Trauermantel (Vanessa Antiopa)

[357] Im Juni erscheinen die ersten frischen Falter, von denen häufig noch eine zweite Brut zu Stande kommt. Befruchtete Weibchen überwintern auch hier. Bisweilen fliegen die Distelfalter in außerordentlicher Menge, wie von unwiderstehlicher Wanderlust getrieben. Prevost beobachtete am 29. Oktober 1827 in Frankreich einen zehn bis funfzehn Fuß breiten Zug, welcher zwei Stunden lang von Süden nach Norden flog; Ghiliani ebenfalls im südlichen Europa am 26. April 1851 einen anderen frisch ausgekrochener Falter, und weitere ähnliche Erscheinungen finden sich in den entomologischen Jahrbüchern verzeichnet. – Auf unserem Bilde »Wirkungen vereinter Kräfte« erblicken wir einen Trauermantel (Vanessa Antiopa). Er hält sich vorzugsweise im Walde auf, denn seine Raupe ernährt sich am liebsten von den Blättern der Birke. Mit ihr dehnt er sich auch über ganz Europa und Nordamerika aus. Indem er bis 6,6 Centimeter spannt, wird er zu dem größten heimischen Eckfalter. Eine breite lichtgelbe Einfassung der sammetartig schwarzbraunen Flügel läßt ihn schon aus der Entfernung erkennen, eine Reihe blauer Flecke vor der Kante ist nur in der Nähe bemerkbar. Vom Juli an zeigt er sich jedoch auch in der Nähe von Dörfern und Städten, wo Weiden und Pappeln wachsen, denn auch von diesen frißt die Raupe. Dieselbe lebt gesellig an den genannten Bäumen, weil das überwinterte Weibchen seine Eier ziemlich hoch oben an die knospengeschwellten Bäume in Häufchen absetzt. Die kahlen Stellen verrathen mit der Zeit dem aufmerksamen Beobachter die Anwesenheit der Raupen. Erwachsen, sind diese tiefblauschwarz mit ziegelrothen Flecken längs des Rückens und mit kurzen Dornen über den ganzen Körper ausgestattet. Sie kommen jetzt aus ihrer Höhe herab, zerstreuen sich und hängen sich mit der Leibesspitze an einen Zweig, an den Stamm oder andere Gegenstände in der Nachbarschaft auf, wobei sie sich nach der Bauchseite einkrümmen, die fünf vorderen Ringe mehr und mehr nach oben erhebend, so daß ihr Ende, der Kopf, aufrecht steht. Er scheint dünner zu werden und etwas vorzutreten, während der Körper dahinter unmerklich anschwillt. Durch Hin- und Herwinden spaltet sich endlich die Haut im Rücken, und der vorderste Puppentheil tritt heraus. Weiteres Aufblähen und Nachschieben läßt die Haut der Raupe bis zum hintersten Fußpaare bersten und nachgeben; damit letztere [357] aber nicht herunter falle, was leicht geschehen könnte, faßt sie mit zwei Ringen ihres Hinterleibes, welche sie etwas über einander schiebt, also wie eine Zange benutzt, die eben weichende Haut, hebt sich, faßt mit dem nächsten Ringe zu und läßt mit jenen los. In dieser Weise klettert sie gewissermaßen an der sie noch eben umschließenden Haut in die Höhe, bis die Schwanzspitze zu dem Gespinste gelangt, welches zuerst als Henkel für die Nachschieber gewebt worden war. Hier wird die Spitze hineingeschoben und bleibt mittels unsichtbarer Häkchen dicht neben der Raupenhaut hängen. Noch gibt sich die Puppe nicht zufrieden, denn sie will diese nicht neben sich dulden, biegt deshalb ihre Leibesspitze S-förmig, daß jene berührt wird, und wirbelt sich wie ein Kreisel bald links, bald rechts, bis sie den Balg abgestoßen hat. In dieser Weise arbeitet sich jede gestürzte Puppe aus ihrer Raupenhaut heraus, um sich aufzuhängen. Nun ruhen sie aus, die Puppen, von den eben überstandenen Wehen und von den Mühen und Sorgen ihrer Raupenzeit, während welcher sie in sich anhäuften, was ihnen nun in ihrer Unthätigkeit zur Nahrung dient. Alles ist aber anders geworden. Die Füße sind nicht mehr die Füße, welche sie waren, denn was soll der künftige Segler der Lüfte mit den vielen schwerfälligen Beinen der Raupe? Der Kopf ist nicht mehr der Kopf von ehemals, denn er hat die gewaltigen Kinnbacken abgeworfen, da der künftige Liebhaber der Blumen diesen nur mit seiner langen Rollzunge die Süßigkeiten raubt und ihre Schönheit in dem Maße achtet, als die Raupe alles ihr Annehmbare verzehrte. Der Haupttheil der inneren Raupe, der entwickelte Verdauungsapparat, die Eingeweide, sind hier fast auf ein nichts zusammengeschrumpft, dafür aber die geschlechtlichen Werkzeuge aufgetreten, und namentlich nimmt der Eierstock beim Weibchen fast die ganze Bauchhöhle für sich in Anspruch. Dies alles ist schon da und war in der Raupe als Anlage vorhanden, hat man doch in einzelnen acht Tage vor ihrer Verwandlung die Eikeime gefunden. Oeffnet man eine jugendliche Puppe, so erblickt man in ihrem Leichentuche nichts, als einen formlos scheinenden Schleim, aus welchem sich erst in längerer oder kürzerer Frist die Glieder des künftigen Schmetterlings fest absondern. Die Entwickelung ist eine gleichmäßig fortschreitende und zeigt sich hier in der Puppe auch äußerlich in all den angedeuteten Theilen des künftigen Falters wesentlich weiter gefördert. Wenige Wochen genügen, damit die alles belebende Wärme Festigkeit in das Flüssige bringe und das ganze Werk herrlich hinausführe.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 357-358.
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