[254] 64. Sina

Es lebten einmal ein Mann und eine Frau, die hießen Tafitofau und Ongafau. Sie hatten zwei Kinder, zwei Knaben, welche Tulifauiawe und Tulau'ena genannt wurden. Sie wuchsen heran und waren sehr schön. Nun lebte auch um die Zeit ein Mädchen, das hieß Sina; und überall, weit und breit redete man von der überirdischen Schönheit dieser Jungfrau. Viele junge Leute bewarben sich um ihre Hand. Und so rüsteten sich eines Tages die beiden Brüder ebenfalls zur Brautfahrt. Sie brieten ein Schwein, zerschnitten es, aßen jedoch nichts davon, sondern überließen alles den Eltern; sie nahmen nur einen kleinen [254] Knöchel mit. Als sie nach dem Hause kamen, wo Sina wohnte, war dies voll von vornehmen jungen Leuten, welche alle Söhne von Häuptlingen waren. Jeder wollte das schöne Mädchen heimführen, und um ihr Herz zu gewinnen, hatte jeder ein Geschenk mitgebracht. »Ich schenke dir ein Schwein,« sagte der eine. »Ich schenke dir ein Huhn,« sagte ein anderer, und so wurden viele, viele schöne Sachen ins Haus gebracht. Da sprach Tulau'ena: »Hier, ich habe dir ein Schweinsknöchelchen mitgebracht.« Das Mädchen antwortete: »Das ist aber schön. Komm her, setze dich neben mich, und wir beide wollen dein tauga verzehren.« Jetzt ärgerten sich die übrigen sehr, weil das Mädchen den lumpigen Knöchel all den anderen Geschenken vorzog und sie einfach unbeachtet ließ.

Als es Abend geworden war und die Schlafenszeit herankam, die Zeit, wo man die Schlafmatten verteilt, brachte Sina jedem der Jünglinge eine Matte, dem einen diese, dem andern jene; ihre eigene Matte breitete sie aber für sich und Tulau'ena aus. Und als alle fest schliefen, erhoben sich leise Sina und Tulau'ena, schlüpften aus dem Hause und liefen davon, um fortan miteinander zu leben.

Sie lebten zusammen und gründeten ihre Familie. Doch der ältere Bruder Tulifauiawe neidete seinem Bruder die schöne Frau; und sann schließlich auf eine List, wie er den Tulau'ena wohl töten könnte.

Eines Tages sprach Tulifauiawe zu Tulau'ena: »Komm mit. Laß uns Bonitos fangen und für die Familie Essen holen.« Sein Bruder willigte ein; doch bevor er zum Hause hinausging, sagte er zu seiner Frau: »Sina, komm her, es ahnt mir, als ob ich sterben müßte. Wenn du siehst, daß sich die Brandung blutrot bricht, dann bin ich tot. Dann verlasse dein Haus, wandere, wandere und suche nach mir, bis du mich gefunden hast. Wenn aber die Brandung, wie gewöhnlich, weiß bricht, dann lebe ich.«

Darauf sagte er seiner Frau Lebewohl, und die beiden Brüder gingen auf den Bonitofang. Sina folgte ihnen nach einer [255] Weile und setzte sich an den Strand, um die Brandung im Meer zu betrachten, denn die Unterhaltung mit ihrem Gatten hatte sie ängstlich gemacht und ihr das Herz mit Sorge erfüllt. Das Boot fuhr sehr weit ins Meer hinaus. Es sprach der Jüngling Tulau'ena: »Warum fährt unser Boot denn so weit, hier ist ja eine Unzahl Bonitos?« Aber sein Bruder antwortete: »Rudere nur weiter, wir wollen dahin, wo die einäugigen Bonitos sind.« Schließlich gelangten sie an die Stelle, weit, weit, auf hoher See, und fingen eine solche Menge Bonitos, daß das Boot benahe untersank. Darauf fuhren sie wieder nach Hause; und als sie nahe am Riffe waren, begann Tulifauiawe die Fische in Stücke zu schneiden. Er warf sie dem Tulau'ena zu und rief: »Hier, paß auf! Fang!« Da fing Tulau'ena die Stücke auf. Doch einmal warf sein Bruder absichtlich schlecht und das Stück fiel vorbei, ins Meer hinein. Da rief er ihm zu: »Heda, rasch! spring nach und hol das Stück Bonito wieder.« Tulau'ena antwortete: »Ach was, laß es fahren; es ist ja genug im Boote.« Tulifauiawe ließ jedoch nicht locker; und alsbald sprang Tulau'ena hinter dem Stück Bonito her. Er erwischte und brachte es auch nach oben. Als aber sein Rücken aus dem Wasser herausschimmerte, nahm Tulifauiawe seinen Speer und durchbohrte ihn.

So starb Tulau'ena. Tulifauiawe fuhr jedoch unbekümmert an Land und freute sich, daß er Sina nun zur Frau nehmen konnte.

Als Sina sah, daß die Brandung sich rot färbte, da dachte sie sogleich, daß ihr Gatte Tulau'ena tot war. Sie stand auf und wanderte fort, um ihn zu suchen, wie er es gewünscht hatte. Überall suchte sie ihn, doch war er nirgends zu finden. Da traf sie endlich eine Taube und klagte:


»Le lupe, eo le manu a aliei,

Faeamolemole a foeu fesili,

Pe naeua fau nei loeu fili?«

»Taube, du herrlicher Vogel, du sollst es mir sagen,

Bitte erhöre doch meine Fragen,

Kam hier mein Liebster, mein Gatte vorbei?«


[256] Die Taube1 antwortete höhnisch: »Das Schwein ging weg, nachdem es mit mir hier gesprochen hatte.« Sina sprach: »Weil du so schlecht von meinem Manne sprichst, will ich dich bestrafen; sieh diesen Stein hier, den Mattenbeschwerer, den sollst du nun immer auf der Nase tragen.« Daher stammt die Anschwellung auf der Nase der Taube.

Sina ging weiter und begegnete dem Purpurhuhn. Sie klagte wie vorher. Da antwortete das Huhn: »Sina, komm nur her, gerade ist der Mann hier fortgegangen.« »Weil du so freundlich gegen mich bist,« sagte Sina, »will ich dir Federn von meiner Matte schenken und sie dir auf die Nase setzen.« Sie tat es.

Dann ging sie weiter und traf eine kleine weiße Taube. Sie klagte wie vorher. Da antwortete die kleine weiße Taube: »Ja, er ist schon vorübergegangen.« – »Komm Freund,« sagte Sina, »weil du so gut gegen mich bist, will ich dir meine weiße Matte schenken, und du kannst sie auf deiner Brust tragen.« Und sie tat es.

Sina wanderte weiter und kam zur großen Taube. Sie klagte:


»Du große Taube, du sollst es mir sagen,

Bitte, erhöre doch meine Fragen,

Kam hier mein Liebster, mein Mann vorbei?«


Die Taube antwortete: »Soeben ist er weggegangen.« Da sagte Sina: »Freund! Weil du mit mir so freundlich bist, schenke ich dir hier mein Bündel roter Federn, meine rote Matte für deine Nase und meine weiße Matte für deine Brust.« Und sie tat es.

Dann ging Sina weiter und kam zum Papagei. Sie klagte:


»Papagei, du Schöner, du sollst es mir sagen,

Bitte, erhöre doch meine Fragen,

Kam hier mein Liebster, mein Mann vorbei?«


Da sagte der Papagei: »Komm, Mädchen, und ziehe weiter, bis du die Frau Matamolali triffst. Halte sie fest und schlage ihr mit einem Kokoswedel ins Gesicht.« Sina antwortete:

[257] »Du bist so freundlich mit mir, dafür schenke ich dir ein Bündel roter Federn für deine Brust, ein Walzahnhalsband für deinen Schnabel und eine braune Matte für deinen Schwanz. Zur Belohnung erlaube ich dir auch, von den Nüssen der Kokospalme und den süßen Früchten im Walde zu essen.«

Sina wanderte nun weiter und kam zur Frau Matamolali. Sina hielt sie fest und schlug ihr mit einem Kokoswedel ins Gesicht. Da schrie die Frau: »Wer ist diese ungezogene Person in Samoa, die mich ins Gesicht schlägt?« Sina antwortete: »Ich möchte dich gern fragen, ob du weißt, wo mein Geliebter ist?« Die Frau erwiderte: »Was heißt das, dein Geliebter?« Sina sprach: »Nun, mein Mann, der gestorben ist.« Da sagte die Frau: »Geh nur ins Haus; ich will mich aufmachen und ihn suchen.«

Matamolali ging fort und öffnete das Lebenswasser, während sie das Todeswasser absperrte. Da kam ein Strom von vornehmen schönen Jünglingen und Mädchen herunter und am Schlusse ging der junge Tulau'ena. Matamolali ging auf ihn zu und sagte: »Gib mir deine Halskette.« Da näherte sich ihr Tulau'ena, und die Frau griff nach ihm, um ihn festzuhalten. Sie schlug ihn und tauchte den Jüngling darauf im Lebenswasser unter. Tulau'ena jammerte und schrie: »Laß mich leben!« Die Frau antwortete:


»Du willst leben?

Und wohin gehen die anderen?

Nach Westen!

Und wohin gehen die anderen?

Nach Osten!

Und wohin gehen die anderen?

An's Land!

Und wohin gehen die anderen?

An's Meer!

Und wohin gehen die anderen?

Nach oben!

Und wohin gehen die anderen?

Nach unten!


[258] Komm, laß uns gehen!«

Darauf kehrten sie zum Hause von Matamolali zurück.

Als Sina sie nahen hörte, sprang sie auf und versteckte sich. Und Matamolali sagte: »Mädchen, bring eine neue Kleidmatte für den Häuptling. Er soll sie anlegen, denn seine ist ganz naß geworden.« Da griff Sina nach ihrer Matte und warf sie der Frau hin. Als Tulau'ena sie besah, schnalzte er mit der Zunge. Und die Frau sagte zu ihm: »Was soll das bedeuten? Warum schnalzst du mit der Zunge?« Tulau'ena antwortete: »Ich liebe die Matte; sie schaut aus wie die von meiner Frau Sina.« Matamolali erwiderte: »Stimmt das auch? ist die wirklich so? Dies ist jedenfalls meine Matte.« Dann sagte die Frau zu Sina: »Bring mir den Kamm, damit ich das Haar des Häuptlings kämmen kann.« Tulau'ena betrachtete den Kamm und schnalzte mit der Zunge. Und wieder sagte die Frau zu ihm: »Was soll das nur bedeuten? Warum schnalzst du mit der Zunge?« Tulau'ena antwortete: »Der Kamm schaut so aus wie der von meiner Frau Sina.« Matamolali antwortete: »Stimm das auch? Sieht der Kamm wirklich so aus? Dies ist jedenfalls mein Kamm.«

Da schwieg Tulau'ena und redete nicht mehr; er war sehr betrübt, weil alles, was er sah, so ganz den Sachen von Sina glich.

Nun rief Matamolali: »Sina, komm hervor, zeige dich dem Manne, der fast vor Liebe krank wird.« Da sprang Sina aus ihrem Versteck hervor und umschlang seinen Leib. Sie weinten und herzten sich. Und fortan wohnten sie bei der Frau Matamolali. Sina bekam viele Kinder; und Matamolali behandelte sie alle, als ob sie ihre eigenen Kinder wären. So gut war sie gegen Sina, Tulau'ena und ihre Kinder.

Das ist die Geschichte von Sina.

1

Fruchttaube.

Quelle:
Hambruch, Paul: Südseemärchen. Jena: Eugen Diederich, 1916, S. 254-259.
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