IV. Von den Vorstellungen eines Menschen, der auf den Geruchsinn beschränkt ist.

[44] 1. Unsere Statue kann nicht mehrere Daseinsweisen nach einander haben, von denen ihr die einen zusagen, die anderen nicht, ohne zu bemerken, dass sie abwechselnd einen Zustand der Lust und einen Zustand des Schmerzes durchläuft. Die einen bringen Befriedigung, Genuss, die anderen Missvergnügen, Leiden. Sie bewahrt also in ihrem Gedächtniss die Vorstellungen der Befriedigung und Unbefriedigung, als mehreren Daseinsweisen gemeinsame, und braucht ihre Empfindungen nur noch unter[44] diesen beiden Beziehungen zu betrachten, um aus ihnen zwei Klassen zu bilden, wobei sie, je mehr sie sich darin übt, Schattirungen unterscheiden lernen wird.

2. Abstrahiren heisst eine Vorstellung von einer andern trennen, mit der sie von Natur vereinigt zu sein scheint. Bei der Betrachtung nun, dass die Vorstellungen der Befriedigung und der Unbefriedigung mehreren ihrer Wandlungen gemeinsam sind, eignet sie sich die Fertigkeit an, sie von irgend einer bestimmten Wandlung, von welcher sie dieselben anfangs nicht unterschieden hatte, zu sondern. Sie bildet sich also abstrakte Begriffe, und diese Begriffe werden allgemeine, weil sie mehreren ihrer Daseinsweisen gemeinsam sind.

3. Aber wenn sie nach einander mehrere Blumen derselben Art riecht, so wird sie immer die gleiche Daseinsweise erfahren und in dieser Hinsicht nur eine Einzelvorstellung bekommen. Der Veilchenduft z.B. könnte für sie keine abstrakte, mehreren Blumen gemeinsame Vorstellung sein, da sie nichts davon weiss, dass Veilchen existiren. Nur die Einzelvorstellung einer Daseinsweise kommt ihr zu. Folglich beschränken sich alle ihre Abstraktionen auf mehr oder weniger angenehme Wandlungen und auf andere mehr oder weniger unangenehme.

4. Als sie nur Einzelvorstellungen hatte, konnte sie nur die eine oder andere Daseinsweise begehren; allein sobald sie abstrakte Begriffe hat, können ihre Begehrungen, ihre Liebe, ihr Hass, ihre Hoffnung, ihre Furcht, ihr Wille die Lust oder den Schmerz im Allgemeinen zum Gegenstand haben.

Diese Liebe zum Wohlsein im Allgemeinen hat indessen nur statt, wenn sie unter den Vorstellungen, die das Gedächtniss ihr bunt durch einander vorführt, noch[45] nicht das ihr vorzüglich Zusagende herausgefunden hat. Sobald sie aber es wahrzunehmen glaubt, so richten sich alle ihre Begehrungen auf eine Daseinsweise im Besonderen.

5. Da sie ja die durchlaufenen Zustände unterscheidet, so hat sie eine Vorstellung von Zahl; sie hat die der Einheit, so oft sie eine Empfindung erleidet oder sich ihrer erinnert, und sie hat die Vorstellungen »zwei« und »drei«, so oft ihr Gedächtniss ihr zwei oder drei gesonderte Daseinsweisen zurückruft, denn sie erlangt alsdann Kunde von sich selbst, als von einem Geruche, der vorhanden ist, oder von zweien oder dreien, die nach einander dagewesen sind.

6. Sie kann nicht zwei Düfte unterscheiden, die sie zugleich riecht. Der Geruch für sich allein konnte ihr also nur die Vorstellung der Einheit geben, und sie kann die Vorstellungen der Zahlen nur vom Gedächtniss erhalten.

7. Allein sie wird ihre Kenntnisse in dieser Hinsicht nicht sehr weit ausdehnen. Wie ein Kind, das nicht zählen gelernt hat, wird sie die Zahl ihrer Vorstellungen nicht bestimmen können, wenn ihre Reihenfolge beträchtlicher wird.

Um die grösste Anzahl, die sie gesondert zu erkennen vermag, aufzufinden, braucht man nur, meine ich, zu überlegen, wie weit wir selbst mit dem Zeichen, »eins« würden zählen können. Wenn die durch Wiederholung dieses Wortes gebildeten Reihen nicht auf einmal deutlich aufgefasst werden können, so werden wir mit Recht schliessen, dass die genauen Zahlvorstellungen, die sie enthalten, nicht durch das Gedächtniss allein sich erwerben lassen.

Sage ich nun eins und eins, so habe ich die Vorstellung zwei, und sage ich eins und eins und eins, so habe ich die Vorstellung drei. Allein hätte ich, um zehn, fünfzehn, zwanzig auszudrücken, nur die Wiederholung dieses Zeichens, so könnte ich die Vorstellungen davon nie bestimmt fassen; denn ich könnte mich durch das Gedächtniss nicht versichern, dass ich »eins« so oft wiederholt habe, als jede dieser Zahlen erheischt. Es scheint mir sogar, als könnte ich mir auf diesem Wege nicht die Vorstellung »vier« bilden, und als hätte ich ein[46] künstliches Mittel nöthig, um sicher zu sein, dass ich das Zeichen der Einheit weder zu oft noch zu wenig wiederholt habe. Ich werde z.B. sagen eins, eins, und hierauf eins, eins, aber schon dies beweist, dass das Gedächtniss vier Einheiten auf einmal nicht scharf erfasst. Es stellt also über drei hinaus nur eine unbestimmte Vielheit vor. Wer etwa glaubt, dass es allein für sich unsere Vorstellungen weiter ausdehnen könne, der wird eine andere Zahl an die Stelle von drei setzen. Für die Erörterungen, die ich anzustellen habe, genügt die Uebereinstimmung darin, dass es eine giebt, über welche hinaus das Gedächtniss nur noch eine ganz unbestimmte Vielheitwahrnehmen lässt. Was uns gelehrt hat, unsere Auffassung weiter zu bringen, das ist die Kunst der Bezeichnung. Aber so beträchtlich auch die Zahlen sein mögen, die wir uns klar machen können, so bleibt immer eine Vielheit, die zu bestimmen unmöglich ist, die man aus diesem Grunde das Unendliche nennt, und die man besser das Unbestimmte genannt hätte. Schon dieser Namenstausch hätte vor Irrthümern bewahrt.8

Wir können also schliessen, dass unsere Statue höchstens drei ihrer Daseinsweisen gesondert auffassen wird. Darüber hinaus wird sie eine Vielheit derselben sehen, die für sie das sein wird, was für uns der vorgebliche Begriff des Unendlichen ist. Sie wird sogar weit mehr zu entschuldigen sein, wenn sie darin irrt; denn sie ist der Erwägungen, die ihr von dem Irrthum helfen könnten, nicht fähig. Sie wird also in dieser Vielheit das Unendliche sehen, als wäre es wirklich darin.

Endlich werden wir bemerken, dass ihre Vorstellung der Einheit eine abstrakte ist; denn sie empfindet alle ihre Daseinsweisen unter der allgemeinen Beziehung, dass jede von jeder andern gesondert ist.

8. Da sie Einzelvorstellungen und allgemeine Vorstellungen hat, so kennt sie zweierlei Wahrheiten.

Die Düfte jeder Blumenart sind für sie nur Einzelvorstellungen; ebenso wird es mit allen Wahrheiten sein,[47] die sie findet, wenn sie einen Duft von einem andern unterscheidet.

Aber sie hat die abstrakten Begriffe angenehmer und unangenehmer Daseinsweisen. Sie wird also in dieser Hinsicht allgemeine Wahrheiten kennen lernen, wird wissen, dass im Allgemeinen ihre Wandlungen von einander verschieden sind, und dass sie ihr mehr oder weniger gefallen oder missfallen.

Aber diese allgemeinen Erkenntnisse setzen Einzelerkenntnisse in ihr voraus, da ja die Einzelvorstellungen den abstrakten Begriffen vorausgegangen sind.

9. Da sie daran gewöhnt ist, ein Geruch erst zu sein, dann nicht mehr zu sein und der nämliche wieder zu werden, so wird sie, wenn sie es nicht ist, urtheilen, dass sie es sein könnte, und wenn sie es ist, dass sie aufhören könne, es zu sein. Sie wird also Veranlassung haben, ihre Daseinsweisen als solche anzusehen, welche existiren oder auch nicht existiren können. Aber dieser Begriff des Möglichen wird keineswegs die Kenntniss der Ursachen mit sich bringen, die eine Wirkung erzeugen können. Vielmehr wird er deren Unkenntniss voraussetzen und nur auf ein Gewohnheitsurtheil gegründet sein. Wenn die Statue denkt, sie könne z.B. aufhören Rosenduft zu sein und wieder Veilchenduft werden, so weiss sie nicht, dass ein äusseres Wesen einzig und allein über ihre Empfindungen verfügt. Damit ihr Urtheil trüge, brauchen wir uns nur vorzunehmen, sie beständig denselben Duft riechen zu lassen. Zwar kann ihre Einbildungskraft dabei manchmal nachhelfen, aber nur in den Fällen, wo die Begehrungen heftig sind, und auch dann gelangt sie nicht immer zum Ziele.

10. Vielleicht könnte sie nach ihren Gewohnheits urtheilen sich auch eine Vorstellung des Unmöglichen bilden. Da sie gewöhnt ist, eine Daseinsweise zu verlieren, sobald sie eine neue erlangt, so ist es nach ihrer Auffassung unmöglich, dass sie zwei auf einmal habe. Der einzige Fall, wo sie das Gegentheil glauben könnte, wäre der, wenn ihre Einbildungskraft stark genug wirkte, ihr zwei Empfindungen ebenso lebhaft vorzuführen, als wenn sie sie wirklich erlitte. Aber das kann nicht geschehen. Natürlich muss ihre Einbildungskraft sich nach den Fertigkeiten richten, die sie sich angeeignet hat.[48] Mithin wird sie, da sie ihre Daseinsweisen nur eine nach der andern erfahren hat, auch nur in dieser Anordnung sie vorstellen. Uebrigens wird ihr Gedächtniss wahrscheinlich nicht stark genug sein, ihr zwei Empfindungen, die sie gehabt hat und nicht mehr hat, zu vergegenwärtigen.

Glaublicher scheint mir, dass sie, wenn auch ihr gewohnheitsmässiges Urtheil, das Geschehene könne ihr wieder geschehen, die Vorstellung des Möglichen einschliesst, doch schwerlich Veranlassung haben dürfte, Urtheile zu bilden, in denen wir unsere Vorstellung des Unmöglichen wiederfinden könnten. Dazu müsste sie sich mit dem beschäftigen, was sie noch gar nicht erfahren hat; aber es ist viel natürlicher, dass sie ganz bei dem ist, was sie erfährt.

11. Aus der in ihr vorgehenden Unterscheidung der Gerüche entsteht eine Vorstellung der Aufeinanderfolge. Denn sie kann nicht empfinden, dass sie aufhört zu Bein, was sie war, ohne sich in diesem Wechsel eine zwei Zeitpunkte enthaltende Dauer vorzustellen.

Da sie Gerüche nur bis zu dreien deutlich auffasst, so wird sie auch nur drei Zeitpunkte ihrer (eigenen) Dauer gesondert auffassen. Darüber hinaus sieht sie nur eine unbestimmte Reihenfolge.

Wenn man annimmt, das Gedächtniss könne ihr vier, fünf, sechs Daseinsweisen gesondert zurückrufen, so wird sie folglich vier, fünf, sechs Zeitpunkte in ihrer Dauer unterscheiden. Jeder kann hierbei die Hypothesen machen, die er für angezeigt hält, und sie an die Stelle derer setzen, die ich vorziehen zu müssen geglaubt habe.

12. Der Uebergang von einem Geruche zu einem[49] anderen giebt unserer Statue nur die Vorstellung der Vergangenheit, um von »Zukunft« eine zu bekommen, muss sie mehrmals dieselbe Empfindungsreihe gehabt und sich das Urtheil angewöhnt haben, dass auf die eine Wandelung eine andere folgen muss.

Nehmen wir als Beispiel die Folge: Narzisse, Rose, Veilchen. Sobald diese Gerüche beständig in dieser Ordnung verbunden sind, kann keiner von ihnen ihr Organ reizen, ohne dass ihr das Gedächtniss sogleich die anderen in ihrem Verhältniss zu dem gerochenen Dufte zurückruft, so dass bei Gelegenheit des Veilchenduftes die beiden andern als vorausgegangene sich auffrischen und sie eine vergangene Dauer sich vorstellen wird. Desgleichen werden bei Gelegenheit des Narzissenduftes Kosen- und Veilchenduft sich als solche auffrischen, die folgen müssen, und sie wird sich eine zukünftige Dauer vorstellen.

13. Narzissen-, Rosen- und Veilchenduft können also die drei Zeitpunkte bezeichnen, die sie deutlich wahrnimmt. Mit gleichem Rechte werden die vorausgegangenen Düfte und die zu folgen pflegen, die Zeitpunkte bezeichnen, die sie in der Vergangenheit und Zukunft ohne Sonderung wahrnimmt. Wenn sie demnach eine Rose riecht, so wird ihr Gedächtniss ihr den Narzissen- und den Veilchenduft deutlich zurückrufen und ihr eine unbestimmte Dauer vorstellen, die dem Zeitpunkt, wo sie die Narzisse roch, vorausgegangen ist, und eine unbestimmte Dauer, die dem folgen soll, wo sie das Veilchen riechen wird.

14. Indem sie diese Dauer als eine unbestimmte wahrnimmt, kann sie daran weder Anfang noch Ende erkennen, ja sie kann weder eins noch das andere daran vermuthen. Für ihren Standpunkt ist das also eine absolute Ewigkeit, und sie kommt sich vor, als wenn sie immer gewesen wäre und nie zu sein aufhören solle.[50]

In der That ist es nicht das Nachdenken über die Folge unserer Vorstellungen, die uns lehrt, dass wir angefangen haben und enden werden, sondern unsere Aufmerksamkeit auf Wesen unserer Art, die wir entstehen und vergehen sehen. Ein Mensch, der nur sein eignes Dasein kennete, würde keine Vorstellung vom Tode haben.

15. Die ursprünglich durch die Aufeinanderfolge der Eindrücke auf das Organ erzeugte Vorstellung der Dauer erhält sich oder erzeugt sich wieder durch die Folge der Empfindungen, welche das Gedächtniss zurückbringt. Mithin fährt unsere Statue selbst dann fort, sich Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft vorzustellen, wenn die riechenden Körper nicht mehr auf sie wirken: die Gegenwart stellt sie durch den Zustand vor, in dem sie sich befindet; die Vergangenheit durch die Erinnerung an das, was sie gewesen; die Zukunft dadurch, dass sie urtheilt, sie könne, weil sie dieselben Empfindungen mehrmals gehabt hat, sie wieder haben.

Es giebt also in ihr zwei Reihenfolgen, die der Eindrücke auf das Organ und die der Empfindungen, die sich im Gedächtniss auffrischen.

16. Es können sich, während die Erinnerung einer und derselben Empfindung dem Gedächtnisse gegenwärtig ist, mehrere Eindrücke auf das Organ folgen, und mehrere Empfindungen können sich nacheinander im Gedächtniss auffrischen, während ein und derselbe Eindruck im Organ fühlbar ist. Im erstem Falle misst die Folge der Eindrücke auf den Geruchsinn die Dauer der Erinnerung einer Empfindung; im zweiten misst die Folge der Empfindungen, die sich dem Gedächtnisse darbieten, die Dauer des Eindrucks, den der Geruchsinn empfängt.

Erinnert sich z.B. die Statue, wenn sie eine Rose riecht, der Düfte der Tuberose, der Narzisse und des Veilchens, so urtheilt sie nach der Aufeinanderfolge, die in ihrem Gedächtniss vorgeht, über die Dauer ihrer Empfindung, und biete ich ihr, wenn sie sich den Rosenduft vergegenwärtigt, rasch, eine Folge riechender Körper, so urtheilt sie nach der Aufeinanderfolge, die in dem Organe vorgeht, über die Dauer der Erinnerung an diese Empfindung.[51] Sie nimmt also wahr, dass es keine ihrer Wandlungen giebt, die nicht andauern könnte. Die Dauer wird eine Beziehung unter welcher sie dieselben alle im Allgemeinen betrachtet, und sie bildet sich daraus einen abstrakten Begriff.

Wenn sie in der Zeit, wo sie eine Rose riecht, sich der Reihe nach des Veilchen-, Jasmin- und Lavendelduftes erinnert, so wird sie sich als einen Rosenduft auffassen, der drei Zeitpunkte dauert, und wenn sie sich eine Folge von zwanzig Düften auffrischt, so wird sie sich als einen seit unbestimmter Zeit vorhandenen Rosenduft auffassen; sie meint nicht mehr, dass sie angefangen habe, so zu sein, sondern glaubt, es von Ewigkeit her zu sein.

17. Nur eine Aufeinanderfolge von Düften, die durch das Organ vermittelt oder durch das Gedächtniss erneuert werden, kann ihr eine Vorstellung von »Dauer« geben. Sie würde nie mehr als einen Zeitpunkt kennen gelernt haben, wenn der erste riechende Körper auf sie in einförmiger Weise eine Stunde, einen Tag oder länger gewirkt hätte, oder wenn ihre Thätigkeit in so wenig fühlbaren Schattirungen geschwankt hätte, dass sie dieselben nicht bemerken konnte.

Ebenso wird es sein, wenn sie, nachdem sie die Vorstellung der Dauer erlangt, eine Empfindung behält, ohne von ihrem Gedächtniss Gebrauch zu machen, ohne sich nacheinander an einige von ihr durchlaufene Daseinsweisen zu erinnern. Denn woran sollte sie hier Zeitpunkte unterscheiden, und wenn sie keine unterscheidet, wie soll sie die Dauer wahrnehmen?

Die Vorstellung der Dauer ist also keineswegs absolut, und wenn wir sagen, dass die Zeit rasch oder langsam verfliesse, so heisst das weiter nichts, als die Umdrehungen, die dazu dienen, sie zu messen, vollziehen sich mit grösserer Raschheit oder Langsamkeit, als sich unsere Vorstellungen folgen. Man kann sich davon durch ein Gleichniss überzeugen.

18. Wenn wir uns vorstellen, dass eine aus eben so vielen Theilen, wie die unsere, zusammengesetzte Welt nicht grösser als eine Haselnuss wäre, so ist zweifellos, dass die Gestirne darin viel tausend Mal in einer unserer Stunden auf- und untergehen würden, und wir, wie wir organisirt sind, ihren Bewegungen nicht folgen könnten.[52] Die Organe denkender Wesen, die sie zu bewohnen bestimmt wären, müssten also zu so raschen Umdrehungen im rechten Verhältniss stehen.9

Mithin werden, während die Erde dieser kleinen Welt sich um ihre Axe und um ihre Sonne dreht, ihre Bewohner eben so viele Vorstellungen empfangen, als wir haben, während unsere Erde ähnliche Umdrehungen macht. Daraus erhellt, dass ihre Tage und Jahre ihnen eben so lang als uns die unseren erscheinen werden.

Nehmen wir eine andere Welt an, der die unsere so viel nachsteht, als sie der eben erdichteten überlegen ist, so müssten wir ihren Bewohnern Organe geben, deren Thätigkeit zu langsam wäre, um die Umdrehungen unserer Gestirne wahrzunehmen. Sie würden in Bezug auf unsere Welt das sein, was wir in Bezug auf jene haselnussgrosse Welt sein würden, und darin keine Aufeinanderfolge der Bewegung unterscheiden können.

Fragen wir endlich die Bewohner dieser Welten nach deren Dauer, so würden die der kleinsten Millionen Jahrhunderte zählen, und die der grössten, die kaum erst die Augen öffnen, würden antworten, dass sie eben entstehen.

Der Begriff der Dauer ist also ganz relativ; jeder urtheilt darüber nur nach der Aufeinanderfolge seiner Vorstellungen und wahrscheinlich giebt es nicht zwei Menschen, die in einer gegebenen Zeit eine gleiche Anzahl Zeitpunkte zählen. Denn man darf voraussetzen, dass es nicht zwei giebt, deren Gedächtniss die Vorstellungen immer mit derselben Raschheit auffrischt.

Demzufolge wird eine Empfindung, die sich einförmig ein Jahr lang oder meinetwegen tausende forterhält, vom Standpunkte unserer Statue nur ein Zeitpunkt sein, wie eine Vorstellung, die wir behalten, während die Bewohner der kleinen Welt Jahrhunderte zählen, für uns ein Zeitpunkt ist.10 Es ist also ein Irrthum, wenn man denkt, dass alle Wesen die gleiche Zahl Zeitpunkte zählen. Da das Dasein einer Vorstellung, die nicht wechselt, für meinen Gesichtspunkt nur ein Zeitpunkt ist, so ist eine Folge davon, dass ein Zeitpunkt meiner Dauer mit mehreren Zeitpunkten der Dauer eines Andern zusammenfallen kann.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 44-53.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Abhandlung über die Empfindungen
Abhandlungen über die Empfindungen.

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