Elftes Kapitel.
Der Arbeitsgenosse.

[215] Arrhenius. Während ich in meinem besonderen Arbeitsgebiete bisher so gut wie allein tätig gewesen war, trat nun der Zeitpunkt ein, wo sich andere Forscher einfanden, die auf ihren besonderen Wegen auf das gleiche Feld gelangt waren, das ja durch seine Einsamkeit unabhängige Köpfe ganz besonders anziehen mußte. Der erste unter diesen war Svante Arrhenius.

Ich werde in meinem ganzen Leben den Tag nicht vergessen, an welchem ich zum ersten Male den Namen Svante Arrhenius kennen lernte. Ich hatte damals – es war im Juni 1884 – an jenem einen Tage gleichzeitig ein böses Zahngeschwür, ein niedliches Töchterchen und eine Abhandlung von Svante Arrhenius mit dem Titel »Études sur la conductibilité des électrolytes« bekommen. Das war zu viel, um auf einmal damit fertig zu werden und ich hatte eine fieberhafte Nacht mit schlechten Träumen davon.

Das Zahngeschwür wurde ich bald los und das Töchterchen bewirkte keine großen Schwierigkeiten, da es leicht zur Welt gekommen war und die Mutter sich erstaunlich schnell erholte; meine Rolle als Vater brauchte ja erst in späteren Entwicklungsstadien ernsthaft zu werden. Aber die Abhandlung machte mir Kopfschmerzen und mehr als eine unruhige Nacht, was bei mir damals[216] eine große Seltenheit war. Was darin stand, war so abweichend vom Gewohnten und Bekannten, daß ich zunächst geneigt war, das ganze für Unsinn zu halten. Dann aber entdeckte ich einige Berechnungen des offenbar noch sehr jungen Verfassers, welche ihm bezüglich der Affinitätsgrößen der Säuren zu Ergebnissen führten, die gut mit den Zahlen übereinstimmten, zu denen ich auf ganz anderem Wege gelangt war. Und schließlich konnte ich mich nach eingehendem Studium überzeugen, daß durch diesen jungen Mann das große Problem der Verwandtschaft zwischen Säuren und Basen, dem ich ungefähr mein ganzes Leben zu widmen gedachte, und von dem ich bisher in angestrengter Arbeit erst einige Punkte aufgeklärt hatte – der wesentlichste war das Vorhandensein einer von der Art des Vorganges unabhängigen Verwandtschaftsgröße – in viel umfassenderer Weise als von mir angegriffen und auch teilweise schon gelöst war.

Man wird sich leicht vorstellen können, welch ein Durcheinander von Gefühlen eine solche Erkenntnis in einem jungen Forscher erwecken muß, der seine Zukunft erst zu machen hat und sich plötzlich auf dem Felde, das er sich so recht einsam und abseits ausgesucht hatte, einem höchst energischen Mitarbeiter gegenüber sieht. Dazu kam, daß das Werk offenbare Schwächen enthielt (die hernach auch von anderen Kritikern in übertriebener Weise hervorgehoben wurden), so daß ich noch mit der Möglichkeit rechnen mußte, jene richtigen Ergebnisse seien nur zufällig so ausgefallen.

Einige Tage lang stritten, wie in Bürgers Ballade der schwarze und der weiße Begleiter um meine Seele. Es war sicher nicht schwer, diesen plötzlichen Konkurrenten durch Totschweigen im Hintergrund zu halten, da zurzeit nur wenige Fachgenossen sich überhaupt um solche Fragen kümmerten. Dann konnte man wegen der vorhandenen Fehler das Ganze verurteilen und außerdem war durch[217] die Veröffentlichung in den Schriften der Schwedischen Akademie der Wissenschaften ohnehin ein Hindernis für die Verbreitung gegeben, da diese den Chemikern kaum in die Hände kamen. Ich brauchte also nur die Schrift unbeachtet zu lassen, um mir den Mitbewerber wenn nicht für immer, so doch für die nächste Zeit vom Halse zu halten.

Ich darf mir selbst das Zeugnis geben, daß diese Überlegungen bei weitem nicht mit der Klarheit und Bestimmtheit auftraten, wie ich sie hier entwickelt habe. Es waren vielmehr nur Wellen eines dahinge richteten Gefühls, die vorübergehend etwas über die Schwelle des Bewußtseins traten.

Die Einzelheiten der Technik, wie man unwillkommene Mitarbeiter und Mitbewerber bekämpft, habe ich erst später kennen gelernt. Zunächst aus persönlichen Erfahrungen mit den Fachgenossen, bei denen ich das Objekt war, sodann nachdem ich aufmerksam geworden war, aus dem Studium der Literatur meiner Wissenschaft. Auf der anderen Seite betätigte sich der wissenschaftliche Idealismus, den ich als selbstverständliche Voraussetzung aller Arbeit in diesem höchsten Gebiete menschlichen Fortschritts von meinen Lehrern Karl Schmidt, Johann Lemberg und Arthur von Öttingen überkommen hatte. Das selbstlos-herzliche Schreiben Karl Schmidts an den Direktor des Polytechnikums, das für meine Berufung wohl den Ausschlag gegeben hatte, kam mir in den Sinn. Dazu machte sich das freudige Gefühl geltend, mit einem neuen Arbeitsgenossen Schulter an Schulter einen jungfräulichen Boden beackern zu können, der zweifellos noch für Scharen weiterer Mitarbeiter Raum bot, zumal ich jenen mit geistigen Arbeitsmitteln ausgestattet fand, die von mir bisher nicht angewendet waren und die im Verein mit den mirvertrauten ein um so wirksameres Vorschreiten sicherten.

[218] Die elektrische Leitfähigkeit der Säuren. So war ich nach wenigen Tagen klar darüber geworden, welche Richtung ich einzuschlagen hatte. Ich setzte mich mit dem Verfasser, der sich in Upsala befand, in brieflichen Verkehr und ging inzwischen daran, mir eine unmittelbare Anschauung über einen Hauptpunkt zu verschaffen. Dieser betraf die Beziehung zwischen der elektrischen Leitfähigkeit und den von mir gefundenen spezifischen Verwandtschaftszahlen der Säuren.

Schon in Dorpat war mir aufgefallen, daß bei den wenigen Säuren, die F. Kohlrausch, der Erfinder der Widerstandsmessung an Elektrolyten mit Wechselströmen, untersucht hatte, die Reihenfolge der äquivalenten Leitfähigkeiten mit der der Verwandtschaftszahlen übereinstimmte. Aber ich konnte keinen sachlichen Zusammenhang beider Größen entdecken und Leitfähigkeiten an den anderen von mir untersuchten Säuren zu messen, war durch die große Umständlichkeit ausgeschlossen, mit der damals das Verfahren behaftet war.

Nun hatte aber Arrhenius in seiner Abhandlung Betrachtungen angestellt, welche einen durchgehenden Parallelismus beider Größen nicht nur erklärten, sondern forderten. Inzwischen war auch das Verfahren der Leitfähigkeitsmessung von Kohlrausch bedeutend vereinfacht worden, so daß es meinen experimentellen Hilfsmitteln zugänglich er schien.

Zwar hatte ich in Riga noch keinerlei elektrische Meßinstrumente beschafft. Aber hier kam mir meine aus den Knabenjahren herüber genommene Freude am Basteln zu Hilfe. Ich hatte am Polytechnikum einen alten, geschickten Mechaniker entdeckt, der dort ein vergessenes Dasein führte, weil seit langem niemand seine Dienste in Anspruch nahm und hatte sofort von ihm Unterricht an der Drehbank und am Schraubstock genommen, was beiläufig meine älteren Kollegen in kopfschüttelndes[219] Erstaunen setzte. So konnte ich, indem ich die nötigen Geräte meinen Möglichkeiten anpaßte, und den vom Telegraphenamt auf einige Tage (länger war er nicht entbehrlich) geliehenen Widerstandskasten kopierte, nach kurzer Zeit die gewünschten Widerstandsmessungen mit reichlich genügender Genauigkeit ausführen. Ich maß alsbald meine ganze Sammlung von Säuren durch, die ich von den anderen Untersuchungen her vorrätig hatte. Unter immer stärkerem Herzklopfen fand ich eine Zahl nach der anderen der Voraussage und Erwartung entsprechend. Da jede Bestimmung in einigen Minuten erledigt werden konnte und die Lösungen vorrätig waren, so drängten sich Bestätigungen über Bestätigungen in eine so kurze Zeit zusammen, wie ich es sonst kaum je erlebt habe. Das Gesamtergebnis war, daß hier ein Weg eröffnet war, auf welchem die von mir bisher nach mühsamen Verfahren gesuchten Affinitätszahlen fast in ebensoviel Minuten gefunden werden konnten, als ich früher Tage auf ihre Messung verwenden mußte. Ich berichtete alsbald in einer kurzen Abhandlung über diese weitgehende Bestätigung der von Arrhenius aufgestellten Beziehung und schickte sie an die Schriftleitung des Journal für praktische Chemie. Durch einen glücklichen Zufall konnte sie sofort gedruckt werden. Sie enthielt den Ausdruck meiner Überzeugung, daß die Arbeit von Arrhenius zu dem Bedeutendsten gehöre, was in neuerer Zeit im Gebiet der Verwandtschaftslehre veröffentlicht war.

Die zweite Reise. Auf der ersten Reise nach Deutschland, welche ich wegen des Laboratoriumsbaus gemacht hatte, war ich notwendig überall sehr eilig gewesen, so daß ich von den überwältigend reichen Schätzen in Kunst und Wissenschaft, die ich dort vorfand, nur einen kleinen Teil flüchtig hatte kennen lernen können. Dadurch war der Wunsch entstanden, die Fahrt mit mehr Muße zu wiederholen. Dazu kam, daß für die fortschreitenden Arbeiten[220] am Lehrbuch die Bücherei des Polytechnikums sich als unzureichend erwies, so daß der Besuch anderer, vollständigerer Sammlungen wünschenswert, ja notwendig erschien. So hatte ich beim Verwaltungsrat um Zuwendung eines der Reisestipendien nachgesucht, die er für die Dozenten des Polytechnikums ausgeworfen hatte und es für die Sommerferien 1884 erhalten. Nachdem inzwischen die eben geschilderten Ereignisse eingetreten waren, beschloß ich alsbald, der brieflichen Bekanntschaft mit dem merkwürdigen Schweden die persönliche folgen zu lassen und über Schweden nach Deutschland zu reisen. Da zwischen Riga und Stockholm ein direkter Dampferverkehr bestand, war die Sache leicht ausführbar.

Besuch in Upsala. Nachdem ich in Stockholm die Museen betrachtet und mich an den landschaftlichen Reizen erfreut hatte, die es zu einer der schönsten Städte Europas machen, fuhr ich nach Upsala weiter, wo Arrhenius mich erwartete.

Um unser gegenseitiges Erkennen zu ermöglichen, hatte Arrhenius den Sonderdruck meiner eben erwähnten Schrift, den ich ihm geschickt hatte, wie eine Fahne in die Hand genommen und ging damit dem ankommenden Zug entgegen.

Die persönliche Begegnung ergab alsbald eine starke gegenseitige Anziehung. Sie begründete eine Freundschaft, die unerschüttert bis auf den heutigen Tag gedauert hat.

Natürlich hatten wir uns sehr viel zu sagen. Ich mußte bei ihm wohnen und wir schmiedeten weit ausgreifende Pläne zur gemeinsamen Bearbeitung der ausgedehnten Gebiete, die uns offen standen.

Den ersten Abend verbrachten wir in einem Biergarten; als die Sonne untergegangen war, brachte uns der Kellner Filzdecken zum Einhüllen gegen den kalten Abendnebel. Von Zeit zu Zeit war Arrhenius von einzelnen jüngeren Leuten zur Seite gewinkt und unter[221] lebhaftem Händeschütteln begrüßt worden. Es waren, wie er mir später sagte, seine Studiengenossen, welche ihm zu der ungewöhnlichen Auszeichnung Glück wünschten, daß ein ausländischer ordentlicher Professor, der einen wissenschaftlichen Namen hatte, seinetwegen nach Upsala gekommen war und mit ihm auf gleich und gleich verkehrte. Denn er hatte auf Grund derselben Arbeit, die mich hingeführt hatte, eine Bewerbung um die Habilitierung als Privatdozent eingereicht, hatte aber Schwierigkeiten wegen des Inhalts der Schrift gefunden. Schon früher war er mit dem Physiker Thalén zusammengestoßen, dessen finstere und unfreundliche Gemütsart ich später persönlich erlebte. Dieser war übrigens der einzige Schwede von solcher Beschaffenheit, den ich kennen gelernt habe; im übrigen muß ich als Summe meiner Erfahrungen die Schweden als die liebenswürdigste von den mancherlei Nationen bezeichnen, mit denen ich in Berührung gekommen bin. Thalén hatte Arrhenius das Arbeiten im physikalischen Institut nicht gestattet oder so unangenehm gemacht, daß er darauf verzichtete und nach Stockholm zu dem Akademiker Edlund ging, der dort in denselben Räumen tätig war, in denen seinerzeit Berzelius das letzte Jahrzehnt seines Lebens zugebracht hatte. Ich besuchte ihn später dort mit Arrhenius und fand einen kleinen buckligen Sonderling, dem die Herzensgüte aus den Augen leuchtete. Er zeigte mir die Überreste von Berzelius' Präparaten und Geräten, die ziemlich unordentlich in einigen Schränken zusammengedrängt waren. Mit besonderer Andacht besah ich Berzelius' Wage, mit der er so einzig genaue Bestimmungen gemacht hatte und fand zu meinem Erstaunen ein sehr primitives Ding, das man schon damals kaum einem Anfänger hätte zumuten dürfen. Mir wurde unvergeßlich klar, wie wenig es auf das Gerät ankommt, und wie viel auf den Mann, der daran sitzt. Meine aus den knappen[222] Kinderjahren mitgenommene Neigung, mich mit einfachsten Hilfsmitteln zu begnügen, erfuhr durch dies Erlebnis eine bedeutende Verstärkung.

Bei Edlund hatte Arrhenius dann den experimentellen Teil seiner Untersuchung gemacht, durch welche er für eine Anzahl nicht von Kohlrausch untersuchter Elektrolyte die Leitfähigkeiten bestimmte. Doch war das benutzte Verfahren, zu dessen Wahl Edlund ihn veranlaßt hatte, schwerfällig und wenig förderlich. Er hatte den Apparat dazu mitgenommen, als er mich später in Riga besuchte, um bei mir zu arbeiten. Als er aber das Verfahren von Kohlrausch in der bequemen Form kennen lernte, die es dort angenommen hatte, ließ er seinen Apparat stehen und nahm bei der Abreise die Kiste wieder mit, ohne sie geöffnet zu haben.

Natürlich machte ich in Upsala bei den Kollegen die üblichen Besuche. Besonders freundlich wurde ich von dem angesehenen Chemiker Cleve aufgenommen, der mir seine Verwunderung nicht verhehlte, daß ich so viel Gewicht auf die sonderbaren Ideen von Arrhenius legte. Doch zeigte er sich willig, meine Gründe anzuhören. Die Theorie der elektrolytischen Dissoziation war damals noch nicht ausdrücklich ausgesprochen, dies geschah erst etwa zwei Jahre später. Aber mit unausweichlicher Logik zog Cleve einen Schluß nach dem anderen aus Arrhenius' Grundannahmen und fragte mich schließlich: Also Sie glauben, daß dort im Becherglas mit Chlornatriumlösung die Natriumatome so einzeln herumschwimmen? Ich bejahte, und er warf einen schnellen Seitenblick auf mich, der einen aufrichtigen Zweifel an meiner chemischen Vernunft zum Ausdruck brachte. Das störte aber keineswegs sein liebenswürdiges Verhalten und wir wurden mit einer Einladung zum Mittagessen auf nächsten Sonntag verabschiedet, der wir gern Folge leisteten. Wir kamen etwas, zu spät, denn beim Antun des festlichen Gewandes war[223] meinem Freunde unter dem Bücken die Hose geplatzt und der Verband der Wunde hatte einige Zeit gebraucht. Statt aber wie üblich, zu Tische zu gehen, mußten wir uns Teller vom schön geordneten Tisch und in den Tellern die Suppe und die anderen Speisen von der Hausfrau holen. Mit der Beute brachte man sich so gut es ging unter, um sie zu verzehren. Man erklärte mir später, es sei dies eine altschwedische Sitte, die von den völkisch Gesinnten wieder zu Ehren gebracht würde. Ich hoffe und glaube, daß dieser Versuch inzwischen aufgegeben worden ist. Auch habe ich alle die vielen heiteren und interessanten Mittag- und Abendessen, die ich hernach in Schweden einnehmen durfte, stets bequem sitzend wie im übrigen Europa erledigen können.

Aus jenen Tagen erinnere ich mich noch einer Fahrt nach Skokloster, einem Ausflugsort mit geschichtlichen Erinnerungen. Mehr als die alten Waffen und Möbel aus vergangenen Tagen beschäftigten uns Pläne für die Zukunft. Wir kamen überein, daß Arrhenius so bald als möglich nach Riga kommen solle, damit wir mit vereinten Kräften an der weiteren Aufklärung der gemeinsamen Probleme arbeiten könnten. Dazu war die Erledigung der Habilitation und die Erlangung eines Reisestipendiums von der Akademie der Wissenschaften erforderlich. Die vorhandenen Schwierigkeiten waren durch mein persönliches Erscheinen in Upsala sehr vermindert und konnten bald überwunden werden. Aber später schrieb mir Arrhenius doch: Ohne deinen damaligen Besuch wäre es nicht gegangen.

Über diesen mir zunächst am Herzen liegenden Dingen hatte ich nicht vergessen, für welchen Zweck ich meinerseits die Reiseunterstützung vom Verwaltungsrat erhalten hatte. Ich wandte mich wegen der gewünschten Werke an die dortige Universitätsbibliothek, wobei sich herausstellte, daß die Angelegenheit durch den Professor Thalén[224] gehen mußte. Dies war die oben erwähnte Gelegenheit, wo ich den Ausnahmefall eines unfreundlichen Schweden kennen gelernt habe. Doch war dies wohl mehr eine rauhe Schale, denn meine Wünsche wurden mir erfüllt. Wir reisten dann gemeinsam nach Stockholm, wo der oben geschilderte Besuch bei Edlund stattfand.

Außerdem lernte ich eine Anzahl schwedischer Fachgenossen kennen, mit denen ich in dauernden Beziehungen blieb.

Vor allen Oskar Petterson, eine kleine sehnige Gestalt mit viereckigem Schädel und kurzem, hellen Schnurrbart, das Gesicht gebräunt und dunkler als das Haar, der sich etwas wie ein Seemann trug und sich als ein leidenschaftlicher Segler herausstellte. Seine Freunde sagten von ihm, daß er den Sommer als verloren ansehe, wo er nicht mindestens einmal Schiffbruch gelitten habe, aus dem er immer unverletzt herauszukommen verstand. Er hatte eben bemerkenswerte Arbeiten aus der physikalischen Chemie veröffentlicht und ich erfreute mich der Selbständigkeit seiner Gedanken. Er brachte mich zu seinem Freunde Nilsson, der in seiner reizenden Amtswohnung vor der Stadt als Professor für Landwirtschaft ohne erhebliche Lehrverpflichtung mit wissenschaftlicher Arbeit nach eigener Wahl beschäftigt, außerdem mit einer schönen und liebenswürdigen Frau gesegnet, das Haus voll Kinder, ein Dasein führte, das ich mir idealer überhaupt nicht vorstellen konnte. Die unmittelbare Anschauung, daß dies möglich und wirklich war, erweckte in mir den festen Entschluß, einen gleichen Zustand auch meinerseits anzustreben. So mannigfaltig sich hernach auch mein Dasein gestaltete, so habe ich doch dies Ziel stets vor Augen gehabt, bis ich es auf meinem Landhause »Energie« verwirklichen konnte.

Von Stockholm fuhr ich nach Göteborg, in dessen Nachbarschaft ich die Schönheit des Aspensees bewunderte[225] und in einigen Aquarellen festzuhalten suchte. Ich hatte schon in Stockholm mir Farbkasten und Zeichenblock beschafft und einige von den zahllosen schönen Bildern festzuhalten gesucht, die sich dort auf Schritt und Tritt darboten. Doch waren die Ergebnisse wenig befriedigend und ich überzeugte mich, daß diese Technik für meine Zwecke ganz ungeeignet war. Als ich dann später in Norwegen von den großartigsten Ansichten tatenlos scheiden mußte, weil in der feuchten Luft die angelegten Farben nicht trocknen wollten, sah ich ein, daß nur eine sachgemäß angepaßte Öltechnik brauchbar war. Nach meiner Heimkehr führte ich den Gedanken aus und habe dann viele Jahre lang ungezählte Freuden mit dem Malkasten auf den Knieen erlebt.


Von Göteborg ging ich zu Schiff durch die Schären nach Kristiania. Dort winkte mir eine ganz besondere Freude, nämlich die persönliche Bekanntschaft mit Guldberg und Waage.


Kristiania. Es war ein trüber Nebelmorgen, als ich in den Kristianiafjord einfuhr. Anfangs durch glatte Klippen ohne jeden Pflanzenwuchs, an denen die Wogen brandeten. Dann kamen größere Inselchen mit einzelnen wetterzerfetzten Kiefern. Immer mehr siegte das Grün und damit begannen auch die ersten Zeichen der Kultur, Fischerhütten und Landhäuser. Von Zeit zu Zeit waren auch die begrünten Ufer sichtbar. Plötzlich brach durch die Wolken ein Sonnenstrahl, welcher die im Winkel des Fjords sich aufbauende, bisher nicht sichtbare Stadt in silbernem Licht erglänzen ließ. Dann deckte ein Wolken- und Nebelzug alles wieder zu. Es war wie der wohlgefügte Satz einer Symphonie. An dies Erlebnis haben sich später meine Gedanken über die Zeitlichtkunst gehängt.


In der Stadt angelangt suchte ich alsbald jene beiden Fachgenossen auf, deren grundlegende Arbeit mir den[226] ersten Eintritt in mein Arbeitsgebiet geebnet hatte. Aus dem Adreßbuch hatte ich festgestellt, daß Waage Chemiker, Guldberg aber Mathematiker war; also ging ich zuerst zu Waage. Ich traf einen älteren Mann mit wildem Haar- und Bartwuchs, der sich weit in das Gesicht hineinerstreckte, von untersetzter Gestalt, ähnlicher einem Bauern als einem Professor. Er sah mich mißtrauisch an, als ich ihn anredete. Als er endlich verstanden hatte, wer ihn begrüßte, wußte er sich vor Freude nicht zu lassen. Er tanzte um mich herum und rief unaufhörlich: »So jung! Nein, so jung!« Er hatte sich vorgestellt, daß ich ein älterer würdiger Herr sein müsse, wie er und sein Mitarbeiter und Schwager Guldberg und hatte die größte Mühe, sich von der Wirklichkeit zu überzeugen.

Waage behielt mich gleich da, um mich zu Mittag nach Hause mitzunehmen, wohin er auch Guldberg einladen ließ. Er besaß eine ganze Schar Kinder, erwachsene und jüngere, meist Töchter. Außerdem waren mehrere ältere Damen da, wie man sie in der Umgebung tätiger Pastoren sieht. Es stellte sich heraus, daß er eine ausgedehnte Tätigkeit für Jünglingsvereine, Diakonissenhäuser, Abstinenzgesellschaften usw. sämtlich mit stark christlichem Einschlag ausübte. Das hinderte ihn aber nicht, außerdem eifriger Jäger und Bergsteiger zu sein; den Hauptbestandteil der Mahlzeit bildeten Schneehühner, die er selbst geschossen hatte, wozu er die näheren Umstände mit einer Ausführlichkeit schilderte, die mich an die Jagdberichte meines Vaters erinnerte.

Inzwischen war auch Guldberg erschienen. Er war äußerlich das Gegenteil seines Schwagers. Hochgewachsen und schlank, ein aristokratisch-geistiges Gesicht mit stark vorspringender Nase, kurz gehaltenem weißen Haar und Bart, sah er eher wie ein höherer Militär in Zivil als wie ein Professor aus. Auch erwies sich, daß er der eigentliche Vater der gemeinsamen Arbeiten mit Waage war;[227] dieser hatte wohl nicht viel mehr, als die chemischen Analysen dazu geliefert. In bezug auf Jagen und Bergsteigen war er aber mit seinem Schwager völlig gleicher Gesinnung und bestand energischst darauf, daß ich morgen seine Schneehühner bei ihm versuchen müsse. Diese werden nämlich nach dem Erlegen hoch in den Bergen alsbald gebraten, eng in einen Topf gepackt und mit geschmolzener Butter übergossen. So sind sie keimsicher eingemacht und man kann sie für das ganze Jahr aufheben.


Meinen norwegischen Freunden lag daran, daß ich einiges von den Schönheiten ihres Landes kennen lernte, obwohl die Jahreszeit schon vorgeschritten war. Da sie durch die Vorlesungen zurückgehalten waren, arbeiteten sie einen Reiseweg mit dem Umkehrungspunkt Hönefos aus, aus Eisenbahn, Wagenfahrt und Fußwanderung zusammengesetzt, den ich in den nächsten Tagen zurücklegte. Auf mich, der ich im Flachlande aufgewachsen war, machte die wilde und großartige Norwegische Natur den allerstärksten Eindruck und ich erlebte Erschütterungen, an deren Möglichkeit ich vorher gar nicht gedacht hatte.


Obwohl das Wetter fast immer trüb und oft regnerisch war, so daß die weiteren Aussichten zugedeckt wurden, haben mir doch die drei Tage einsamer Wanderung durch diese Fülle großartiger Bilder unvergeßliche Erinnerungen hinterlassen. Es war das erste derartige Erleben und ich habe später kein stärkeres gehabt. Vor allen Dingen wirkte es auf mich, daß mir hier das Wasser nicht als ruhende Fläche, sondern als belebte, abstürzende Masse, oft von gewaltigen Abmessungen entgegentrat. Bei Högsund umfaßte ich mit einem Blick drei große Wasserfälle. Erschüttert und durchnäßt kam ich nach Kristiania zurück.


Von dort reiste ich zu Schiff nach Kopenhagen, um Julius Thomsen, den Thermochemiker zu besuchen, dessen Arbeiten mir als Vorbild gedient hatten und dem[228] ich dafür meinen Respekt bezeigen wollte. Die schwedischen und norwegischen Kollegen hatten mich vorbereitet, daß ich einen überaus selbstbewußten und unzugänglichen Kollegen vorfinden würde. Doch hatte er sich vor einiger Zeit öffentlich so anerkennend über meine Arbeiten geäußert, daß ich keine besondere Sorge hatte. Ich fand in der Tat einen sehr würdevollen Herrn mit glattrasiertem Gesicht und einem auffallenden Gewächs in der linken Schläfengegend, jeder Zentimeter ein Geheimrat. Doch ergab sich bald ein ausgiebiges und fruchtbares Gespräch. Als ich nach einer Stunde aufbrach, erwärmte er seine Objektivität soweit ins Persönliche, daß er mir den Rat gab, am Abend das Tivoli zu besuchen, wo ein Gartenfest stattfinde. Ich ging hin und fand es sehr hübsch.

Einen starken Eindruck empfing ich im Thorwaldsen-Museum, wo ich zum ersten und fast zum einzigen Male künstlerische Erhebung durch Werke der Plastik erlebte; die Frauenkirche mit den Werken seiner frommen Spätzeit blieb dagegen wirkungslos.

Eine Dampferfahrt brachte mich nach Lübeck, das ich mit vieler Freude besah, da Lübecker Kaufleute meine Vaterstadt Riga gegründet hatten und die Stadt wirklich sehr hübsch ist. Von dort fuhr ich nach Leipzig, um mit meinem Verleger über den Erfolg des ersten Teils meines Buches zu sprechen und die dortigen Bekannten zu begrüßen. Auch sollte ich dort Arrhenius antreffen. Der Verleger konnte mir noch nicht viel sagen, war aber entgegenkommend und hoffnungsvoll. Kolbe und v. Meyer traf ich an und wurde von ihnen wieder gastlich begrüßt, ebenso wie Arrhenius, den ich ihnen zuführte. Aber meine Hoffnung, daß der vor einem Jahre so energisch angeregte Berufungsplan inzwischen Fortschritte gemacht hätte, wurde ganz und gar enttäuscht, denn Kolbe schwieg sich nachdrücklich aus. Die anderen Leipziger Bekannten waren wegen der Ferienzeit verreist. Im Laboratorium[229] zeigte mir Kolbe die Anfänge einer Arbeit über Indigo. Er hatte seinem Gegner v. Baeyer, der diesen Gegenstand nach bedeutenden Fortschritten zeitweilig aufgegeben hatte, den Handschuh hingeworfen und sich verbindlich gemacht, binnen Jahr und Tag das Problem endgültig zu lösen. Er hatte nicht voraussehen können, daß ein baldiger Tod ihn dieser Verpflichtung entheben würde. Denn etwa ein Jahr später hatte er bei voller Gesundheit eine Versammlung mitgemacht, in welcher Beschlüsse über die Zukunft einer Gesellschaft gefaßt werden sollten, der er lange angehört hatte und in der er eine maßgebende Stellung beanspruchte. Die Mehrheit stimmte gegen ihn und dies erregte ihn so, daß er auf dem Heimwege einen Schlagfluß erlitt, den er nicht überlebte.

Zu gegebener Zeit trafen Arrhenius und ich dann in Magdeburg ein, um die Naturforscherversammlung mitzumachen, zu der ich einen Vortrag angemeldet hatte. Es war für uns die erste Versammlung dieser Art. Wir wurden als Gäste in der Familie eines jungen Kaufmanns untergebracht, wo wir sehr freundlich aufgenommen wurden und ich lernte zum ersten Male das heitere Treiben dieser wissenschaftlichen Feste kennen. Von den Fachgenossen konnte ich eine gute Anzahl als Bekannte begrüßen, die ich vor anderthalb Jahren auf meiner ersten Reise kennen gelernt hatte. Auch fehlte es wieder nicht an Andeutungen über mögliche Berufungen, die ich aber angesichts der jüngsten Leipziger Erfahrungen mit höflichen Zweifeln entgegennahm. Insbesondere schien man in Göttingen sich mit der Frage beschäftigt zu haben. Ob ich mit meinem Vortrage irgend einen Erfolg hatte, weiß ich nicht mehr. Ich schließe daraus, daß ich keinen hatte, da im anderen Falle vermutlich mein Gedächtnis besser vorgehalten hätte. Von dort ging es nach Hause, wohin mich eine starke Sehnsucht zog. Auch näherten sich meine Ferien ihrem Ende.[230]

Sonst ist mir hauptsächlich in Erinnerung geblieben, daß uns bei den vielen Festreden immer wieder Otto von Guericke, Magdeburgs luftpumpenberühmter Bürgermeister in allen möglichen und denkbaren Zubereitungen, vorgesetzt wurde, um den Zusammenhang der gastlichen Stadt mit den Naturforschern herzustellen.

Quelle:
Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Berlin 1926/1927, S. 215-231.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Lebenslinien
Lebenslinien. Eine Selbstbiographie

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Musarion. Ein Gedicht in drei Buechern

Musarion. Ein Gedicht in drei Buechern

Nachdem Musarion sich mit ihrem Freund Phanias gestrittet hat, flüchtet sich dieser in sinnenfeindliche Meditation und hängt zwei radikalen philosophischen Lehrern an. Musarion provoziert eine Diskussion zwischen den Philosophen, die in einer Prügelei mündet und Phanias erkennen lässt, dass die beiden »nicht ganz so weise als ihr System sind.«

52 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon