Sechstes Capitel.

Von den bloss wörtlichen Urtheilen.

[128] §. 1. Als eine Vorbereitung für den eigentlichen Gegenstand der Untersuchung der Logik, für die Untersuchung der Frage nämlich: auf welche Weise können Urtheile bewiesen werden, fanden wir es nöthig zu untersuchen, was in den Urtheilen enthalten ist, das des Beweises fähig oder seiner bedürftig wäre, oder, was dasselbe ist, was sie behaupten. Im Verlauf dieser vorläufigen Untersuchung des Inhalts der Urtheile prüften wir die Ansicht der Conceptionalisten, dass ein Urtheil der Ausdruck einer Beziehung zwischen zwei Ideen sei, und die Lehre der Nominalisten, dass es der Ausdruck der Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Bedeutung zweier Namen sei. Wir kamen zu dem Resultat, dass als allgemeine Theorien beide irrig sind, und dass, obgleich sowohl in Beziehung auf Namen, als auch auf Ideen Urtheile gebildet werden können, weder die einen noch die anderen den ganzen Gegenstand der Urtheile im Allgemeinen ausmachen. Wir prüften die verschiedenen Arten von Urtheilen und fanden, dass mit Ausnahme der bloss wörtlichen Urtheile, sie fünf verschiedene Arten von Thatsachen behaupten, nämlich Existenz, Ordnung im Raum, Ordnung in der Zeit, Verursachung und Aehnlichkeit; dass in jedem Urtheil von diesen fünf Dingen eines von irgend einer Thatsache oder Erscheinung, oder von irgend einem Gegenstand, der die unbekannte Quelle dieser Thatsache oder Erscheinung ist, behauptet oder verneint wird.

Indem wir die in den Urtheilen behaupteten verschiedenen Thatsachen unterschieden, behielten wir uns eine Classe von Urtheilen vor, welche sich im eigentlichen Sinne des Wortes gar nicht auf Thatsachen, sondern auf die Bedeutung der Namen beziehen. Da[128] Namen und ihre Bedeutung ganz willkürlich sind, so sind derartige Urtheile strenggenommen der Wahrheit oder des Irrthums gar nicht fähig, sondern sie sind nur übereinstimmend oder nichtübereinstimmend mit dem Sprachgebrauch oder der Uebereinkunft; aller Beweis, dessen sie fähig sind, bezieht sich auf den Sprachgebrauch, es ist ein Beweis, dass die Worte von Anderen in derselben Bedeutung gebraucht worden sind, in welcher sie der Sprechende zu gebrauchen gedenkt. Diese Urtheile nehmen indessen in der Philosophie eine hervorragende Stelle ein, und ihre Natur ist in der Logik von ebenso grosser Wichtigkeit, als die der vorher angeführten anderen Classen von Urtheilen.

Wenn alle Urtheile beziehlich der Bedeutung der Wörter so einfach und unwichtig wären, wie diejenigen, welche uns bei der Prüfung von Hobbes' Theorie der Prädication als Beispiel dienten, – diejenigen, wovon Subject und Prädicat Eigennamen sind, und welche nur behaupten, dass diese Namen demselben Individuum der Uebereinkunft nach verliehen worden sind oder nicht – so würden derartige Urtheile die Aufmerksamkeit der Philosophen wenig erregen. Aber die Classe der bloss wörtlichen Urtheile umfasst in der That nicht allein viel mehr, als diese, sondern auch viel mehr als irgend welche Urtheile, die beim ersten Anblick als wörtliche erscheinen; sie umfasst eine Art von Behauptungen, welche man nicht bloss als auf Dinge Bezug habend, sondern als mit den Dingen wirklich in einer näheren Beziehung stehend als irgend andere Urtheile betrachtet hat. Man wird bemerken, dass ich auf jene Unterscheidung anspiele, auf welche die Scholastiker so grosses Gewicht legten, und welche bis auf den heutigen Tag von den meisten Metaphysikern entweder unter demselben oder unter anderen Namen beibehalten wurde, die Unterscheidung nämlich zwischen dem was sie wesentliche (essentielle) und was sie zufällige (accidentelle) Urtheile nannten, sowie zwischen wesentlichen und zufälligen Eigenschaften oder Attributen.

§. 2. Fast alle Metaphysiker vor Locke, und viele nach ihm thaten sehr geheimnissvoll in Beziehung auf Wesentliche Prädication und auf Prädicate, von denen man sagte, sie gehörten zum Wesen (essentia) des Subjects. Das Wesen der Dinge, so sagten sie, ist dasjenige, ohne welches das Ding weder sein, noch als[129] seiend gedacht (begriffen) werden kann. So ist die Vernunft das Wesen des Menschen, weil der Mensch nicht als ohne Vernunft existirend gedacht werden könnte. Die verschiedenen Attribute, welche das Wesen der Dinge ausmachen, wurden wesentliche Eigenschaften genannt; ein Urtheil, in welchem eine derselben ausgesagt wird, hiess ein wesentliches Urtheil, und man betrachtete es als tiefer in die Natur der Dinge eingehend und in Betreff derselben mehr Auskunft ertheilend, als irgend ein anderes Urtheil. Alle Eigenschaften, welche nicht zu dem Wesen der Dinge gehören, wurden seine zufälligen Eigenschaften (Accidenzien) genannt. Man nahm an, sie hätten gar nichts, oder verhältnissmässig wenig mit der innersten Natur desselben zu thun, und die Urtheile, in denen eine derselben prädicirt wurde, nannte man zufällige Urtheile. Es lässt sich ein Zusammenhang nachweisen zwischen dieser, bei den Scholastikern entstandenen Unterscheidung und den wohlbekannten Lehren von substantiae secundae oder allgemeinen Substanzen, und substantiellen Formen, Lehren, die unter verschiedenen Ausdrucksweisen in der Aristotelischen Schule und in der Schule von Platon herrschten, und von deren Geist die moderne Zeit mehr geerbt hat, als man aus dem Verschwinden der Redeweise vermuthen sollte. Die bei den Scholastikern herrschende falsche Ansicht über die Natur der Classification und Generalisation, von welcher diese Lehren der technische Ausdruck waren, bietet die einzige Erklärung ihres Missverstehens der wirklichen Natur jener Essenzen dar, die in ihrer Philosophie eine so hervorragende Stelle einnahmen. Sie sagen ganz wahr, der Mensch kann nicht ohne Vernunft gedacht werden. Aber obgleich der Mensch nicht so gedacht werden kann, so könnte man doch ein Geschöpf denken, das ihm in allen Punkten ähnlich ist, mit Ausnahme dieser einen Eigenschaft und derjenigen anderen, die eine Bedingung oder Folge derselben sind. In der Behauptung, der Mensch könne nicht ohne Vernunft gedacht werden, ist daher in Wirklichkeit nur wahr, dass wenn er keine Vernunft besässe, so würde man ihn nicht für einen Menschen halten. Es ist an sich keine Unmöglichkeit vorhanden, das Ding zu denken, noch, soviel wir wissen, dafür, dass es existire; die Unmöglichkeit liegt in dem Sprachgebrauch, welcher nicht erlaubt, das Ding, wenn es existirte, bei einem Namen zu nennen, der vernünftigen Wesen vorbehalten ist. In[130] kurzen Worten, Vernunft ist in der Bedeutung des Wortes Mensch eingeschlossen, es ist eines der durch den Namen mitbezeichneten Attribute. Das Wesen des Menschen heisst einfach das Ganze der durch das Wort mitbezeichneten Attribute, und ein jedes dieser Attribute ist einzeln genommen eine wesentliche Eigenschaft des Menschen.

Die Lehren, welche das Verständniss der wirklichen Bedeutung der Essenzen verhinderten, hatten zur Zeit des Aristoteles und seiner unmittelbaren Nachfolger noch nicht die ausgeprägte Gestalt angenommen, welche ihnen später von den Realisten des Mittelalters gegeben wurde, und wir finden deshalb in den Schriften der älteren Peripatetiker eine rationellere Ansicht von dem Gegenstand, als bei ihren modernen Nachfolgern. In seiner Isagoge kommt Porphyrius der wahren Vorstellung von dem Wesen so nahe, dass ihm nur noch ein Schritt zu thun übrig blieb, aber dieser Schritt, so leicht dem Anschein nach, war den Nominalisten der neueren Zeit zu thun vorbehalten. Durch das Aendern einer nicht zum Wesen des Dinges gehörigen Eigenschaft macht man nach Porphyrius nur einen Unterschied in ihm, man macht es alloion; aber beim Aendern einer zu dem Wesen gehörigen Eigenschaft macht man es zu einem andern Ding, macht man es allo.27 Einem Neuern ist es einleuchtend, dass zwischen der Aenderung, welche das Ding verschieden, und der Aenderung, welche es zu einem andern Ding macht, der einzige Unterschied darin liegt, dass es in dem einen Fall, obgleich verändert, noch mit demselben Namen genannt wird. Zer stösst man Eis in einem Mörser und wird es noch Eis genannt, so wird es bloss alloion gemacht; schmilzt man es, so wird es allo, ein anderes Ding, nämlich Wasser. Nun ist es aber wirklich in beiden Fällen dasselbe Ding, d.h. es sind dieselben materiellen Theilchen, und man kann kein Ding in der Art ändern, dass es aufhört in diesem Sinne dasselbe Ding zu sein. Die Identität, deren es beraubt werden kann, ist eine blosse Identität des Namens; wenn das Ding[131] nicht mehr Eis genannt wird, so ist es ein anderes Ding geworden; das Wesen, welches es zum Eis machte, ist verschwunden, während, so lange es Eis genannt wird, nichts verschwunden ist als vielleicht einige seiner zufälligen Eigenschaften. Aber diese uns so geläufigen Erwägungen waren für diejenigen schwierig, welche wie die meisten Anhänger des Aristoteles glaubten, dass die Gegenstände zu dem gemacht würden was sie heissen, dass z.B. Eis zu Eis gemacht wurde, nicht durch das Besitzen gewisser Eigenschaften, denen die Menschen diesen Namen gaben, sondern durch die Theilhaftigkeit an der Natur einer gewissen allgemeinen Substanz, Eis im Allgemeinen genannt, welche Substanz mit allen dazu gehörigen Eigenschaften jedem einzelnen Stück Eis inhärirt. Da sie diese allgemeinen Substanzen nicht als allen, sondern nur als einigen Gemeinnamen anhängig betrachteten, so glaubten sie, dass ein Gegenstand nur einen Theil seiner Eigenschaften von der allgemeinen Substanz nähme und dass der Rest ihr individuell angehöre; den ersteren nannten sie sein Wesen (Essenz), letzteren sein Accidens. Die scholastische Lehre von den Essenzen überlebte die Theorie, auf welcher sie ruhte, die der Existenz realer, den Gemeinnamen entsprechender Entitäten auf lange hinaus, und es war gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts Locke vorbehalten, die Philosophen zu überzeugen, dass die angenommenen Essenzen der Classen bloss in der Bedeutung ihrer Namen besteht. Unter den hohen Diensten, welche seine Schriften der Philosophie leisteten, war keiner nöthiger und keiner schätzenswerther.28[132]

Da nun der familiärste der Eigennamen, durch den ein Gegenstand bezeichnet wird, nicht bloss eines, sondern mehrere Attribute des Gegenstandes mitbezeichnet, wovon ein jedes, das Band der Vereinigung irgend einer Classe und die Bedeutung irgend eines Gemeinnamens bildet: so können wir von einem Namen, welcher eine Menge von Attributen mitbezeichnet, einen andern Namen aussagen, der nur eines von diesen Attributen oder eine geringere Anzahl derselben mitbezeichnet. In solchen Fällen wird das allgemeine bejahende Urtheil wahr sein; denn was das Ganze einer Reihe von Attributen besitzt, muss auch einen Theil dieser Reihe besitzen. Ein derartiges Urtheil giebt aber dem, der die ganze Bedeutung der Wörter vorher verstanden hat, keine weitere Auskunft. Die Urtheile: Jeder Mensch ist ein körperliches Wesen, Jeder Mensch ist ein lebendiges Geschöpf, Jeder Mensch ist vernünftig, erweitert nicht das Wissen desjenigen, der die ganze Bedeutung des Wortes Mensch kannte, denn die Bedeutung des Wortes schliesst alles dieses ein; und dass jeder Mensch die durch alle diese Prädicate mitbezeichneten Attribute besitzt, wird schon behauptet, wenn er Mensch genannt wird.

Es ist wahr, von einem Urtheil, das irgend ein Attribut, sei es auch ein in dem Namen eingeschlossenes, prädicirt, wird in den meisten Fällen angenommen, es schlösse die stillschweigende Behauptung ein, dass ein dem Namen entsprechendes Ding, das die durch denselben mitbezeichneten Attribute besitzt, existirt, und diese eingeschlossene Bedeutung könne sogar denjenigen, welche die ganze Bedeutung des Namens kannten, Auskunft (Wissen) mittheilen. Aber alle durch die wesentlichen Urtheile, deren Subject der Mensch ist, mitgetheilte derartige Auskunft liegt in der Behauptung eingeschlossen, der Mensch existirt. Jene Annahme einer realen Existenz ist am Ende doch nur das Resultat einer Unvollkommenheit der Sprache. Es entspringt aus der Zweideutigkeit der Copula, welche ausser ihrer eigenen Function, – ein Merkmal zu[133] sein, welches zeigt, dass eine Behauptung gemacht worden ist –, wie früher bemerkt, auch ein concretes Wort ist, das Existenz mitbezeichnet. Die wirkliche Existenz des Subjects vom Urtheil ist daher nur scheinbar und nicht in Wirklichkeit in der Prädication, wenn sie eine essentielle ist, eingeschlossen; wir können sagen, »ein Gespenst ist ein entkörperter Geist«, ohne an Gespenster zu glauben. Aber eine accidentielle oder nichtessentielle Behauptung schliesst die wirkliche Existenz des Subjects nicht ein, weil bei einem nicht existirenden Subject dem Urtheil nichts zu behaupten bleibt. Ein Urtheil wie folgendes: der Geist eines Gemordeten spukt an dem Lager des Mörders, kann nur eine Bedeutung haben, wenn es so verstanden wird, dass es den Glauben an Geister einschliesst; denn da die Bedeutung des Wortes Geist nichts derartiges einschliesst, so will der Sprechende entweder nichts, oder er will etwas behaupten, von dem er wünscht, dass man glaube, es habe wirklich stattgefunden.

Man wird hernach sehen, dass wenn, wie in der Mathematik, irgend wichtige Folgerungen aus einem wesentlichen Urtheil, oder mit anderen Worten, aus einem in der Bedeutung des Namens eingeschlossenen Urtheil hervorzugehen scheinen, die stillschweigende Annahme der realen Existenz des so benannten Gegenstandes die wirkliche Quelle ist, aus der sie fliessen. Ausser dieser Annahme von wirklicher Existenz entspricht die Classe von Urtheilen, in denen das Prädicat zu dem Wesen des Subjects gehört (d.h. in denen das Prädicat das Ganze oder einen Theil von dem mitbezeichnet, was das Subject mitbezeichnet, aber nichts weiter), keinem Zweck, als dass sie denjenigen, welche sie nicht vorher wussten, die ganze Bedeutung des Namens oder auch nur einen Theil davon darlegt. Die nützlichsten und, wenn man es streng nimmt, die einzig nützlichen von den wesentlichen Urtheile sind daher die Definitionen, welche, um vollständig zu sein, das Ganze von dem in der Bedeutung des definirten Wortes Eingeschlossenen, d.h. (wenn es ein mitbezeichnendes Wort ist) das Ganze von dem, was es mitbezeichnet, erklären sollen. Bei der Definition eines Namens ist es nicht üblich, seine ganze Mitbezeichnung anzuführen, sondern nur so viel als hinreichend ist, um die damit bezeichneten Gegenstände von allen bekannten Gegenständen zu unterscheiden. Zuweilen dient eine bloss zufällige, in der Bedeutung des Namens nicht eingeschlossene Eigenschaft dem Zweck ebenso gut. Die verschiedenen[134] Arten von Definitionen, welche aus diesen Unterscheidungen entspringen, und die Zwecke, denen sie beziehungsweise dienen, werden am geeigneten Ort näher betrachtet werden.

§. 3. Nach der obigen Ansicht von wesentlichen Urtheilen kann zu denselben kein Urtheil gerechnet werden, das sich auf ein mit Namen angeführtes Individuum bezieht, d.h. dessen Subject ein Eigenname ist. Individuen haben keine Essenzen. Wenn die Scholastiker von der Essenz eines Individuums sprechen, so meinen sie damit nicht die in dem Namen eingeschlossenen Eigenschaften, denn die Namen von Individuen schliessen keine Eigenschaften ein. Sie betrachteten als zu dem Wesen des Individuums gehörig, was zum Wesen der Species gehörte, welcher sie jenes Individuum zuzutheilen pflegten, d.h. jener Classe, welcher es gewöhnlich zugetheilt wurde, und zu welcher es daher, wie sie glaubten, seiner Natur nach gehörte. Weil das Urtheil, der Mensch ist ein vernünftiges Wesen, ein essentielles Urtheil ist, so affirmirten sie in gleicher Weise, Julius Cäsar ist ein vernünftiges Wesen. Dies würde natürlich folgen, wenn Genera und Species als Entitäten zu betrachten wären, unterschieden von, aber inhärent den sie zusammensetzenden Individuen. Wenn der Mensch eine Substanz wäre, die einem jeden individuellen Menschen inhärirt, so wäre von dem Wesen des Menschen (was auch damit gemeint sei) anzunehmen, dass es von ihr begleitet ist, dass sie John Thompson inhärirt, und dass sie das gemeinsame Wesen (Essenz) von Thompson und Julius Cäsar bildet. Man könnte dann ganz wohl sagen, dass die Vernunft, da sie das Wesen des Menschen ist, auch das Wesen von Thompson ist. Wenn aber Mensch ganz und gar nichts als individuelle Menschen heisst, und wenn diesen in Folge gewisser gemeinsamen Eigenschaften ein Name gegeben wird, was wird aus John Thompson's Wesen?

Durch einen einzigen Sieg wird selten ein fundamentaler Irrthum aus der Philosophie vertrieben; er zieht sich nur langsam zurück, vertheidigt seinen Boden zollweise, und behält häufig noch festen Fuss in einer verborgenen Feste wenn er aus dem offenen Felde vertrieben worden ist. Die Wesen der Individuen waren eine, aus einem Missverstehen der Wesen der Classen hervorgehende bedeutungslose Erdichtung; sogar Locke konnte sich, als er den ursprünglichen Irrthum zerstörte, von dessen Frucht nicht frei halten.[135] Er unterschied zwei Arten von Wesen, reelle und nominelle. Seine nominellen Wesen waren nahezu die Wesen der Classen, wie wir sie erklärt haben. Um das dritte Buch von Locke's Essay zu einer fast tadellosen Abhandlung über die Mitbezeichnung der Namen zu machen, ist fast nichts nöthig, als seine Sprache von der Annahme sogenannter abstracter Ideen zu befreien, die unglücklicherweise in der Terminologie verwoben, wenn auch nicht nothwendig im Zusammenhang mit den Gedanken stehen, welche in jenem unsterblichen dritten Buch29 enthalten sind. Aber ausser nominellen Wesen nahm er noch reelle Wesen, oder Wesen von individuellen Gegenständen an, die er für die Ursachen der sinnlichen Eigenschaften dieser Gegenstände hielt. Wir wissen nicht, sagt er, was diese sind (und dieses Geständniss machte die Erdichtung verhältnissmässig unschädlich), aber wenn wir es wüssten, so könnten wir aus ihnen allein die sinnlichen Eigenschaften der Gegenstände erklären, gleich wie die Eigenschaften eines Dreiecks aus der Definition desselben bewiesen werden. Bei der Behandlung des Beweises und der Bedingungen, unter denen eine Eigenschaft eines Dinges aus einer andern Eigenschaft desselben erklärt werden kann, werde ich Gelegenheit haben, auf diese Theorie zurückzukommen. Hier reicht es hin, zu bemerken, dass man sich nach dieser Definition das reelle Wesen eines Gegenstandes beim Fortschreiten der Physik, im Falle es ein Körper war, zuletzt als nahezu gleichbedeutend mit seiner körperlichen Structur gedacht hat, was es aber gegenwärtig bedeuten soll, wenn es irgend andere Entitäten sind, möchte ich nicht zu definiren unternehmen.

§. 4. Ein wesentliches Urtheil ist also bloss wörtlich; es behauptet von einem Ding unter einem besondern Namen, was schon[136] von ihm thatsächlich dadurch behauptet worden ist, dass man es bei jenem Namen nannte, und giebt daher entweder gar keine Auskunft, oder giebt sie bezüglich des Namens, nicht des Dinges selbst. Nichtessentielle oder zufällige Urtheile können, im Gegensatz zu wörtlichen, wirkliche Urtheile genannt werden. Sie sagen von einem Ding irgend eine Thatsache aus, die in der Bedeutung des Namens, womit das Urtheil sie nennt, nicht eingeschlossen liegt, irgend ein Attribut, das durch jenen Namen nicht mitbezeichnet wird. Alle Urtheile, bezüglich individuell bezeichneter Dinge, alle allgemeinen oder besonderen Urtheile, in welchen das Prädicat ein Attribut mitbezeichnet, das nicht durch das Subject mitbezeichnet wird, sind dieser Art. Alle diese, wenn sie überhaupt wahr sind, vermehren unser Wissen, sie geben eine nicht bereits in dem Namen eingeschlossene Auskunft. Wenn ich höre, dass alle oder auch nur einige Gegenstände, die gewisse Eigenschaften besitzen, oder welche in gewissen Beziehungen stehen, auch gewisse andere Eigenschaften haben oder in gewissen anderen Beziehungen stehen, so erfahre ich aus diesem Urtheil eine neue Thatsache, eine Thatsache, die weder in meiner Kenntniss von der Bedeutung der Wörter, noch sogar von der dieser Bedeutung der Wörter entsprechenden Existenz von Dingen eingeschlossen lag. Diese Classe von Urtheilen ist allein an und für sich belehrend, aus solchen Urtheilen allein können belehrende Urtheile gefolgert werden.30

Wahrscheinlich hat nichts mehr zu der so lange vorherrschenden Meinung von der Nichtigkeit der scholastischen Logik beigetragen, als der Umstand, dass fast alle in den gewöhnlichen Schulbüchern für die Erläuterung der Lehre von der Prädication und dem Syllogismus gebrauchten Beispiele aus essentiellen Urtheilen bestehen. Sie waren gewöhnlich entweder von den Zweigen oder von dem Stamm des prädicamentalen Baumes genommen, der nichts einschloss als was zum Wesen der Species gehörte: Omne corpus est substantia, Omne animal est corpus, Omnis homo est corpus, Omnis homo est animal, Omnis homo est rationalis und so[137] weiter. Es ist gar nicht zu verwundern, dass die syllogistische Kunst für ein richtiges Schliessen als ganz unnöthig angesehen wurde, da beinahe die einzigen Urtheile, für deren Beweis ihre berufenen Lehrer die Kunst anwandten, der Art waren, dass ihnen ein jeder in dem Augenblick zustimmte, als er die Bedeutung der Wörter verstand, und die in Betreff der Evidenz auf gleicher Linie mit den Prämissen standen, aus denen sie gezogen waren. Ich habe deshalb in diesem Werk den Gebrauch von wesentlichen Urtheilen als Beispiele durchgängig vermieden, ausgenommen wo die Natur des zu erläuternden Princips sie besonders verlangte.

§. 5. In Beziehung auf Urtheile, welche eine Information mittheilen, welche von einem Ding etwas durch einen Namen behaupten, der nicht schon voraussetzt, was erst noch behauptet werden soll, giebt es zwei verschiedene Gesichtspunkte, unter denen man wenigstens diejenigen unter ihnen, die allgemeine Urtheile sind, betrachten kann: wir können sie entweder als Theile speculativer Wahrheit, oder als Memoranda für den praktischen Gebrauch ansehen. Je nachdem wir Urtheile in dem einen oder dem andern Licht betrachten, kann deren Inhalt füglich durch die eine oder die andere der zwei Formeln ausgedrückt werden.

Nach der Formel, die wir bisher gebraucht haben, und die sich am besten dazu eignet, um den Inhalt der Urtheile als ein Theil unseres theoretischen Wissens auszudrücken, bedeutet Alle Menschen sind sterblich, dass die Attribute des Menschen immer von dem Attribut Sterblichkeit begleitet sind. Keine Menschen sind Götter, bedeutet, dass die Attribute des Menschen niemals von den Attributen oder wenigstens nicht von allen durch das Wort Götter bezeichneten Attributen begleitet sind. Ist aber das Urtheil als ein Memorandum für den praktischen Gebrauch anzusehen, so werden wir einen anderen Modus finden, um dieselbe Bedeutung in einer Weise auszudrücken, die geeigneter ist, die Function, welche das Urtheil hat, anzuzeigen. Der praktische Gebrauch eines Urtheils ist, uns zu lehren oder uns daran zu erinnern, was wir in einem einzelnen Falle, der unter die im Urtheil enthaltene Behauptung fällt, zu erwarten haben. In Beziehung auf diesen Zweck bedeutet das Urtheil: Alle Menschen sind sterblich, dass die Attribute des Menschen ein Beweis (Evidenz) von, oder ein Merkmal[138] von Sterblichkeit sind, eine Anzeige, durch welche das Attribut offenbart wird. Keine Menschen sind Götter, bedeutet, dass die Attribute des Menschen ein Merkmal oder ein Beweis sind, dass einige oder alle den Göttern zugeschriebenen Attribute nicht vorhanden sind, dass da wo die ersteren sind, wir die letzteren nicht erwarten dürfen.

Im Grund sind diese zwei Formen des Ausdrucks gleichbedeutend, aber die eine lenkt die Aufmerksamkeit directer auf die Bedeutung des Urtheils, die andere mehr auf die Art, wie es zu gebrauchen ist.

Es ist nun noch zu bemerken, dass das Schliessen (der Gegenstand, zu dem wir bald übergehen) ein Process ist, in welchem Urtheile nicht als Endresultate, sondern als ein Mittel eintreten, um andere Urtheile aufzustellen. Wir dürfen daher erwarten, dass diejenige Art den Inhalt eines allgemeinen Urtheils darzulegen, welche es in seiner Anwendung auf praktische Zwecke zeigt, am besten die Function ausdrückt, welche die Urtheile beim Schliessen erfüllen. Es wird sich daher in der Theorie des Schliessens diejenige Anschauungsweise, welche annimmt, dass ein Urtheil behauptet, eine Thatsache oder Erscheinung sei ein Merkmal oder ein Beweis von einer anderen Thatsache oder Erscheinung, als fast unentbehrlich herausstellen. Für die Zwecke dieser Theorie ist die beste Weise, den Inhalt eines Urtheils zu definiren, nicht diejenige, welche am klarsten zeigt, was es an und für sich ist, sondern diejenige, welche am deutlichsten die Art und Weise angiebt, wie es zu benutzen ist, um von ihm zu anderen Urtheilen überzugehen.[139]

Quelle:
John Stuart Mill: System der deduktiven und inductiven Logik. Band 1, Braunschweig 31868, S. 128-140.
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