Kiefernspinner-Sichelwespe (Anomalon circumflexum)

[316] Die bei weitem größere Menge der Sichelwespen kennzeichnet sich durch einen gestielten, nach hinten allmählich breiter werdenden Hinterleib und eine Körpertracht, wie sie das Anomalon auf unserem Bilde vergegenwärtigt. An den Bäumen und Gebüschen, vorzugsweise der Wälder, suchend zwischen ihren Blättern, schwebt in höchster Anmuth die Kiefernspinner-Sichelwespe (Anomalon circumflexum) und ihre zahlreichen, sehr ähnlichen Verwandten. Zierlich streckt sie ihre langen Hinterbeine aus, hält die Fühler in die Höhe und den schmächtigen Hinterleib sanft geschwungen nach unten. Sie läßt sich zu Zeiten auf ein Blatt nieder, um den Honigsaft, den eine Blattlaus spendete, aufzusaugen, oder von einem noch übrig gebliebenen Regentropfen zu naschen, und erhebt sich darauf wieder zu neuem Spiele, aber stets mit einer gewissen Ruhe und Würde, als wenn ihr jede Bewegung von einem Tanzmeister schulgerecht beigebracht worden wäre und sie sich befleißige, pedantisch alle Regeln des Anstandes zu befolgen. Auf unserer Abbildung sehen wir sie – ein Weibchen – sitzen, und doch nicht in Ruhe. Sie sitzt gerade so, als wenn sie eine Kiefernspinnerraupe unter sich hätte, welcher sie ihren Stachel einbohrt und mit ihm ein Ei einverleibt, ein Ei, an welches sich wunderbare Geschichten anknüpfen, wenn es einmal glücklich in die genannte, in die Forleulenraupe, oder in diese und jene andere gelegt ist.


Kiefernspinner-Sichelwespe (Anomalon circumflexum), a weibliche Wespe, b Puppe, c, d, e, f Larve auf verschiedenen Entwickelungstufen. (b-e stark vergrößert.)
Kiefernspinner-Sichelwespe (Anomalon circumflexum), a weibliche Wespe, b Puppe, c, d, e, f Larve auf verschiedenen Entwickelungstufen. (b-e stark vergrößert.)

Die ihm entschlüpfte Larve lebt frei in der Raupe, ist 2,25 Millimeter lang, nicht viel dicker als ein Pferdehaar, hat einen braunen, hornigen Kopf, einen langen Schwanz und sieht genau aus wie Figur c. Auf einer zweiten Stufe ihrer Entwickelung, welche Figur d darstellt, wächst sie in der Breite und verkürzt sich in der anderen Richtung, weil der Schwanz mehr schwindet (der Pinsel an der Spitze, eine krümelige Masse und die angedeutete Drehung rühren von dem Drucke des Deckgläschens bei der mikroskopischen Untersuchung her). Der Hauptstrang der Athmungswerkzeuge mit den ersten Anfängen seiner Verzweigung beweist den Fortschritt in der Entwickelung. Auf der dritten Stufe (e) finden sich die Luftröhren vollständig verzweigt, aber noch keine Luftlöcher; Ratzeburg fragt, ob etwa der weiter verkürzte, sichelförmige Schwanz deren Stelle vertreten möchte. Zu den anfangs vorhandenen Kinnbacken haben sich Unterkiefer und Lippe eingefunden, gegliederte Taster und Fühler sind vorgesproßt und dadurch die Mundtheile vervollständigt. Diese Larvenform fand Ratzeburg in eine Haut eingeschlossen, deren Gegenwart er sich nicht erklären konnte. Auf der vierten Stufe (f) endlich erhält die Larve die Beschaffenheit, in welcher man andere Schmarotzer kennt. Der Kopf erscheint jetzt verhältnismäßig klein, mehr zum Saugen eingerichtet, und der Schwanz als entgegengesetzter Pol ist verschwunden. Das Thier scheint nun weniger mit der Aufnahme von Nahrung beschäftigt zu sein, als mit der Behauptung seines Platzes in dem mehr und mehr verderbenden Wirte. Während [316] mit dem Schmarotzer die eben angedeuteten Veränderungen vorgehen, wächst dieser, häutet sich, hält seinen Winterschlaf, wenn es die Spinnerraupe war, häutet sich wieder, spinnt ein Gehäuse und wird zur Puppe, und erst in dieser nimmt die Larve die Gestalt von Figur b an, d.h. sie verwandelt sich gleichfalls in eine Puppe. Im Mai oder Juni gelangt diese zur Vollendung, und unsere Wespe frißt sich heraus. Kopf, Rumpf, äußerste Spitze des Hinterleibes, Hüften und an den Hinterbeinen die Spitze der Schenkel und Schienen sehen schwarz aus, das Uebrige, wozu die inneren Augenränder, Taster und Schildchen gehören, gelbroth, die Füße am lichtesten, die Fühler braunroth. Die Gattungsmerkmale, soweit Flügel und die lange Ferse der Hinterfüße sich daran betheiligen, zeigt die Abbildung; beachtenswerth und dazu gehörig sind noch: das vorn gestutzte Kopfschild und zwei ungleiche Endzähne der Kinnbacken, ovale Luftlöcher des Hinterrückens und die einfachen Klauen. Aehnliche Formenveränderungen mögen die Larven der anderen, ebenso schmarotzenden Immen durchlaufen, wenigstens liegen noch einige Beobachtungen Ratzeburgs vor, welche darauf schließen lassen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 316-317.
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