2. Sippe: Telephorinen

[110] Mancher meiner Leser hat vielleicht schon Kenntnis von Zeitungsberichten über »Schneewürmer« genommen, die mit dem ersten Winterregen auf den Schnee gefallen sein sollen. Schon 1672 wurde diese Erscheinung am 20. November in Ungarn bemerkt und sorgfältig aufgezeichnet; ein gleiches »Wunder« ereignete sich, wie Degeer erzählt, im Januar 1749 an verschiedenen schwedischen Orten, und es wird dabei des Umstandes gedacht, daß man schon früher solche Würmer einzeln mitten auf dem Eise und Schnee eines Sees gefunden habe, so daß also der Wind sie offenbar fortgeführt haben müsse. Am Ausgange eines sehr strengen Winters (11. Februar 1799) erregte jene Erscheinung im Rheingaue, an der Bergstraße, bei Offenbach, Bingen usw. solches Aufsehen, daß die darauf bezüglichen Aussagen von dem Kantonsgerichte in Stromberg von Personen zu Protokoll gegeben wurden, welche an jenem Tage das Herabregnen der Insekten im Freien gesehen haben wollten. Daß der Aberglaube, der immer aus ungewohnten Naturerscheinungen eine Ankündigung göttlicher Strafgerichte herauszulesen gewohnt ist, auch damals die untrüglichsten Vorbedeutungen von Pestilenz, Hungersnoth und allen Schrecknissen eines neuen Krieges in jenen zum Theil übertriebenen Gerüchten erkannte, läßt sich wohl erwarten. Im Februar 1811 wurden dieselben »Würmer« in Sachsen und am 30. Januar 1856 in der Schweiz beobachtet. Hier, besonders in Mollis (Glarus) trieben sie sich in einer Größe von 13 bis 33 Millimeter auf einer Schneedecke eines fünfundzwanzig bis dreißigtausend Quadratruthen haltenden Flächenraumes in solcher Menge umher, daß ungefähr fünf bis sechs Stück auf die Quadratklafter kamen, ja in der Nähe des Waldes zwölf bis funfzehn. Einzelne fanden sich sogar auf den Dächern des Dorfes. In allen angeführten Fällen gab es eine vernünftige Er klärung der an sich wunderbaren Erscheinung, wenn man sie nur suchte. Die Berichte über die beobachteten Nebenumstände stimmen alle darin überein, daß jene »Würmer«, die wir gleich näher kennen lernen werden, und von denen zunächst bemerkt sein mag, daß sie unter Steinen, Laub oder an Baumwurzeln überwintern, durch die verschiedensten Veranlassungen in ihrer Ruhe gestört, aus ihren Schlupfwinkeln vertrieben worden waren. Hier geschah es durch große Nässe infolge anhaltender Regengüsse oder durch einige verhältnismäßig warme Tage, dort hatten Holzhauer durch Abholzen eines Rothtannen- und Buchenbestandes den nicht gefrorenen Boden aufgewühlt und gelockert. Allemal ward ein sehr heftiger, zum Theil orkanartiger Sturm beobachtet, der diese Thierchen mit noch manchen anderen ebenso lebenden und in jenen Berichten theilweise auch namhaft gemachten fortführte und zwar nach Schneefeldern hin, wo man sie leicht bemerkte. Ganz [110] dieselben Umstände mögen öfter zusammenkommen, aber die weiße Schneedecke fehlt und man beobachtet keinen »Regen von Insekten«, und doch ist es leicht möglich, daß auf derselben Fläche dieselben Massen von ihnen liegen. Ein anderes Mal treffen wieder alle jene Nebenumstände zusammen, auch die Schneedecke fehlt nicht, aber die Insekten bleiben aus, weil sie in dem Jahre gerade in so geringer Zahl vorhanden gewesen sind, daß das eine und andere, welches der Sturm vor sich herjagte, unbemerkt bleibt. Das Wunder ist also gelöst und der natürliche Zusammenhang aufgeklärt.

Es fragt sich nun, von welchen »Würmern« solche natürliche Dinge erzählt werden. Wir brauchen sie uns nicht aus Ungarn, Schweden oder der Schweiz zu verschreiben, auch bedarf es keines vermeintlichen Insektenregens, um sie näher kennen zu lernen. Wenden wir nur an einem Raine, Holzrande, Gartenzaune oder ähnlichem Orte einen etwas größeren Stein um, so finden wir im Winter unter anderen in einer runden Grube, mit etwas Erde bedeckt, in halbmondförmiger Lage ein sammetschwarzes Thierchen der Erstarrung anheim gefallen, oder, wenn wir die mildere Witterung nach demselben abwarteten, dieses außerhalb des Lagers damit beschäftigt, unter dem Steine sich diesen und jenen kleineren Schlafgenossen zur Beute auszulesen; auch begegnet es uns wohl auf dem Wege, um ein eben todtgetretenes Käferchen auszusaugen. Wo wir es auch antreffen mögen, immer erkennen wir es gleich vor den anderen durch den dunkeln, sammetartigen Filz, mit welchem es auf der Oberseite dicht und so überzogen ist, daß nur die vordere Hälfte des Kopfes frei bleibt. Derselbe ist platt, hornig, hat zwei Augen, ein Paar kurze, dreigliederige Fühler, kein Kopfschild und keine Oberlippe, kurze, kräftige Kinnbacken mit starkem Zahne in der Mitte, dreigliederige Taster der in einen halbkreisförmigen Ausschnitt eingefügten Kinnladen, und zweigliederige der ziemlich großen Unterlippe. Die kurzen Beine an den drei ersten Leibesringen beweisen uns in Verbindung mit den bereits angegebenen Merkmalen, daß wir es mit keinem Wurme, sondern mit einer Käferlarve zu thun haben, welche in ihrer sonstigen Körpertracht an die S. 108 abgebildete der Glühwürmchen erinnert. Ende März, anfangs April mochte es sein, als bei dem besonders häufigen Auftreten der Larven in jenem Jahre öfter wahrgenommen werden konnte, wie eine oder die andere einen Regenwurm oder eine Schnakenlarve erfaßt und sich so fest in ihren Raub eingebissen hatte, daß sie sich mit demselben in die Höhe heben ließ. Sie saugen ihn zunächst aus und verzehren ihn schließlich auch wohl ganz. Wenn ich in früheren Zeiten, in welchen mir diese Larven noch unbekannt waren, beim Raupensuchen im Frühlinge einige der weiteren Beobachtung wegen mit den Raupen zusammen eingeschachtelt hatte, so konnte ich mit Sicherheit darauf rechnen, kaum eine Raupe heil nach Hause zu bringen; die meisten waren von den Käferlarven angebissen, wenn nicht schon getödtet, so daß sie sich als nützliche, im Dienste des Garten- und Landbauers stehende Thiere erweisen. Im April oder Mai werden sie ungeschickt im Kriechen, wälzen sich hin und her, verkürzen sich allmählich und liegen fünf bis sechs Tage an solchen Stellen, wo sie ihren Winterschlaf gehalten hatten, dann streifen sie die Haut ab und werden zu einer blaßrothen, etwas nach vorn gekrümmten, schwarzäugigen Puppe.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 110-111.
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