Zehntes Capitel.

Von der umgekehrten deductiven oder historischen Methode.

[533] §. 1. Es giebt zwei Arten von sociologischer Forschung. Bei der ersten Art ist die Frage, welche Wirkung wird aus einer gegebenen Ursache hervorgehen, ein gewisser allgemeiner Zustand von socialen Umständen vorausgesetzt; wie z.B.: welches würde die Wirkung sein, wenn in irgend einem europäischen Lande bei dem gegenwärtigen Gesellschafts- und Bildungszustande, oder unter irgend einer anderen Voraussetzung von gesellschaftlichen Umständen und ohne Rücksicht auf die Veränderungen, welche in diesen Umständen stattfinden könnten, oder vielleicht schon im Werden sind, Korngesetze eingeführt oder aufgehoben, die Monarchie abgeschafft, oder allgemeines Stimmrecht eingeführt würden. Es bleibt aber noch eine zweite Untersuchung, nämlich die Untersuchung in Betreff der Gesetze, welche diese allgemeinen Umstände selbst bestimmen. Bei der letzteren Untersuchung ist die Frage nicht, was die Wirkung einer gegebenen Ursache bei einem gewissen Zustand der Gesellschaft sein wird, sondern welches die Ursachen sind, die Gesellschaftszustände erzeugen, und welches die Erscheinungen sind, die sie charakterisiren. Die allgemeine Gesellschaftswissenschaft besteht in der Lösung dieser Frage; durch sie müssen die Schlüsse der anderen und specielleren Untersuchungsweisen beschränkt und beherrscht werden.

§. 2. Um den Umfang dieser allgemeinen Wissenschaft richtig zu verstehen und sie von den untergeordneten Fächern der sociologischen Speculation zu unterscheiden, ist es nöthig, die mit dem Ausdruck »ein Zustand der Gesellschaft« verbundene Idee festzustellen.[533] Ein Zustand der Gesellschaft heisst der gleichzeitige Zustand aller grösseren socialen Thatsachen oder Erscheinungen. Zu denselben gehören der in einem Gemeinwesen oder in einer jeden Classe desselben Bestehende Grad von Kenntnissen und von geistiger und moralischer Bildung, der Zustand der Industrie, die Menge des Reichthums und seine Vertheilung; die gewohnheitsgemässen Beschäftigungen des Gemeinwesens; seine Eintheilung in Classen und das Verhältniss dieser Classen zu einander; sein Glaube in Betreff aller Gegenstände, welche den Menschen am wichtigsten sind, und der Grad von Zuversicht, womit es diesen Glauben hegt; der Geschmack, der Charakter und der Grad von ästhetischer Entwickelung; die Regierungsform und die wichtigeren Gesetze und Gebräuche des Gemeinwesens. Der Zustand aller dieser und vieler anderer sich darbietender Dinge macht den Zustand der Gesellschaft und der Civilisation zu einer gegebenen Zeit aus.

Wenn man von gesellschaftlichen Zuständen und den sie erzeugenden Ursachen spricht, so ist dabei mitverstanden, dass zwischen diesen verschiedenen Elementen eine natürliche wechselseitige Beziehung besteht; dass nicht eine jede Art von Combination dieser allgemeinen socialen Thatsachen möglich ist, sondern nur gewisse Combinationen; kurz, dass Gleichförmigkeiten der Coexistenz zwischen den Zuständen der verschiedenen socialen Erscheinungen bestehen. Und in der That ist dies die nothwendige Folge des Einflusses, den eine jede von diesen Erscheinungen auf die andere ausübt. Es ist eine in dem Consens der verschiedenen Theile des Gesellschaftskörpers inbegriffene Thatsache.

Gesellschaftszustände sind wie die verschiedenen Constitutionen oder die verschiedenen Alter des physischen Körpers; sie sind nicht Zustände eines oder weniger Organe oder Functionen, sondern des ganzen Organismus. Es bietet deshalb die Kenntniss, welche wir in Betreff vergangener Zeiten und der in verschiedenen Regionen der Erde nunmehr bestehenden Gesellschaftszustände besitzen, bei gehöriger Analyse Gleichförmigkeiten dar, indem man findet, dass, wenn einer der Züge der Gesellschaft in einem besonderen Zustande ist, ein mehr oder weniger bestimmter Zustand von vielen anderen Zügen immer oder gewöhnlich zugleich mit ihm vorhanden ist.[534]

Aber die Gleichförmigkeiten der Coexistenz, welche zwischen Erscheinungen bestehen, welche Wirkungen von Ursachen sind, müssen (wie so oft bemerkt) Folgesätze der Causalgesetze sein, durch welche diese Erscheinungen wirklich bestimmt werden. Die gegenseitige Correlation zwischen den verschiedenen Elementen eines jeden Gesellschaftszustandes ist daher ein derivatives Gesetz, das aus den Gesetzen hervorgeht, welche die zwischen dem einen und dem anderen Zustande der Gesellschaft bestehende Succession regeln; denn die nähere Ursache eines jeden gesellschaftlichen Zustandes ist der unmittelbar vorhergehende Gesellschaftszustand. Die fundamentale Aufgabe der Gesellschaftswissenschaft besteht daher darin, die Gesetze zu finden, nach denen ein gesellschaftlicher Zustand den ihm nachfolgenden und seine Stelle einnehmenden Zustand erzeugt. Dies eröffnet die schwierige Frage in Betreff des Fortschreitens der Menschen und der Gesellschaft, eine in einer jeden richtigen Vorstellung von den socialen Erscheinungen als Gegenstand einer Wissenschaft inbegriffene Idee.

§. 3. Es ist eine der Eigenthümlichkeiten der Wissenschaften von der menschlichen Natur und Gesellschaft, eine Eigenthümlichkeit, die ihnen zwar nicht absolut, doch in hohem Grade angehört, dass sie mit einem Gegenstande zu schaffen haben, dessen Eigenschaften veränderlich sind. Ich meine nicht veränderlich von Tag zu Tag, sondern von Jahrhundert zu Jahrhundert, so dass sich nicht bloss die Eigenschaften der Individuen ändern, sondern dass auch die Eigenschaften der Mehrheit in einem Jahrhundert nicht mehr dieselben sind, wie in dem anderen.

Die Hauptursache dieser Eigenthümlichkeit ist die beständige Gegenwirkung der Wirkungen auf ihre Ursachen. Die Umstände, in denen sich die Menschen befinden, und welche nach ihren eigenen Gesetzen und denen der menschlichen Natur wirken, bilden den Charakter der menschlichen Wesen; aber ihrerseits bilden und formen die menschlichen Wesen für sich und ihre Nachkommen die Umstände. Aus dieser gegenseitigen Action muss nothwendig entweder ein Cyclus oder ein Fortschreiten hervorgehen. Auch in der Astronomie ist eine jede Thatsache zugleich Ursache und Wirkung; die aufeinanderfolgenden Stellungen der verschiedenen Himmelskörper erzeugen Veränderungen sowohl in der Richtung, als[535] auch in der Intensität der Kräfte, durch welche diese Stellungen bestimmt werden. Aber in dem Sonnensystem bringen diese gegenseitigen Wirkungen nach einer gewissen Anzahl von Veränderungen den vorigen Stand der Umstände wieder zurück, was naturgemäss zu einer fortwährenden Wiederkehr derselben Reihe in einer unveränderlichen Ordnung führt. Kurz, diese Körper bewegen sich in geschlossenen Bahnen; es giebt aber auch andere Körper (nach den astronomischen Gesetzen könnte es solche geben), welche anstatt einer geschlossenen Bahn eine Trajectorie oder eine nicht in sich zurückkehrende Bahn beschreiben. Das eine oder das andere muss den Typus abgeben, nach dem sich die menschlichen Angelegenheiten richten.

Einer von den ersten Denkern, welche sich die Succession der geschichtlichen Ereignisse festen Gesetzen unterworfen dachten und durch eine analytische Prüfung der Geschichte diese Gesetze zu entdecken suchten, Vico, der berühmte Verfasser der Scienza Nuova, war der ersteren Meinung. Er glaubte, die Erscheinungen der menschlichen Gesellschaft bewegten sich in einem Kreise; sie gingen periodisch durch dieselbe Reihe von Veränderungen hindurch, Obgleich es nicht an Umständen fehlte, welche diese Ansicht plausibel machten, so hielt sie doch eine strenge Prüfung nicht aus, und diejenigen, welche Vico in derartigen Betrachtungen folgten, haben allgemein die Idee einer Trajectorie oder eines Fortschritts anstatt einer geschlossenen Bahn oder eines Cyclus angenommen.

Die Ausdrücke Fortschritt und Fortschreiten (Progression und Progressivität) sind hier nicht als synonym mit Vervollkommnung und Streben nach Vervollkommnung zu verstehen. Es ist denkbar, dass die Gesetze der menschlichen Natur eine gewisse Reihe von Veränderungen in den Menschen und der Gesellschaft bestimmen und sogar unvermeidlich machen, welche nicht in einem jeden Falle oder nicht im Ganzen Vervollkommnungen sein dürften. In der That ist es mein Glaube, dass das allgemeine Streben, bei gelegentlichen und zeitweiligen Ausnahmen, ein Streben nach Vervollkommnung ist und bleiben wird, ein Streben nach einem besseren und glücklicheren Zustande. Dies ist indessen nicht eine Frage der Methode der socialen Wissenschaft, sondern ein Lehrsatz der Wissenschaft selbst. Für unseren[536] Zweck genügt es, dass sowohl in dem Charakter des Menschengeschlechts, wie auch in den äusseren Umständen desselben, soweit sie von ihm selbst gebildet werden, eine fortschreitende Veränderung stattfinde; dass in jedem folgenden Jahrhundert die Haupterscheinungen der Gesellschaft sich von denen des vorhergehenden und noch mehr von denen irgend eines früheren Jahrhunderts unterscheiden, indem die Perioden, welche diese aufeinander folgenden Veränderungen sehr deutlich markiren, Intervalle von einer Generation sind. Während eines solchen Intervalls ist eine neue Reihe von menschlichen Wesen erzogen worden, der Kindheit entwachsen und hat von der Gesellschaft Besitz genommen.

Der Fortschritt des Menschengeschlechts ist das Fundament, auf dem in den letzten Jahren eine Methode der Forschung in der Gesellschaftswissenschaft errichtet worden ist, die den beiden früher herrschenden Forschungsweisen, der chemischen oder experimentellen und der geometrischen, weit überlegen ist. Diese Methode, welche gegenwärtig von den am weitesten vorgeschrittenen Denkern des Continents angenommen wird, besteht darin, dass man durch das Studium und die Analyse der allgemeinen Thatsachen der Geschichte das Gesetz des Fortschritts (wie es diese Forscher nennen) zu entdecken sucht; und dieses Gesetz, wenn es einmal ermittelt ist, muss uns diesen Denkern zufolge in den Stand setzen, künftige Ereignisse vorauszusagen, gerade so, wie wir in der Algebra nach einigen Gliedern einer unendlichen Reihe das Princip der Regelmässigkeit ihrer Bildung entdecken und den Rest der Reihe bis zu einer beliebigen Anzahl von Gliedern voraussagen können. Der Hauptzweck der historischen Speculation in Frankreich während der letzten Jahre war die Ermittelung dieses Gesetzes. Aber während ich die grossen Dienste, welche der Geschichtswissenschaft durch diese Schule geleistet wurden, gern anerkenne, muss ich sie doch eines fundamentalen Missverstehens der wahren Methode der socialen Forschung für schuldig halten. Das Missverständniss besteht in der Voraussetzung, es könnte die Ordnung der Succession, welche wir in den uns von der Geschichte dargebotenen verschiedenen Gesellschafts- und Bildungsstufen nachweisen können, auch wenn diese Ordnung noch strenger gleichförmig wäre, als sie sich erwiesen hat, jemals einem Naturgesetz gleichkommen. Sie kann nur ein empirisches Gesetz sein. Die[537] Zustände des menschlichen Geistes und der menschlichen Gesellschaft können nicht ein ihnen eigenes unabhängiges Gesetz haben, sondern dasselbe muss von den psychologischen und ethologischen Gesetzen abhängen, welche die Wirkung von Umständen auf die Menschen und von den Menschen auf die Umstände beherrschen. Es ist denkbar, dass diese Gesetze und die allgemeinen Umstände des Menschengeschlechts der Art sind, dass sie die successive Umbildung der Menschen und der Gesellschaft zu einer gegebenen und unveränderlichen Ordnung bestimmen. Wenn dies aber auch der Fall wäre, so kann es nicht der letzte Zweck der Wissenschaft sein, ein empirisches Gesetz zu entdecken. Ehe dieses Gesetz nicht mit den psychologischen und ethologischen Gesetzen, von denen es abhängig sein muss, in Verbindung gebracht und durch die Uebereinstimmung der aprioristischen Deduction und des geschichtlichen Beweises aus einem empirischen Gesetz in ein wissenschaftliches Gesetz umgewandelt werden kann, ist es für die Voraussetzung künftiger Vorgänge über höchstens angrenzende Fälle hinaus unzuverlässig. Herr Comte ist der Einzige von der jungen historischen Schule, der die Nothwendigkeit eingesehen hat, in dieser Weise alle unsere Generalisationen aus der Geschichte mit den Gesetzen der menschlichen Natur in Verbindung zu setzen.

§. 4. Während es aber eine gebieterische Regel ist, niemals eine Generalisation aus der Geschichte in die Gesellschaftswissenschaft einzuführen, wenn nicht in der menschlichen Natur genügende Gründe dafür nachzuweisen sind, so glaube ich doch, dass Niemand bestreiten wird, dass es möglich gewesen wäre, von den Elementen der menschlichen Natur und den allgemeinen Umständen der menschlichen Zustände ausgehend, a priori die Ordnung zu bestimmen, in weicher die menschliche Entwickelung stattfinden muss, und folglich die allgemeinen Thatsachen der Geschichte bis zur jetzigen Zeit vorauszusagen. Schon nach den ersten Gliedern der Reihe überwiegt der durch die vorhergehenden Generationen auf eine jede nachfolgende Generation ausgeübte Einfluss (wie der zuletzt angeführte Schriftsteller richtig bemerkt hat) mehr und mehr alle anderen Einflüsse; so dass endlich Alles, was wir sind und thun, nur in einem sehr geringen Grade das Resultat der allgemeinen Umstände des Menschengeschlechts, oder auch nur unserer[538] eigenen, durch die ursprünglichen Eigenschaften unserer Species wirkenden Umstände ist, sondern hauptsächlich das Resultat der durch die ganze frühere Geschichte der Menschheit erzeugten Eigenschaften. Es übersteigt die menschlichen Fähigkeiten, eine so lange Reihe von Wirkungen und Gegenwirkungen, in der ein jedes folgende Glied aus einer immer grösseren Anzahl und Mannigfaltigkeit von Theilen zusammengesetzt ist aus den sie erzeugenden elementaren Gesetzen zu berechnen. Die blosse Länge der Reihe wäre schon ein hinreichendes Hinderniss, indem ein kleiner Irrthum in irgend einem Gliede der Reihe bei einem jeden folgenden Schritte in schneller Progression zunehmen würde.

Wenn daher die Reihe der Wirkungen selbst bei ihrer Prüfung als ein Ganzes nicht irgend eine Regelmässigkeit darbieten würde, so würden wir vergebens suchen, eine Gesellschaftswissenschaft aufzubauen; wir hätten uns in diesem Falle mit jener untergeordneten, früher schon angeführten Art von sociologischer Speculation begnügen müssen, mit dem Versuche nämlich zu bestimmen, welches die Wirkung von der Einführung einer neuen Ursache in einen der Voraussetzung nach festen gesellschaftlichen Zustand sein würde, ein Wissen, das für die gewöhnlichen Bedürfnisse der täglichen politischen Praxis genügend ist, das uns aber in allen Fällen, in denen die fortschreitende Bewegung der Gesellschaft eines der influirenden Elemente ist, leicht im Stiche lässt und daher im Verhältniss precärer wird, als der Fall an Wichtigkeit zunimmt. Da aber sowohl die natürlichen Verschiedenheiten der Menschheit, als auch die ursprünglichen Verschiedenheiten der localen Umstände weniger zahlreich sind, als die übereinstimmenden Punkte, so wird naturgemäss in der fortschreitenden Entwickelung des Menschengeschlechts und seiner Werke ein gewisser Grad von Gleichförmigkeit vorhanden sein. Und bei dem Fortschreiten der Gesellschaft strebt diese Gleichförmigkeit grösser, nicht kleiner zu werden, da die Entwickelung eines jeden Volkes, welche zuerst ausschliesslich durch die Natur und die Umtsände bestimmt wird, allmälig unter den (beim Fortschreiten der Civilisation immer stärker werdenden) Einfluss von anderen Nationen der Erde und von Umständen gebracht wird, durch welche diese Nationen beeinflusst worden sind. Wenn daher die Geschichte mit Verstand geprüft wird, so bietet sie empirische Gesetze der Gesellschaft,[539] und es ist die Aufgabe der allgemeinen Sociologie, dieselben zu bestimmen und sie mit den Gesetzen der menschlichen Natur durch Deductionen zu verknüpfen, welche zeigen, dass diese empirischen Gesetze die derivativen Gesetze sind, die als die Folgen jener letzten Gesetze ganz naturgemäss zu erwarten waren.

Es ist in der That kaum jemals möglich, selbst nicht, nachdem die Geschichte das abgeleitete Gesetz an die Hand gegeben hat, a priori zu beweisen, dass dies die einzige Art von Succession oder Coexistenz war, in welcher die Wirkungen in Uebereinstimmung mit den Gesetzen der menschlichen Natur erzeugt werden konnten. Wir können höchstens beweisen, dass starke aprioristische Gründe vorhanden waren, sie zu erwarten, und dass keine andere Ordnung der Succession oder Coexistenz mit so viel Wahrscheinlichkeit aus der Natur des Menschen und den allgemeinen Umständen seiner Lage hervorgegangen sein würde. Oft können wir nicht einmal dieses; wir können oft nicht einmal zeigen, dass das, was geschah, a priori wahrscheinlich war, sondern nur, dass es möglich war. Dieses – was in der umgekehrten deductiven Methode, welche wir jetzt charakterisiren, wirklich ein verificirendes Verfahren ist – ist aber ebenso unumgänglich nöthig, wie es die Verification durch specifische Erfahrung da ist, wo wir ursprünglich durch directe Deduction zu dem Schlüsse gelangt sind. Das empirische Gesetz muss das Resultat von nur wenigen Fällen sein, da nur wenige Nationen eine hohe Stufe des socialen Fortschritts erreicht haben, noch weniger Nationen aber durch eigene unabhängige Entwickelung. Wenn daher nur einer oder zwei von diesen wenigen Fällen nicht hinlänglich bekannt oder unvollkommen in ihre Elemente zerlegt und daher nicht genau mit anderen Fällen verglichen worden sind, so ist nichts wahrscheinlicher, als dass ein falsches anstatt eines richtigen empirischen Gesetzes daraus hervorgehen wird. Es werden demzufolge auch aus dem Gange der Geschichte fortwährend die irrigsten Generalisationen gezogen, nicht nur in diesem Lande, von dem man kaum noch sagen kann, dass in ihm die Geschichte überhaupt als eine Wissenschaft cultivirt wird, sondern auch in anderen Ländern, in denen sie als Wissenschaft cultivirt wird, und zwar von Personen, die in ihr wohl bewandert sind. Das einzige Mittel der Verbesserung besteht in der beständigen Verification durch psychologische[540] und ethologische Gesetze. Wir können hinzufügen, dass nur Einer, der mit diesen Gesetzen hinreichend bekannt ist, auch fähig ist, durch die Analyse der geschichtlichen Thatsachen, oder auch durch Beobachtung der gesellschaftlichen Erscheinungen seiner eigenen Zeit die Materialien für die geschichtliche Generalisation vorzubereiten. Ein jeder Andere wird die relative Wichtigkeit der verschiedenen Thatsachen nicht einsehen und folglich auch nicht wissen, welche Thatsachen er suchen oder beobachten soll; noch weniger wird er im Stande sein, den Beweis von Thatsachen zu bemessen, welche, wie es mit den meisten Thatsachen der Fall ist, nicht durch directe Beobachtung bestimmt, oder aus dem Zeugniss anderer erlernt werden können, sondern aus Merkmalen gefolgert werden müssen.

§. 5. Die empirischen Gesetze der Gesellschaft sind von zweierlei Art; einige sind Gleichförmigkeiten der Coexistenz, andere der Succession. Je nachdem die Wissenschaft darauf ausgeht, die erstere oder die letztere Art Gleichförmigkeiten zu ermitteln und zu verificiren, nennt sie Herr Comte sociale Statik oder sociale Dynamik; ähnlich wie man in der Mechanik zwischen den Bedingungen des Gleichgewichts und den Bedingungen der Bewegung, oder in der Physiologie zwischen den Gesetzen der Organisation und den Gesetzen des Lebens unterscheidet. Der erstere Zweig der Wissenschaft ermittelt die Bedingungen der Stabilität des socialen Verbands; der letztere die Gesetze des Fortschritts. Die sociale Dynamik ist die Lehre von der in einer fortschreitenden Bewegung betrachteten Gesellschaft; während die sociale Statik die Lehre von dem zwischen den verschiedenen Theilen des gesellschaftlichen Organismus bestehenden Consens, mit anderen Worten, die Lehre von den gegenseitigen Wirkungen und Gegenwirkungen der gleichzeitigen socialen Erscheinungen ist, »indem sie vorläufig soviel als möglich für wissenschaftliche Zwecke von der fundamentalen Bewegung, welche zu allen Zeiten das Ganze dieser Erscheinungen modificirt, absieht.206

Unter dem ersten Gesichtspunkt wird uns die Sociologie in den Stand setzen, in einer Weise, die der bei der Anatomie[541] des physischen Körpers jetzt üblichen Weise wesentlich analog ist, die verschiedenen charakteristischen Merkmale eines jeden unterschiedenen Modus der socialen Existenz aus dem andern zu folgern (vorbehaltlich der Bestätigung durch directe Beobachtung). Diese vorläufige Ansicht von der politischen Wissenschaft setzt daher nothwendig voraus, dass (im Gegensatz zu den bestehenden Gewohnheiten der Philosophen) ein jedes der zahlreichen Elemente des socialen Zustandes nicht mehr unabhängig und absolut, sondern immer und ausschliesslich nur in Beziehung auf alle anderen Elemente, mit deren Ganzem es durch gegenseitige Abhängigkeit verbunden ist, betrachtet werde. Es wäre überflüssig, hier bei der grossen und beständigen Nützlichkeit dieses Zweiges der sociologischen Speculation zu verweilen. Er ist vor allem die unentbehrliche Basis der Lehre von dem socialen Fortschritt. Er kann überdies unmittelbar und für sich allein gebraucht werden, um wenigstens vorläufig die Stelle der directen Beobachtung einzunehmen, welche in vielen Fällen in Beziehung auf einige Gesellschaftselemente nicht ausführbar ist, deren wirklicher Zustand indessen vermittelst der Beziehungen, welche sie mit anderen, vorher bekannten Elementen verknüpfen, genügend beurtheilt werden kann. Die Geschichte der Wissenschaft kann uns einen Begriff von der Wichtigkeit dieses Hülfsmittels geben, indem sie uns z.B. daran erinnert, wie die vulgären Irrthümer der blossen Gelehrsamkeit in Betreff der vermeintlichen Ausbildung der alten Egyptier in der höheren Astronomie (ehe noch eine gesundere Gelehrsamkeit ihr Urtheil abgegeben hatte) durch blosse Betrachtung des unvermeidlichen Zusammenhanges zwischen dem allgemeinen Zustande der Astronomie und der reinen Geometrie, die bei ihnen offenbar in der Kindheit war, unwiederbringlich zerstört wurden. Mau könnte leicht eine Menge von Fällen anführen, deren Charakter keinen Streit zulassen würde. Um Uebertreibungen zu vermeiden, muss indessen bemerkt werden, dass diese nothwendigen Beziehungen zwischen den verschiedenen Erscheinungen der Gesellschaft ihrer Natur nach nicht so einfach und genau sein können, dass die beobachteten Resultate aus nur einem Modus der gegenseitigen Coordination hätten hervorgehen können. Eine solche in der Wissenschaft vom Leben schon zu enge Vorstellung würde[542] mit der noch verwickelteren Natur der sociologischen Betrachtungen vollständig im Widerspruch stehen. Aber die genaue Berechnung der Grenzen der Abweichung, sowohl im gesunden als auch im kranken Zustand, constituirt, wenigstens ebensosehr wie in der Anatomie des Naturkörpers, eine unerlässliche Ergänzung einer jeden Theorie der sociologen Statik; ohne sie würde die obenerwähnte indirecte Untersuchung oft zu Irrthümern führen.

Es ist hier nicht der Ort, das Vorhandensein einer nothwendigen Beziehung zwischen allen möglichen Erscheinungen desselben socialen Organismus methodisch zu beweisen; dies ist ein Punkt, worüber, wenigstens dem Princip nach, unter den gründlichen Denkern nur geringe Meinungsverschiedenheit herrscht. Von welchem socialen Elemente wir auch ausgehen mögen, so können wir doch leicht erkennen, dass es immer einen mehr oder weniger unmittelbaren Zusammenhang mit allen anderen Elementen, selbst mit denjenigen hat, welche beim ersten Anblick am unabhängigsten von ihm zu sein scheinen. Die dynamische Betrachtung der fortschreitenden Entwickelung der civilisirten Menschheit bietet ohne Zweifel ein noch wirksameres Mittel dar, um diese interessante Bestätigung des Consens der gesellschaftlichen Erscheinungen auszuführen, indem sie die Art und Weise darlegt, in welcher eine jede Veränderung in dem einen Theile unmittelbar oder sehr rasch auf alle übrigen Theile wirkt. Aber dieser Darstellung kann eine Bestätigung von einer rein statischen Natur vorausgehen, oder doch jedenfalls folgen; denn in der Politik, wie in der Mechanik, beweist die Uebertragung der Bewegung von einem Gegenstand auf den andern einen Zusammenhang zwischen denselben. Ist es, ohne zu der unbedeutenderen gegenseitigen Abhängigkeit der verschiedenen Zweige einer Wissenschaft oder Kunst hinabzusteigen, nicht evident, dass sowohl unter den verschiedenen Wissenschaften, als auch unter den meisten Künsten ein solcher Zusammenhang besteht, dass, wenn wir mit dem Zustande eines ausgezeichneten Theiles derselben bekannt sind, wir mit wahrhaft wissenschaftlicher Gewissheit den gleichzeitigen Zustand einer jeden der anderen folgern können? Wenn wir diese Betrachtung weiter ausdehnen, so können wir die nothwendige Beziehung begreifen, welche zwischen dem Zustande der Wissenschaften im allgemeinen und dem Zustande der Künste im allgemeinen besteht; nur dass die[543] gegenseitige Abhängigkeit im Verhältniss, als sie indirect, auch weniger stark ist. Dasselbe ist der Fall, wenn wir, anstatt den Durchschnitt der socialen Erscheinungen bei einem Volke zu betrachten, denselben zugleich bei verschiedenen gleichzeitigen Nationen untersuchen, deren fortwährender gegenseitiger Einfluss namentlich in der neueren Zeit, nicht zu bestreiten ist, obgleich in diesem Falle der Consens von einem weniger entschiedenen Charakter sein wird und mit der Verwandtschaft der Fälle und der Vielfachheit der Berührungspunkte allmälig abnehmen muss, so dass er In manchen Fällen zuletzt ganz verschwindet, wie z.B. zwischen dem westlichen Europa und dem östlichen Asien, denen verschiedene gesellschaftliche Zustände bisher von einander unabhängig gewesen zu sein scheinen.«

Diesen Betrachtungen folgen Illustrationen eines wichtigen und bis in die neueste Zeit sehr vernachlässigten allgemeinen Princips, nämlich des Princips der nothwendigen Correlation zwischen der in einer Gesellschaft bestehenden Regierungsform und dem allgemeinen Zustande der Civilisation. Es ist dies ein natürliches Gesetz, welches den endlosen Discussionen und den unzähligen Theorien in Betreff der Regierungsformen in abstracto, wenn sie einem anderen Zwecke als dem der Vorbereitung des Materials für den späteren Aufbau einer besseren Philosophie dienen sollen, den Stempel der Unfruchtbarkeit und Werthlosigkeit aufdrückt.

Es würde, wie bereits bemerkt, eines der Hauptresultate der Wissenschaft der politischen Statik sein, wenn sie die Erfordernisse eines stabilen politischen Verbandes bestimmte. Es giebt einige Umstände, welche in allen Gesellschaften ohne Ausnahme getroffen werden und im höchsten Grade da, wo der gesellschaftliche Verband am vollständigsten ist; diese Umstände können demnach als Bedingungen der Staat genannten complexen Erscheinungen betrachtet wer den (wenn psychologische und ethologische Gesetze die Indication bestätigen). Es ist z.B. niemals eine zahlreiche Gesellschaft ohne Gesetze oder ihnen äquivalente Gebräuche, ohne Gerichte und eine für die Ausführung der Aussprüche derselben organisirte Gewalt zusammengehalten worden. Es gab immer öffentliche Autoritäten, denen der Rest des Gemeinwesens mehr oder weniger streng und in mehr oder weniger genau bestimmten[544] Fällen gehorchten, oder denen er der allgemeinen Meinung nach zu gehorchen verbunden war. Wenn wir diesen Gang der Untersuchung verfolgen, so werden wir eine Anzahl von Erfordernissen finden, die bei einer jeden Gesellschaft, welche eine Collectivexistenz behauptet hat, vorhanden waren, und bei deren Aufhören dieselbe entweder mit einer anderen Gesellschaft verschmolz oder sich auf einer neuen Basis jenen Bedingungen entsprechend reconstituirte. Obgleich diese durch Vergleichung von verschiedenen Formen und Zuständen der Gesellschaft erhaltenen Resultate an sich nur auf empirische Gesetze hinauslaufen: so scheinen doch einige derselben, wenn sie einmal bekannt sind, mit so viel Wahrscheinlichkeit aus allgemeinen Gesetzen der menschlichen Natur zu folgen, dass die Uebereinstimmung der beiden Processe die Augenscheinlichkeit zum Beweis und die Generalisationen zum Range von wissenschaftlichen Wahrheiten erheben muss.

Dies scheint z.B. von den Schlüssen behauptet werden zu können, die in einer Stelle ausgesprochen sind, welche ich aus einer Kritik der negativen Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts ausziehe, und welche ich citire (wie bei früheren Gelegenheiten), obgleich sie von mir selbst herrührt,207 weil ich die Vorstellung, welche ich mir von den Lehrsätzen gebildet habe, aus denen die sociologische Statik bestehen würde, auf keine andere Weise besser erläutern kann.

»Das erste Element des gesellschaftlichen Verbandes, Gehorsam gegen die Regierung, fand man nicht so leicht in der Welt einzuführen. Bei einer timiden und geistlosen Menschenrace, wie die Bewohner der weiten Ebenen tropischer Länder sind, mag der passive Gehorsam naturwüchsig sein, obgleich es selbst da zweifelhaft ist, ob er jemals bei einem Volke getroffen worden ist, bei dem nicht der Fatalismus, oder, mit anderen Worten, die Unterwerfung unter den Druck der Umstände als unter einen göttlichen Befehl als religiöse Lehre geherrscht hat. Aber die Schwierigkeit, ein tapferes und kriegerisches Geschlecht dazu zu vermögen, das eigene individuelle arbitrium einem obersten Schiedsrichter zu unterwerfen, wurde immer für so gross gehalten, dass man nur eine übernatürliche Macht für fähig hielt, sie zu überwinden; auch haben[545] dergleichen Stämme der Einrichtung der bürgerlichen Gesellschaft immer einen göttlichen Ursprung beigelegt. So verschieden urtheilten diejenigen, welche den Menschen im Zustande der Wildheit aus der Erfahrung kannten, von denjenigen, welche ihn nur im civilisirten Zustand kannten. Um die feudale Anarchie zu bezwingen und das ganze Volk irgend einer europäischen Nation einem geordneten Staatswesen unterwürfig zu machen (obgleich das Christenthum in der concentrirtesten Form seines Einflusses dabei mitwirkte), waren selbst in dem modernen Europa nach dem Untergang des römischen Reiches dreimal so viele Jahrhunderte nöthig als seit jener Zeit verflossen sind.

Hätten nun diese Philosophen die menschliche Natur unter einem andern Typus gekannt, als dem ihres eigenen Jahrhunderts und der besonderen Gesellschaftsclasse, in der sie lebten, so würde es ihnen aufgefallen sein, dass überall, wo diese gewohnheitsmässige Unterwerfung unter Gesetz und Regierung fest und dauerhaft durchgeführt und die sich dieser Durchführung widersetzende Kraft und Männlichkeit des Charakters dennoch bis zu einem gewissen Grade erhalten worden ist, gewisse Erfordernisse vorhanden waren, gewisse Bedingungen erfüllt wurden, von denen die folgenden als die hauptsächlichsten angesehen werden können.

Erstlich: es bestand für alle, welche als Bürger zählten – für alle, welche nicht durch brutale Gewalt niedergehaltene Sclaven waren – ein Erziehungssystem, das mit der Kindheit begann und das ganze Leben hindurch währte, und dessen hauptsächlicher und unaufhörlicher Bestandtheil beschränkende Disciplin war. Den Menschen in der Gewohnheit und demnach in dem Vermögen zu erziehen, seine persönlichen Impulse und Ziele den Zwecken der Gesellschaft unterzuordnen; allen Versuchungen zuwider in der Handlungsweise zu verharren, welche diese Zwecke vorschrieben; alle Gefühle in sich zu beherrschen, welche diesen Zwecken entgegen sein können, und alle Gefühle zu ermuthigen, welche dieselben fördern können: dies war der Zweck, dem man ein jedes äussere Motiv, worüber die leitende Gewalt verfügen konnte, und ein jedes innere Vermögen oder ein jedes Princip, welches ihr ihre Kenntniss der menschlichen Natur zu erwecken erlaubte, dienstbar zu machen suchte. Die ganze bürgerliche und militärische Staatsklugheit der alten Republiken bestand in einem[546] solchen Erziehungssystem, in einem System, dessen Stelle man bei den modernen Nationen durch religiöse Lehren zu ersetzen suchte. Wo und in dem Verhältniss als diese Strenge der in Schranken haltenden Disciplin nachliess, da behauptete sich wieder das natürliche Streben der Menschen nach der Anarchie; der Staat löste sich von innen heraus auf; der gegenseitige Kampf um selbstsüchtige Zwecke neutralisirte die Kräfte, welche erforderlich waren, um den Kampf gegen die Ursachen natürlicher Uebel zu unterhalten und nach einer längeren oder kürzeren Zeit von fortschreitendem Verfall wurde die Nation entweder zum Sclaven des Despotismus, oder zur Beute eines fremden Eroberers.

Die zweite Bedingung einer beständigen politischen Gesellschaft hat man in dem Bestehen des Gefühls der Ergebenheit oder Loyalität in der einen oder anderen Form gefunden. In Betreff seines Gegenstandes kann sich dieses Gefühl verändern, es ist auf keine besondere Regierungsform beschränkt, und in einer Demokratie wie in einer Monarchie ist sein Wesen immer dasselbe; es muss nämlich in der Constitution des Staates etwas feststehendes, beständiges, etwas nicht in Frage zu stellendes liegen; etwas, das durch allgemeine Zustimmung das Recht hat, da zu sein, wo es ist, und gegen Störung gesichert zu sein, was auch ausser ihm sich ändern möge. Dieses Gefühl kann sich, wie bei den Juden (und in den meisten Republiken des Alterthums), einem Gotte oder Göttern, den Beschützern und Erhaltern des Staats ergeben; oder es kann sich an gewisse Personen heften, von denen man glaubt, sie seien durch göttliches Geheiss, durch lange Herrschaft, oder durch die allgemeine Anerkennung ihrer höheren Fähigkeiten und ihrer Würdigkeit die rechtmässigen Leiter und Vormünder der Uebrigen; oder es kann sich mit Gesetzen, mit alten Freiheiten und Gebräuchen verknüpfen; oder endlich (und dies ist die einzige Form, in welcher das Gefühl eine Aussicht hat fortzuexistiren) es kann sich auf die Grundsätze der individuellen Freiheit und der politischen und socialen Gleichheit beziehen, wie sie sich in Einrichtungen verwirklichen, die bis jetzt nirgends oder doch nur in einem rudimentären Zustande existiren. Aber in allen politischen Gesellschaften, welche eine dauerhafte Existenz hatten, gab es einen feststehenden Punkt, etwas, das die Menschen übereinstimmend heilig hielten; das natürlich da, wo die Freiheit der Erörterung[547] ein anerkannter Grundsatz war, gesetzlich erlaubt war theoretisch zu bestreiten, das aber niemand fürchten oder hoffen durfte in der Praxis erschüttert zu sehen; kurz, das (vielleicht mit Ausnahme einer temporären Krisis) in der allgemeinen Meinung über aller Erörterung erhaben stand. Die Nothwendigkeit hiervon ist leicht darzuthun. Ein Staat ist niemals auf eine lange Zeit hindurch frei von inneren Zwistigkeiten und kann auch nicht hoffen, davon frei zu bleiben, ehe nicht das menschliche Geschlecht bedeutend besser geworden ist; es giebt weder, noch gab es einen Gesellschaftszustand, in dem nicht zwischen den unmittelbaren Interessen und Leidenschaften der mächtigeren Abtheilungen des Volkes ein Widerstreit stattgefunden hätte. Was machte aber die Nationen fähig, diesen Stürmen zu widerstehen und ohne eine beständige Schwächung der Bürgschaft einer friedlichen Existenz aufgeregte Zeiten zu überstehen? Genau Folgendes – dass, wie wichtig auch die Interessen waren, derenthalben die Menschen in Streit geriethen, das fundamentale Princip des bestehenden gesellschaftlichen Verbandes durch diesen Streit weder berührt wurde, noch viele Theile des Gemeinwesens mit dem Umsturz von dem bedroht wurden, worauf sie ihre Berechnungen gegründet und womit sich ihre Hoffnungen und ihre Ziele identificirt hatten. Wenn aber der Zweifel an diesen fundamentalen Principien (nicht die gelegentliche Krankheit oder heilsame Medicin, sondern) der gewöhnliche Zustand des Staatskörpers ist; wenn alle heftigen Leidenschaften, die einer solchen Lage naturgemäss entspringen, hervorgerufen worden sind: so ist der Staat virtuell in dem Zustand des Bürgerkrieges und kann auch thatsächlich nicht mehr lange davon verschont bleiben.

Die dritte wesentliche Bedingung der Stabilität der politischen Gesellschaft ist ein starkes und wirksames Princip des Zusammenhanges, der Cohäsion zwischen den Gliedern desselben Gemeinwesens oder Staates. Wir brauchen kaum zu sagen, dass wir nicht die Nationalität im vulgären Sinne des Worts meinen; eine sinnlose Antipathie gegen Fremde; die Gleichgültigkeit gegen das allgemeine Wohl der Menschheit, oder einen ungerechten Vorzug der vermeintlichen Interessen unseres eigenen Landes; eine Vorliebe für schlechte Eigenthümlichkeiten, weil sie national sind, oder die Weigerung, das anzunehmen, was andere Länder gut fanden. Wir[548] meinen ein Princip der Sympathie, nicht der Feindseligkeit, der Einigkeit, nicht der Trennung. Wir meinen ein Gefühl der gemeinsamen Interessen unter denjenigen, welche in demselben Staatsverbande leben und in dieselben natürlichen oder historischen Grenzen eingeschlossen sind. Wir meinen, dass sich ein Theil des Gemeinwesens in Beziehung auf den andern Theil nicht als einen Fremden betrachte; dass er auf die Verbindung aller Theile einen Werth lege – dass er fühle, dass alle ein Volk sind, dass ihr Loos verbunden und dass das Unglück eines Mitbürgers wie das eigene Unglück ist; dass er nicht selbstsüchtig verlange, sich von seinem Antheil an einer gemeinsamen Unannehmlichkeit durch Auflösung des Verbandes zu befreien. Ein jeder weiss, wie stark dieses Gefühl in jenen alten Republiken war, die eine dauernde Grösse erreichten. Mit welchem glücklichen Erfolg die Römer trotz aller Tyrannei das Gefühl eines gemeinsamen Landes in den Provinzen ihres weiten und getrennten Reiches hervorzurufen wussten, wird sich zeigen, wenn einer, der dem Gegenstande die genügende Aufmerksamkeit gewidmet hat, sich die Mühe geben wird, es nachzuweisen. In der neueren Zeit sind die Länder, welche dieses Gefühl im stärksten Grade hatten, auch die mächtigsten Länder gewesen; England, Frankreich und, im Verhältniss zu ihren Territorien und ihren Hülfsmitteln, Holland und die Schweiz; während England in seiner Verbindung mit Irland eines der ausgezeichneten Beispiele von den Folgen seiner Abwesenheit ist. Ein jeder Italiener weiss, warum Italien unter dem Joche der Fremden steht; ein jeder Deutsche weiss, was im österreichischen Staate den Despotismus aufrecht erhält; das Unglück Spaniens floss ebenso sehr aus der Abwesenheit eines Nationalcharakters bei den Spaniern selbst, als auch aus der Gegenwart desselben bei ihrem Verkehr mit Fremden. Das allervollständigste Beispiel bieten aber die südamerikanischen Republiken dar, wo die Theile eines und desselben Staates so locker zusammenhängen, dass, sobald sich eine Provinz von der allgemeinen Regierung verletzt glaubt, sie sich für eine separate Nation erklärt.«

§. 6. Während die abgeleiteten Gesetze der socialen Statik durch die Analyse verschiedener Gesellschaftszustände und durch deren Vergleichung mit einander ohne Rücksicht auf ihre Succession[549] bestimmt werden, ist die Betrachtung der Reihenfolge bei dem Studium der socialen Dynamik, deren Zweck die Beobachtung und Erklärung der socialen Sequenzen ist, im Gegentheil vorherrschend. Dieser Zweig der socialen Wissenschaft würde so vollständig wie möglich sein, wenn ein jeder der leitenden allgemeinen Umstände einer jeden Generation auf seine Ursachen in der unmittelbar vorhergehenden Generation zurückgeführt wäre. Aber der Consens ist so vollständig (besonders in der neueren Geschichte), dass bei der Abhängigkeit der einen Generation von der andern das Ganze eher das Ganze als ein Theil einen Theil erzeugt. Das Abhängigkeitsverhältniss lässt sich aber nicht wohl direct aus den Gesetzen der menschlichen Natur ableiten, so lange nicht die unmittelbaren oder abgeleiteten Gesetze, nach denen sociale Zustände sich beim Fortschreiten der Gesellschaft einander erzeugen, so lange nicht die axiomata media der allgemeinen Sociologie ermittelt worden sind.

Die empirischen Gesetze, welche durch Generalisation aus der Geschichte leicht erhalten werden, gehen nicht soweit; sie sind nicht selbst die mittleren Principien, sondern sie dienen bloss für die Aufstellung derartiger Principien. Sie bestehen aus gewissen allgemeinen in der Gesellschaft wahrnehmbaren Bestreben, aus einem progressiven Wachsthum einiger gesellschaftlicher Elemente und der Verminderung anderer, oder aus einer allmäligen Veränderung in dem allgemeinen Charakter gewisser Elemente. Man sieht z.B. leicht, dass, im Verhältniss als die Gesellschaft vorschreitet, die geistigen Eigenschaften mehr und mehr über die körperlichen Eigenschaften und die Massen über die Individuen die Oberhand bekommen; dass die Beschäftigung des ganzen nicht unter äusserem Zwange stehenden Theiles der Menschheit zuerst hauptsächlich eine militärische ist; dass aber da, wo sich die Gesellschaft mehr und mehr mit productiven Zwecken abgiebt, der militärische Geist dem industriellen allmälig weicht. Diesen Wahrheiten könnten noch viele ähnliche beigefügt werden. Und mit Generalisationen dieser Art begnügen sich die gewöhnlichen Forscher, selbst die der auf dem Continent jetzt herrschenden historischen Schule. Aber alle dergleichen Resultate sind von den elementaren Gesetzen der menschlichen Natur, von denen sie abhängig sind, noch zu weit entfernt – es treten zu viele Zwischenglieder[550] ein, und das Zusammenwirken der Ursachen bei einem jeden Zwischengliede ist viel zu verwickelt – als dass man diese Sätze als unmittelbare Folgesätze jener elementaren Principien darstellen könnte. In dem Geiste der meisten Forscher blieben dieselben daher in dem Zustande empirischer Gesetze, die nur innerhalb der Grenzen wirklicher Beobachtung anwendbar sind; und zwar ohne dass sich ein Mittel darböte, um ihre wahren Grenzen zu bestimmen und zu beurtheilen, ob die bisher im Werden begriffenen Veränderungen bestimmt sind, aufs unbestimmte fortzudauern oder zu Ende zu gehen, oder sogar umgekehrt zu werden.

§. 7. Um bessere empirische Gesetze zu erhalten, dürfen wir uns nicht damit begnügen, von den fortschreitenden Veränderungen Notiz zu nehmen, welche sich in den einzelnen Elementen der Gesellschaft kundgeben, und in denen nichts als das Verhältniss von Bruchstücken der Wirkung zu Bruchstücken der Ursache angezeigt ist; wir müssen auch die statische Untersuchung der socialen Erscheinungen mit der dynamischen combiniren, indem wir nicht allein die progressiven Veränderungen der verschiedenen Elemente, sondern auch die gleichzeitige Beschaffenheit eines jeden Elementes betrachten, und auf diese Weise empirisch das Gesetz der Correspondenz nicht nur zwischen den gleichzeitigen Zuständen, sondern auch zwischen den gleichzeitigen Veränderungen dieser Elemente erhalten. Dieses Gesetz der Correspondenz würde nach der gehörigen aprioristischen Bestätigung zu dem wirklichen wissenschaftlichen derivativen Gesetze der Entwickelung der Menschheit und der menschlichen Angelegenheiten werden.

Für den schwierigen hierzu erforderlichen Process der Beobachtung und der Vergleichung wäre es offenbar eine grosse Hülfe, wenn es vielleicht der Fall sein sollte, dass irgend ein Element in der verwickelten Existenz des gesellschaftlichen Menschen als das primum agens der socialen Bewegung über alle anderen Elemente hervorragte; denn wir könnten alsdann den Fortschritt dieses einen Elementes als die centrale Kette nehmen, an deren aufeinander folgenden Gliedern die entsprechenden Glieder aller anderen Progressionen angehängt sind, so dass schon dadurch allein die Succession der Thatsachen in einer Art spontaner Ordnung dargestellt würde, die der wahren Ordnung ihrer Erzeugung viel näher[551] käme als eine durch irgend ein anderes bloss empirisches Verfahren erreichbare Ordnung.

Ale ein auffallendes Beispiel von Uebereinstimmung geht nun aus dem Zeugniss der Geschichte und der menschlichen Natur hervor, dass es wirklich unter den Agentien des gesellschaftlichen Fortschrittes ein solches hervorragendes und fast oberherrliches gesellschaftliches Element giebt. Es ist der Zustand der speculativen Fähigkeiten der Menschen, mit Inbegriff des Charakters der Meinungen (der Glauben), welche die Menschen in Betreff ihrer selbst und der sie umgebenden Welt, gleichgültig durch welche Mittel, erlangt haben.

Es wäre ein grosser Irrthum zu behaupten, die Speculation, die Verstandesthätigkeit, das Streben nach Wahrheit gehörten zu den stärkeren Neigungen der menschlichen Natur, oder nähmen mehr als ausnahmsweise in dem Leben der Individuen eine hervorragende Stelle ein. Aber ungeachtet der relativen Schwäche dieses Princips im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Agentien ist sein Einfluss dennoch die bestimmende Ursache des socialen Fortschritts, indem alle anderen zu diesem Fortschritte beitragenden Anlagen unserer Natur in Betreff der Mittel für ihren Beitrag zu dem Werke von ihm abhängig sind. So besteht (um den ersichtlichsten Fall zuerst zu nehmen) der Antrieb für die meisten Verbesserungen in den Künsten des Lebens in dem Verlangen nach vermehrtem materiellem Behagen; da wir aber auf äussere Gegenstände nur nach dem Verhältniss unserer Kenntniss von denselben einwirken können, so ist der Zustand unserer Kenntniss zu einer jeden Zeit die Grenze der jezeitig möglichen industriellen Verbesserungen, und der Fortschritt der Industrie muss auf einen Fortschritt des Wissens folgen und von ihm abhängen. Man kann zeigen, dass dasselbe auch von dem Fortschritte der höheren Künste wahr ist, wenn es auch nicht ganz so augenscheinlich ist. Da überdies die stärksten Neigungen der uncultivirten oder halbcultivirten menschlichen Natur (da es die rein selbstsüchtigen und diejenigen Neigungen sind, deren Charakter am meisten mit der Natur der Selbstsucht sympathisirt) offenbar an sich die Menschen zu trennen, nicht zu vereinigen – sie zu Nebenbuhlern, nicht zu Verbündeten zu machen streben: so ist die gesellschaftliche Existenz nur bei einer Disciplinirung dieser stärkeren Neigungen, bei einer Unterordnung derselben[552] unter ein gemeinschaftliches System von Meinungen möglich. Der Grad dieser Unterordnung ist das Maass der Vollständigkeit des socialen Verbandes, und die Natur der gemeinsamen Meinungen bestimmt dessen Art. Damit aber die Menschen ihre Handlungen einem System von Meinungen anpassen, müssen diese Meinungen existiren, müssen von ihnen geglaubt werden. Und so bestimmt der Zustand der speculativen Fähigkeiten, der Charakter der von dem Verstande gut geheissenen Sätze wesentlich den geistigen und politischen Zustand des Gemeinwesens, so wie es auch den physischen bestimmt, wie wir bereits gesehen haben.

Diese aus den Gesetzen der menschlichen Natur abgeleiteten Schlüsse stimmen mit den allgemeinen Thatsachen der Geschichte vollständig überein. Einer jeden uns historisch bekannten bedeutenden Veränderung in dem Zustande eines Theiles der Menschen ist, wenn sie nicht durch äussere Gewalt hervorgebracht wurde, eine Veränderung von entsprechendem Umfange in dem Zustande ihres Wissens oder in den herrschenden Meinungen (Glauben) vorhergegangen; indem von einem gegebenen Zustande der Speculation und dem correlativen Zustande von allem Uebrigen sich fast immer der erstere zuerst zeigte, obgleich die Wirkungen ohne Zweifel auf die Ursache mächtig zurückwirkten. Einem jeden beträchtlichen Fortschritte in der materiellen Civilisation ist ein Fortschritt in dem Wissen vorausgegangen, und wenn sich eine grosse sociale Veränderung durch allmälige Entwickelung oder durch einen plötzlichen Conflict vollzog, so hatte sie als Vorläufer eine grosse Veränderung in den Meinungen und in den Denkweisen der Gesellschaft. Polytheismus, Judaismus, Christenthum, Protestantismus, die kritische Philosophie des modernen Europas sammt dessen positiven Wissenschaften – sie alle machten als primäre Agentien die Gesellschaft zu dem, was sie in einer jeden folgenden Periode wurde, während die Gesellschaft nur in untergeordneter Weise dazu beitrug, sie zu machen, da sie alle (soweit als für ihre Existenz Ursachen angegeben werden können) hauptsächlich ein Ausfluss nicht des praktischen Lebens der Periode, sondern des früheren Zustandes des Glaubens und Denkens war. Die Schwäche der speculativen Neigungen der Menschen im allgemeinen hat daher den Fortschritt der Speculation nicht verhindert, den Fortschritt der Gesellschaft zu beherrschen; sie hat nur, und[553] zwar zu oft, den Fortschritt da gänzlich verhindert, wo das intellectuelle Fortschreiten durch ungünstige Umstände frühzeitig aufgehalten wurde.

Aus diesem ganzen Nachweis dürfen wir schliessen, dass die Ordnung des menschlichen Fortschrittes in allen Beziehungen hauptsächlich von der Ordnung des Fortschreitens der geistigen Ueberzeugungen, d.h. von dem Gesetz der aufeinander folgenden Transformationen der menschlichen Meinungen abhängen wird. Es ist nun zuvörderst die Frage, ob dieses Gesetz aus der Geschichte als ein empirisches Gesetz bestimmt und sodann durch aprioristische Deduction aus den Elementen der menschlichen Natur in einen wissenschaftlichen Lehrsatz verwandelt werden kann. Da der Fortschritt der Erkenntniss und die Veränderungen in den Meinungen der Menschen sehr langsam vor sich gehen und sich nur nach langen Zwischenzeiten in einer entschiedenen Weise kund geben, so kann man die allgemeine Ordnung der Sequenz nur aus der Prüfung eines sehr beträchtlichen Theiles der Dauer des socialen Fortschrittes hervorgehen zu sehen erwarten. Wir müssen das Ganze der vergangenen Zeit von dem ersten aufgezeichneten Zustand des Menschengeschlechts an bis zu den denkwürdigen Erscheinungen der letzten und der gegenwärtigen Generationen in Betracht ziehen.

§. 8. Die Untersuchung, welche ich zu charakterisiren versucht habe, ist zur Zeit von Herrn Comte allein in einer systematischen Weise versucht worden. Bis jetzt ist sein Werk das einzige bekannte Beispiel von dem Studium der socialen Erscheinungen nach dieser Auffassung der historischen Methode. Ich will den Werth seiner Schlüsse hier nicht erörtern, besonders nicht den Werth seiner Voraussagungen und Anempfehlungen in Betreff der Zukunft der Gesellschaft, welche mir seiner Beurtheilung der Vergangenheit weit nachzustehen scheinen; ich werde mich darauf beschränken, die wichtige Generalisation anzuführen, welche Herr Comte als das Grundgesetz des Fortschrittes des menschlichen Wissens ansieht. Er ist der Ansicht, dass die Speculation bezüglich eines jeden Gegenstandes menschlicher Forschung drei aufeinanderfolgende Stufen durchläuft; auf der ersten Stufe sucht sie die Erscheinungen durch übernatürliche Thätigkeiten zu erklären,[554] auf der zweiten durch metaphysische Abstractionen, und auf der dritten oder letzten Stufe beschränkt sie sich auf die Bestimmung der Gesetze ihrer Succession und ihrer Aehnlichkeit. Diese Generalisation scheint mir jenen hohen Grad von wissenschaftlicher Evidenz zu besitzen, der aus dem Zusammenwirken der Indicationen der Geschichte und der aus der Beschaffenheit des menschlichen Geistes abgeleiteten Wahrscheinlichkeiten hervorgeht. Auch könnte man sich nicht leicht nach der blossen Aussage, der blossen Enunciation eines solchen Satzes eine Vorstellung machen, welche Fluth von Licht er auf den ganzen Gang der Geschichte ergiesst, wenn man seinen Consequenzen nachgeht, indem man mit jedem der drei Zustände des menschlichen Geistes, welche er unterscheidet, und mit einer jeden successiven Modification dieser drei Zustände den correlativen Zustand der anderen socialen Erscheinungen verbindet.208[555]

Welche Entscheidung aber competente Richter über die von einzelnen Forschern erlangten Resultate auch geben mögen, so ist die eben charakterisirte Methode doch immerhin diejenige, durch welche die derivativen Gesetze der gesellschaftlichen Ordnung und des gesellschaftlichen Fortschrittes gesucht werden müssen. Mit ihrer Hülfe dürfte es uns künftighin gelingen, nicht allein in die zukünftige Geschichte des Menschengeschlechts einen weitreichenden Blick zu werfen, sondern auch zu bestimmen, welche künstlichen Mittel und bis zu welcher Ausdehnung sie zu gebrauchen sind, um den natürlichen Fortschritt, soweit er wohlthätig ist, zu beschleunigen, um seine inhärenten Unannehmlichkeiten und Nachtheile auszugleichen und sich vor den Gefahren und den Zufälligkeiten, denen unsere Species durch die nothwendigen Zwischenfälle ihres Fortschreitens ausgesetzt ist, zu bewahren. Solche praktischen, auf den höchsten Zweig der theoretischen Sociologie gegründeten Unterweisungen werden den edelsten und wohlthätigsten Theil der Politik als Kunst bilden.

Dass wir erst jetzt beginnen, von dieser Wissenschaft und Kunst die ersten Fundamente zu legen, ist klar. Aber die besseren Geister wenden sich dem Gegenstande mit aller Unbefangenheit zu. Es haben sich wahrhaft wissenschaftliche Denker zum Ziel gesetzt,[556] die Thatsachen der allgemeinen Geschichte durch Theorien zu verknüpfen. Es ist anerkannt eines der Erfordernisse eines allgemeinen Systems der sociologischen Lehre, dass dasselbe, soweit die Data vorhanden sind, die Hauptsachen der Geschichte erkläre, und es wird allgemein zugegeben, dass eine Philosophie der Geschichte zu gleicher Zeit die Bestätigung und die anfängliche Form der Philosophie des gesellschaftlichen Fortschritts ist.

Wenn die Bemühungen, welche jetzt bei allen civilisirten Nationen gemacht werden und welche man auch in England (gewöhnlich das letzte Land, das in die allgemeine Bewegung des europäischen Geistes eintritt) behufs des Aufbaues einer Philosophie der Geschichte zu machen beginnt, durch die Ansichten von der Natur des sociologischen Beweises geleitet und regiert werden, welche ich (sehr kurz und unvollkommen) zu charakterisiren versucht habe, so müssen sie ein sociologisches System erzeugen, das von dem vagen und muthmaassenden Charakter aller früheren Versuche weit entfernt und werth ist, endlich seinen Platz unter den Wissenschaften einzunehmen. Wenn diese Zeit gekommen sein wird, so wird kein wichtiger Zweig der menschlichen Angelegenheiten länger mehr der Empirie und der unwissenschaftlichen Muthmassung überlassen bleiben; der Kreis des menschlichen Wissens wird vollständig sein und kann fortan nur durch fortwährende Ausdehnung von innen heraus erweitert werden.[557]

Quelle:
John Stuart Mill: System der deduktiven und inductiven Logik. Band 2, Braunschweig 31868, S. 533-558.
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