Tiefschlaf

[79] »Wie ein Falke oder Adler, der im Luftraum umhergeflogen ist und ermüdet die Flügel zusammengefaltet hat, sich zum Niedersetzen anschickt, so eilt der Purusha zu diesem Zustand, in dem er schlafend keinen Wunsch wünscht und kein Traumgesicht sieht1.

Seine Hitâ genannten Adern sind von derselben Feinheit wie ein tausendfach gespaltenes Haupthaar und mit Weiß, Blau, Gelb, Grün, Rot gefüllt. Wo man ihn zu töten, zu quälen scheint, wo ein Elefant ihn zu verjagen2 scheint, wo er in eine Grube zu fallen scheint: alle Schrecken, die er im wachen Zustande gesehen hat, bildet er sich in Unwissenheit auch hier zu sehen ein. Und wenn er, als wäre er ein König, als wäre er ein Gott, sich einbildet: ›ich bin das alles‹, dann ist dieses seine höchste Stätte.

Wenn er schlafend keinen Wunsch wünscht und kein Traumgesicht[79] sieht, dann ist das ein Zustand, in dem das Selbst sein Wunsch ist, seine Wünsche alle sich erfüllen und kein Wunsch vorhanden ist. Wie ein von einer lieben Frau umfangener Mann kein Bewußtsein von draußen oder drinnen hat, so hat dieser in dem Körper wohnende Âtman, von dem erkennenden Âtman umfangen, kein Bewußtsein von draußen oder drinnen.

Dieser Zustand liegt jenseits alles Verlangens, ist frei von Übel und Gefahr und kennt keine Sorge im Inneren. Darin ist der Vater nicht Vater, die Mutter nicht Mutter, die Welt nicht Welt, sind die Götter nicht Götter, die Opfer nicht Opfer; darin ist der Dieb nicht Dieb, der Vernichter der Leibesfrucht nicht Vernichter der Leibesfrucht, der Paulkasa nicht Paulkasa, der Cândâla nicht Cândâla3, der Bettelmönch nicht Bettelmönch, der Asket nicht Asket; er ist nicht vom Guten berührt und nicht berührt vom Bösen; denn er hat alle Sorgen des Herzens überwunden.

Wenn einer dann nicht sieht, so nimmt er, obschon sehend, Sichtbares nicht wahr. Der Sehende kommt zwar nicht um sein Gesicht, weil dies nicht schwindet, aber es gibt kein Zweites, Anderes, Verschiedenes, das er sehen könnte.

Wenn einer dann nicht riecht, so nimmt er, obschon riechend, Riechbares nicht wahr. Der Riechende kommt zwar nicht um seinen Geruch, weil dieser nicht schwindet, aber es gibt kein Zweites, Anderes, Verschiedenes, was er riechen könnte.

Wenn einer dann nicht schmeckt, so nimmt er, obwohl schmeckend, den Geschmack nicht wahr. Der Schmeckende kommt zwar nicht um seinen Geschmack, weil dieser nicht schwindet, aber es gibt kein Zweites, Anderes, Verschiedenes, was er schmecken könnte.

Wenn einer dann nicht redet, so redet er, obschon redend, das zu Redende nicht. Zwar kommt der Redende nicht um die Rede, weil diese nicht schwindet; aber es gibt kein Zweites, Anderes, Verschiedenes, was er reden könnte.[80]

Wenn einer dann nicht hört, so nimmt er, obschon hörend, das Hörbare nicht wahr. Der Hörende kommt zwar nicht um sein Gehör, weil dieses nicht schwindet, aber es gibt kein Zweites, Anderes, Verschiedenes, was er hören könnte.

Wenn einer dann nicht denkt, so denkt er, obschon denkend, das zu Denkende nicht. Zwar kommt der Denkende nicht um sein Denken, weil dieses nicht schwindet; aber es gibt kein Zweites, Anderes, Verschiedenes, was er denken könnte.

Wenn einer dann nicht fühlt, so fühlt er, obschon fühlend, das zu Fühlende nicht. Zwar kommt der Fühlende nicht um sein Gefühl, weil dieses nicht schwindet, aber es gibt kein Zweites, Anderes, Verschiedenes, was er fühlen könnte.

Wenn einer dann nicht erkennt, so erkennt er, obschon erkennend, das Erkennbare nicht. Zwar kommt der Erkenner nicht um sein Erkennen, weil dieses nicht schwindet; aber es gibt kein Zweites, Anderes, Verschiedenes, was er erkennen könnte.

Das fürwahr4 ist der einzige Seher, der neben sich nichts anderes hat. Das ist die Brahmawelt, Großkönig«, sprach er zu ihm. »Das ist seine höchste Vollendung, seine höchste Welt, seine höchste Freude. Von dieser Freude genießen die anderen Wesen ein Teilchen.

Wenn einer unter den Menschen erfolgreich ist und glücklich, ein Oberherr über andere, überhäuft mit allen Gegenständen menschlicher Wünsche, das ist die höchste Freude der Menschen.

Hundert Freuden der Menschen sind nur gleich einer Freude der Väter, die ihre Stätte errungen haben.

Hundert Freuden der Väter, die ihre Stätte errungen haben, sind nur gleich einer Freude derer, die durch Werke die Stellung von Göttern errungen haben.

Hundert Freuden derer, die durch Werke die Stellung von Göttern errungen haben, sind nur gleich einer Freude der[81] Götter von Geburt [und eines Schriftgelehrten, der ohne Falsch und von Wünschen nicht bezwungen ist5].

Hundert Freuden der Götter von Geburt sind nur gleich einer Freude in der Welt der Götter [und eines Schriftgelehrten, der ohne Falsch und von Wünschen nicht bezwungen ist].

Hundert Freuden in der Welt der Götter sind nur gleich einer Freude in der Welt der Gandharven [und eines Schriftgelehrten, der ohne Falsch und von Wünschen nicht bezwungen ist].

Hundert Freuden in der Welt der Gandharven sind nur gleich einer Freude in der Welt Prajâpatis [und eines Schriftgelehrten, der ohne Falsch und von Wünschen nicht bezwungen ist].

Hundert Freuden in der Welt Prajâpatis sind nur gleich einer Freude in der Welt Brahmans [und eines Schriftgelehrten, der ohne Falsch und von Wünschen nicht bezwungen ist]. Das ist, Großkönig, die Brahmawelt«, so unterwies er ihn, »das ist das Unsterbliche.«

›Ich gebe dem Ehrwürdigen Tausend. Sprich mir weiter von dem, was zur Befreiung dient.‹

»Er erfreut sich in diesem tiefen Frieden, wandert umher, sieht Gut und Böse und wenn er es gesehen hat, kehrt er nach Ordnung und Ursprung zum Zustand des Wachens zurück. Was immer er sieht, davon bleibt der Purusha unberührt; denn er hängt an nichts.«

›So ist das, Yâjnavalkya. Ich gebe dem Ehrwürdigen hier Tausend. Sprich mir weiter von dem, was zur Befreiung dient6.‹

1

Prashna 4, 6. Siehe hierzu Betty Heimann, ZfB, NF. I, S. 255ff.

2

Siehe Caland, Festschrift für Kuhn, S. 72.

3

Verachtete Kasten.

4

Ich vermute sa kila s. ZDMG. 69, 105.

5

Diese Worte, die die Steigerung vermindern, sind nach meiner Meinung Zusatz (ebenso die Worte ye karmanâ devatvam abhisampadyante zu karmadevânâm). Seite 136 scheint mir der Sachverhalt anders.

6

Zusatz; einer früheren Stelle (S. 79) nachgebildet.

Quelle:
Upanishaden. Altindische Weisheit aus Brâhmanas und Upanishaden. Düsseldorf/Köln 1958, S. 79-82.
Lizenz:

Buchempfehlung

Anonym

Tai I Gin Hua Dsung Dschi. Das Geheimnis der Goldenen Blüte

Tai I Gin Hua Dsung Dschi. Das Geheimnis der Goldenen Blüte

Das chinesische Lebensbuch über das Geheimnis der Goldenen Blüte wird seit dem achten Jahrhundert mündlich überliefert. Diese Ausgabe folgt der Übersetzung von Richard Wilhelm.

50 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon