel. Der Krebs sprach: »Ich werde mich hier unter die Ruderbank setzen.« Die Ratte aber klagte: »O weh, was soll ich tun? ich kann nicht fliegen und unter die Ruderbank kann ich mich auch nicht setzen.«

Kaum hatte sie das gesagt, als das Boot schon voll Wasser gelaufen war und unterging. Die Vögel flogen davon, der Krebs kroch unter die Ruderbank – er konnte im Wasser leben – und die Ratte versuchte, sich durch Schwimmen zu retten. Die Strecke bis zum Strande war weit, und sie wäre fast eines kläglichen Todes gestorben. Als die Not am größten war, kam zufällig ein Tintenfisch vorbei. Er bemerkte die ertrinkende Ratte und sagte zu ihr: »Ich werde dir helfen; komm, steig auf meinen Rücken, dann will ich dich an den Strand tragen.« Die Ratte stieg nun auf den Tintenfisch, und beide schwammen dem Ufer zu. Unterwegs wurde die Ratte hungrig; weil sie nichts anderes zu essen hatte, biß sie den Tintenfisch in den Kopf und fraß ihm sein Hirn auf. Der merkte es jedoch nicht, und so kamen sie an den Strand. »Steig ab und gehe ans Land,« sagte der Tintenfisch. Die Ratte stieg ab und ging ans Land. Als sie unter den Palmen war, wendete sie sich zum Tintenfisch um und rief ihm zu: »Heda, Tintenfisch, faß einmal auf deinen Kopf!« – »Was soll ich mich denn auf den Kopf fassen? Was ist da?« rief der Tintenfisch zurück. »Tintenfisch, faß doch einmal auf deinen Kopf,« höhnte die Ratte wieder.

[217] Da befühlte der Tintenfisch seinen Kopf und merkte, daß die Ratte ihm das Gehirn aufgefressen hatte. Wütend kehrte er um, eilte hinter der Ratte her, um sie zu fangen und zu bestrafen. Die Ratte lief schnell an einem Baume hinauf, und als der Tintenfisch einen Fangarm ausstreckte, um die Ratte herabzuholen, biß sie ihn ab; so biß sie jeden Fangarm ab, den der Tintenfisch ausstreckte, bis er schließlich alle acht Arme verloren hatte und sein verstümmelter Körper am Fuße der Palme liegen blieb.

Jetzt stieg die Ratte vom Baum herab. Weil gerade zwei Frauen des Wegs gegangen kamen, sagte sie zu ihnen: »Hier, nehmt den Tintenfisch mit und kocht ihn, dann wollen wir ihn verzehren.« Die Frauen taten, was die Ratte befohlen hatte; sie aßen den Tintenfisch und starben daran alle drei.

Leute kamen herbei, trugen die Körper fort und warfen sie in die Höhlen am Strande. Dort blieben sie, und wenn die Menschen sich in der Nähe der Höhlen unterhalten oder einander etwas zurufen, dann äffen sie ihre Stimmen nach.

Quelle:
Hambruch, Paul: Südseemärchen. Jena: Eugen Diederich, 1916, S. 216-218.
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