§ 11. Das System des Idealismus.

[95] Die Entstehung und Ausbildung der platonischen Ideenlehre ist wie einer der wirkungsvollsten und fruchtbarsten, so anderseits einer der schwierigsten und verwickeltsten Vorgänge in der gesamten Geschichte des europäischen Denkens, und ihre Auffassung wird noch durch die Art der literarischen Ueberlieferung erschwert. Die platonischen Dialoge zeigen die Philosophie ihres Urhebers in einer stetigen Umbildung begriffen: ihre Abfassung hat sich durch ein halbes Jahrhundert hingezogen. Da aber die Reihenfolge der Entstehung der einzelnen weder überliefert noch durchweg aus äußeren Kennzeichen festzustellen ist, so müssen pragmatische Hypothesen zu Hilfe genommen werden. Dazu kommt weiter der künstlerische Charakter dieser Werke, in denen Platon mit souveräner Freiheit unter der Maske der Unterredner Probleme entwickeln, Lösungen versuchen, Schwierigkeiten herausarbeiten läßt, ohne damit für jedes Einzelne die volle Verantwortung zu übernehmen.

1. Keine Frage ist es zunächst, daß den Springpunkt des platonischen Denkens der Gegensatz zwischen Sokrates und den Sophisten gebildet hat. Einer liebevollen und in der Hauptsache sicher sinngetreuen Darstellung der Tugendlehre des Sokrates waren Platons erste Schriften gewidmet, die freilich in ihrer Ergebnislosigkeit zugleich eine erste Kritik daran üben: an diese Versuche schloß sich, mit zunehmender Schärfe, aber auch mit zunehmender Verselbständigung eigener Ansicht die Bekämpfung der sophistischen Gesellschafts- und Wissenschaftslehre. Die platonische Kritik ging aber dabei im wesentlichen auch von dem sokratischen Postulat aus; sie gab die Relativität aller Wahrnehmungserkenntnis im Sinne des Protagoras vollständig zu, aber sie[95] fand eben darin die Unzulänglichkeit der Sophistik für eine wahrhafte Tugendlehre226. Das Wissen, das für die Tugend erforderlich ist, kann nicht in Meinungen bestehen, wie sie aus den wechselnden Bewegungszuständen von Subjekt und Objekt entspringen, auch nicht aus einer verständigen Ueberlegung und Rechtfertigung solcher Wahrnehmungsansichten227, sondern es muß eine ganz andere Quelle und ganz andere Gegenstände haben. Von der Körperwelt und ihren wechselnden Zuständen – an dieser protagoreischen Ansicht hat Platon bis zum Schluß festgehalten – gibt es keine Wissenschaft, sondern nur Wahrnehmungen und Meinungen: den Gegenstand der Wissenschaft bildet somit eine unkörperliche Welt, und diese muß neben der Körperwelt ebenso selbständig vorhanden sein, wie die Erkenntnis neben der Meinung228.

Zum erstenmal wird damit ausdrücklich und voll bewußt die Behauptung von einer immateriellen Wirklichkeit aufgestellt, und es ist klar, daß sie dem ethischen Bedürfnis nach einer über alle Wahrnehmungsvorstellungen erhabenen Erkenntnis, nach einem über die Körperwelt hinausgehenden Seelenleben entspringt. Die Annahme der Immaterialität hatte für Platon zunächst nicht den Zweck, die Erscheinungen zu erklären, sondern vielmehr den, ein Objekt für die sittliche Erkenntnis und das sittliche Wollen zu gewähren. Darum entspringt diese idealistische Metaphysik in ihrem ersten Entwurf229 ohne jede Rücksicht auf ein Erforschen und Verstehen der Erscheinungen oder auf die dahin gerichtete Arbeit der früheren Wissenschaft, und sie steht ganz auf eigenem, neuem Boden: sie ist ein immaterieller Eleatismus, der in den Ideen das wahre Sein sucht, ohne sich um die Welt des Geschehens zu kümmern, die er der Wahrnehmung und Meinung überläßt230.

Dabei ist jedoch zur Vermeinung vielfacher Mißverständnisse231 ausdrücklich darauf hinzureisen, daß der platonische Begriff der Immaterialität (asômaton) sich keineswegs mit demjenigen des Geistigen oder Seelischen deckt wie das nach moderner Vorstellungsweise leicht angenommen wird. Die einzelnen psychischen Funktionen gehören für die platonische Auffassung gerade so zur Welt des Werdens wie die des Leibei und der übrigen Körper, und anderseits finden in der wahren Wirklichkeit die »Gestalten« der Körperlichkeit, die Ideen sinnlicher Eigenschaften und Verhältnisse gerade so Platz wie diejenigen der geistigen Beziehungen. Die Identifikation von Geist und Unkörperlichkeit, die Scheidung der Welt in Geist und Körper ist unplatonisch. Die unkörperliche Welt, die Platon lehrte, ist noch nicht die geistige.

Aber diese unkörperliche Welt ist auch nicht bloß ein Reich logisch bestimmender Formen, für die nach einer geistreichen Deutung Lotzes232 nicht ein Sein oder ein höheres Sein, sondern ein »Gelten« in Anspruch genommen würde. Diese Auffassung liegt freilich für das moderne. durch Kant bestimmte erkenntnistheoretische Denken nahe und enthält gewiß die einzige Möglichkeit, den Platonismus dauernd zu vertreten. Aber man muß sich darüber klar sein,[96] daß es eine Umdeutung ist, die dem historischen Platonismus durchaus fern liegt. Daß das ontôs on eine metaphysische Realität bedeutet, hat nicht nur Platon selbst ausdrücklich ausgesprochen, nicht nur sein großer Schüler Aristoteles, dem wir doch wohl ein genaueres Verständnis als allen heutigen Interpretatoren zutrauen müssen, durch seine Darstellung und seine Polemik bezeugt, sondern darauf beruht auch die weltgeschichtliche Bedeutung des Platonismus für das philosophische und, wie sich zeigen wird, das religiöse Denken des Altertums und des Mittelalters. Die Spaltung im Begriffe der Wirklichkeit (vgl. unten Nr. 5) mit allen ihren Folgen für die zukünftige Metaphysik wird nur dadurch begreiflich, und diese ganze weittragende Entwicklung auf ein Mißverständnis des Aristoteles zurückzuführen, woran das ganze Altertum sich beteiligt haben müßte, erscheint doch als ein äußerst bedenkliches Unterfangen historischer Verständnislosigkeit.

Vielmehr sind die Ideen für Platon das unkörperliche Sein, welches durch die Begriffe erkannt wird. Da nämlich die Begriffe, in denen Sokrates das Wesen der Wissenschaft gefunden hatte, als solche nicht in der wahrnehmbaren Wirklichkeit gegeben sind, so müssen sie eine davon verschiedene, für sich bestehende »zweite«, »andere« Wirklichkeit bilden, und diese immaterielle Wirklichkeit verhält sich zu der materiellen wie das Sein zum Werden, wie das Bleibende zum Wechselnden, wie das Einfache zum Mannigfaltigen, kurz – wie die Welt des Parmenides zu derjenigen Heraklits. Der Gegenstand des sittlichen Wissens, durch die allgemeinen Begriffe erkannt, ist das wahrhaft Seiende: ethische, logische und physische archê sind dasselbe. Dies ist der Punkt, an welchem alle Fäden der früheren Philosophie zusammenlaufen.

2. Sollen danach die Ideen »etwas Anderes« als die wahrnehmbare Welt sein, so kann ihre Erkenntnis durch die Begriffe auch nicht aus dem Wahrnehmungsinhalte gefunden werden; denn sie können darin nicht enthalten sein. Mit dieser der schärferen Trennung der beiden Welten entsprechenden Wendung wird die platonische Erkenntnislehre viel rationalistischer als die demokritische, und sie geht damit auch entschieden über Sokrates hinaus. Denn wenn dieser das Allgemeine aus den Meinungen und Wahrnehmungen der Einzelnen induktiv entwickelt, wenn er es darin als das gemeinsam Enthaltene gefunden hatte, so faßt Platon den Prozeß der Induktion nicht in dieser analytischen Weise auf, sondern er sieht in den Wahrnehmungen nur die Veranlassungen, mit Hilfe deren sich die Seele auf die Begriffe, auf die Erkenntnis der Ideen besinnt.

Platon hat dies rationalistische Prinzip dahin ausgesprochen, daß die philosophische Erkenntnis Erinnerung sei (anamnêsis). An dem Beispiel des pythagoreischen Lehrsatzes zeigte er233, daß die mathematische Erkenntnis nicht aus der sinnlichen Wahrnehmung herausgeschält wird, sondern daß diese nur die Gelegenheit darbietet, bei welcher sich die Seele an die in ihr schon vorher vorhandene, d.h. rein rational geltende Erkenntnis erinnert. Er deutet dabei darauf hin, daß die reinen mathematischen Verhältnisse in der körperlichen Wirklichkeit gar nicht vorhanden sind, sondern daß ihre Vorstellung in uns nur auf Veranlassung ähnlicher Gebilde der Wahrnehmung entsteht;[97] und er hat diese für mathematische Einsichten völlig zutreibende Beobachtung auf die Gesamtheit der wissenschaftlichen Erkenntnis ausgedehnt.

Daß nun aber diese Besinnung auf das rational Notwendige als »Erinnerung« aufgefaßt wird, hängt damit zusammen, daß Platon ebensowenig wie irgend einer seiner Vorgänger eine schöpferische, den Inhalt erzeugende Tätigkeit des Bewußtseins anerkennt. Dies ist eine allgemeine Grenze der ganzen griechischen Psychologie: der Inhalt für die Vorstellungen muß der »Seele« irgendwie gegeben sein. Sind daher die Ideen nicht in der Wahrnehmung gegeben und findet das Bewußtsein sie doch bei der Wahrnehmung in sich vor, so muß die Seele die Ideen irgendwie vorher schon empfangen haben. Für diese Aufnahme der Ideen aber findet Platon nur eine mythische Darstellung234, die Seelen haben vor dem irdischen Leben in der unkörperlichen Welt selbst die reinen Gestalten der Wirklichkeit geschaut, und die Wahrnehmung ähnlicher körperlicher Dinge ruft (nach dem allgemeinen Gesetze der Assoziation und Reproduktion)235 die Erinnerung an jene in dem körperlichen Erdenleben: vergessenen Bilder zurück; daraus aber erwacht der philosophische Trieb, die Liebe zu den Ideen (erôs), womit die Seele sich wieder zur Erkenntnis jener wahren Wirklichkeit erhebt. Auch hier zeigt sich, wie bei Demokrit, daß der gesamte antike Rationalismus sich von dem Vorgange des Denkens eine Vorstellung nur nach Analogie der sinnlichen, insbesondere der optischen Wahrnehmung machen konnte.

Was Sokrates in der Lehre von der Begriffsbildung als Induktion bezeichnet hatte, verwandelte sich also für Platon in eine erinnernde Intuition (synagôgê und synopsis), in die Besinnung auf eine höhere und reinere Anschauung. Diese bezieht sich aber, der Mannigfaltigkeit von Anlässen gemäß, auf eine Vielheit von Ideen, und der Wissenschaft erwächst daraus die weitere Aufgabe, auch das Verhältnis der Ideen untereinander zu erkennen. Dies ist ein zweiter Schritt Platons über Sokrates hinaus und darum besonders wichtig, weil er zunächst zur Auffassung der logischen Beziehungen zwischen den Begriffen geführt hat. Dabei sind es hauptsächlich die Verhältnisse der Unterordnung und Nebenordnung der Begriffe, auf welche Platon aufmerksam wurde: die Einteilung der Gattungsbegriffe in ihre Arten spielte in seiner Lehre236 eine große Rolle; auch die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit der Begriffe findet sich genauer in Betracht gezogen237, und als ein methodisches Hilfsmittel empfahl er die hypothetische Erörterung, die einen versuchsweise aufgestellten Begriff durch Entwicklung aller möglichen Folgerungen auf seine Vereinbarkeit mit den bereits erkannten Begriffen prüfen soll238.

Der Gesamtheit dieser logischen Operationen, durch welche die Ideen und ihre Beziehungen zueinander (koinônia) gefunden werden sollen, hat Platon mit dem Namen Dialektik bezeichnet. Was sich in seinen Schriften darüber findet, hat durchweg methodologischen, aber noch keinen eigentlich logischen Charakter.[98]

3. Die Lehre von der Erkenntnis als Erinnerung stand aber im genauesten Zusammenhange mit Platons Auffassung von dem Verhältnis der Ideen zu der Erscheinungswelt. Zwischen der höheren Welt der ousia, und der niederen Welt der genesis, zwischen dem Seienden und dem Werdenden fand er dasjenige Verhältnis der Aehnlichkeit, welches zwischen Urbildern (paradeigmata) und ihren Nachbildungen (eidôla) besteht. Auch hierin erweist sich ein starker Einfluß der Mathematik auf die platonische Philosophie: wie schon die Pythagoreer die Dinge als Nachahmungen der Zahlen bezeichnet hatten, so fand Platon, daß die einzelnen Dinge ihren Gattungsbegriffen immer nur bis zu einem gewissen Grade entsprechen, daß der Gattungsbegriff ein logisches Ideal ist, dem keines seiner empirischen Exemplare völlig gleichkommt. Das drückte er durch den Begriff der Nachahmung (mimêsis) aus: damit war aber zugleich festgesetzt, daß jene zweite Welt, diejenige der unkörperlichen Ideen, die höhere, wertvollere, ursprüngliche Welt sein sollte.

Doch gab diese Vorstellungsweise mehr eine Wertbestimmung als eine für die metaphysische Betrachtung brauchbare Anschauung: daher suchte Platon noch nach andern Bezeichnungen des Verhältnisses. Die logische Seite der Sache, wonach die Idee als Gattungsbegriff den einheitlichen Umfang darstellt, von dem die einzelnen Dinge nur einen Teil bedeuten, kommt in dem Ausdruck Teilnahme (methexis) zur Geltung, womit gesagt sein soll, daß das einzelne Ding an dem allgemeinen Wesen der Idee nur Teil hat; und den Wechsel dieses Teilhabens hebt der Begriff der Gegenwärtigkeit (parousia) hervor: der Gattungsbegriff ist an dem Dinge so lange gegenwärtig, als es die der Idee innewohnenden Eigenschaften besitzt. Die Ideen gehen und kommen, und indem sie sich den Dingen bald mitteilen, bald wieder entziehen, wechseln diese für die Wahrnehmung die den Ideen ähnlichen Eigenschaften.

Indessen war die genaue Bezeichnung dieses Verhältnisses für Platon ein Gegenstand nur sekundären Interesses: in erster Linie lag ihm daran, daß die prinzipielle Verschiedenheit der Ideenwelt von der Körperwelt und die Abhängigkeit der letzteren von der ersteren anerkannt wurde239. Das Wesentliche blieb ihm die Ueberzeugung, daß durch die Begriffe diejenige Erkenntnis des wahrhaft Seienden gewonnen werden konnte, deren die Tugend bedarf.

  • Literatur: A. PEIPERS, Ontologia Platonica (Leipzig 1883).

4. Allein das logisch-metaphysische Interesse, das Platon auf die sokratische Lehre vom Wissen aufpfropfte, führte ihn auch inhaltlich weit über den Meister hinaus. Die allgemeinen Bestimmungen, welche er für das Wesen der Ideen entwickelte, trafen für sämtliche Gattungsbegriffe zu, und die immaterielle Welt bevölkerte sich daher mit den Urbildern der gesamten Erfahrungswelt. Soviel Gattungsbegriffe, soviel Ideen: auch für Platon sind der »Gestalten« unzählige. Insofern hatte die Kritik240 recht, wenn sie sagte, Platons Ideenwelt sei die Wahrnehmungswelt, noch einmal gedacht im Begriffe.

In der Tat gibt es nach dem ersten Entwurf der platonischen Philosophie Ideen von allem nur irgend Möglichen, von Dingen, Eigenschaften und Verhältnissen, vom Guten und Schönen nicht mehr als vom Bösen und Häßlichen. Da die Idee methodologisch rein formal als Gattungsbegriff bestimmt ist, so gehört jeder beliebige Gattungsbegriff in die höhere Welt der reinen Formen: der[99] Dialog Parmenides241 machte nicht nur auf allerlei dialektische Schwierigkeiten aufmerksam, die in dem logischen Verhältnis der einen Idee zu ihren vielen Exemplaren stecken, sondern wies auch höhnisch genug auf alle die schmutzigen Gesellen hin, die sich in der Welt der reinen begrifflichen Gestalten antreffen ließen.

Gegen solchen Einwurf war Platons Philosophie prinzipiell wehrlos, und es findet sich in den Dialogen auch keine Andeutung darüber, daß er versucht hätte, ein bestimmtes Kriterium für die Auswahl denjenigen Gattungsbegriffe, welche als Ideen, als Bestandteile der höheren, unkörperlichen Welt angesehen werden sollten, anzugeben. Auch die Beispiele, die er anführt, lassen ein solches Prinzip nicht erkennen; nur scheint es, als habe er mit der Zeit immer mehr die Wertbestimmungen (wie das Gute und Schöne), die mathematischen Verhältnisse (Größe und Kleinheit, numerische Bestimmtheiten etc.) und die Gattungstypen der Naturwesen hervorgehoben, bloße Beziehungsbegriffe dagegen, besonders negative Vorstellungen und Artefakten nicht mehr zu den Ideen gerechnet242.

5. Ebenso dunkel bleibt schließlich unsere Kenntnis von dem systematischen Zusammenhange und der Ordnung, welche Platon im Reiche der Ideen statuiert wissen wollte. So sehr er darauf drang, Koordination und Subordination der Begriffe festzustellen, so wenig scheint doch der Gedanke einer logisch geordneten Begriffspyramide, die in dem allgemeinsten, inhaltsärmsten Begriffe hätten gipfeln müssen, zur Durchführung gekommen zu sein. Einen problematischen Versuch, eine beschränkte Anzahl (5) allgemeinster Begriffe243 aufzustellen, bietet der Dialog Sophistes244 dar; aber diese Versuche, die auf die aristotelische Kategorienlehre zutreiben, bleiben sachlich in der Grundunterscheidung der beiden Welten stecken und haben in Platons Lehre keine weitere Entwicklung gefunden und keine Wirkung hinterlassen. Weit bedeutsamer aber ist die sachliche Wendung, die Platon diesen Fragen durch die in Philebos wie in der Republik vorgetragene Lehre gab, daß die Idee des Guten die höchste, alle andern umfassende, beherrschende, verwirklichende sei. Dabei hat Platon diese Idee so wenig wie Sokrates inhaltlich definiert, sondern sie nur durch die Beziehung bestimmt, daß sie den höchsten, absoluten Zweckinhalt aller Wirklichkeit, der unkörperlichen wie der körperlichen, darstellen solle. Die Unterordnung der übrigen Ideen unter diese höchste ist somit nicht die logische Subordination des Besonderen unter das Allgemeine, sondern die teleologische der Mittel unter den Zweck.

Die Unfertigkeit dieser Lösung des logischen Problems scheint den Philosophen in der letzten Zeit seiner Wirksamkeit, über die wir nur Andeutungen in kritischen Bemerkungen des Aristoteles245, sowie in den Lehren seiner nächsten Nachfolger haben, auf den unglücklichen Gedanken geführt zu haben, das System der Ideen nach der Methode der pythagoreischen Zahlenlehre zu entwickeln. Auch die Pythagoreer hatten freilich die Absicht gehabt, die bleibenden Ordnungen der Dinge symbolisch an die Entwicklung der Zahlenreihe[100] anzuknüpfen. Aber das war doch nur ein erster Notbehelf dafür gewesen, daß sie von der logischen Ordnung der Begriffe noch keine Vorstellung hatten. Jetzt, so scheint es, fiel Platon darauf zurück; er bezeichnete die Idee des Guten als das hen, die Eins, und leitete aus ihr zunächst die Zweiheit (dyas) des tauton und des thateron, d.h. des Einheitlichen und des Mannigfaltigen oder des Maßes und des Unendlichen (peras und apeiron = ungrade und grade, vgl. § 4, 11) ab, um dann weiter das System der übrigen Ideen und Zahlen so anzufügen, daß sie eine Stufenfolge des Bedingenden und des Bedingten bilden sollten. Diese unglückliche Konstruktion nahmen dann die älteren Akademiker, besonders Speusippos und Xenokrates auf, und sie verquickten die begriffliche Abstufung in phantastischer Weise mit theologischen Lehren, indem sie nach dieser philosophischen Ordnung die Zwischenwelt der niederen Götter und der Dämonen zu gestalten versuchten. Hierin sind ihnen später Neupythagoreer und Neuplatoniker gefolgt: das philosophisch Bedeutsame jedoch war ein anderes. Durch diese Abstufung nämlich innerhalb der ousia, der Welt wahrer Wirklichkeit, wurde die Spaltung im Begriffe der Wirklichkeit, welche sich aus dem Gegensatze der Wahrnehmung und des Denkens entwickelt hatte, vervielfältigt und damit der Dualismus wieder aufgehoben. Denn wenn dem Einen oder der Idee des Guten die höchste, absolute Realität, den verschiedenen Schichten der Ideenwelt aber immer um so geringerwertige Realität zugeschrieben wurde, je weiter sie in dem Zahlensystem von der Eins entfernt zu stehen kamen, so entstand daraus eine Stufenleiter von Wirklichkeiten, welche von der Eins herab bis zu der niedersten Wirklichkeit, derjenigen der Körperwelt, reichte. So phantastisch dieser Gedanke sein mag, so kräftig und wirksam hat er sich in der Entwicklung des Denkens bis an die Schwelle der neueren Philosophie erwiesen: seine Macht aber steckt zweifellos überall in der Gleichsetzung von Wertbestimmungen mit den verschiedenen Schichten der Realität.

6. Während die Ideenlehre als Metaphysik in derartige Schwierigkeiten geriet, hat sie eine überaus glückliche, einfache und durchsichtige Ausführung auf demjenigen Gebiete gefunden, welches ihren eigentlichen Herd bildete: dem ethischen. Zur systematischen Bearbeitung dieser Fragen jedoch bedurfte Platon einer Psychologie, einer andern freilich als die jenige war, welche in der bisherigen Wissenschaft aus naturphilosophischen Voraussetzungen mit einzelnen Wahrnehmungen oder Meinungen zustande gekommen war. Wenn er nun demgegenüber seine Psychologie aus den Postulaten der Ideenlehre entwickelte, so war das freilich eine rein metaphysische Theorie, die mit jener Voraussetzung stand und fiel, zugleich aber doch vermöge des Inhalts der Ideenlehre ein erster Versuch, das Seelenleben von innen heraus und nach seiner innerlichen Bestimmtheit und Gliederung zu begreifen.

Unterstützt wurde dieser völlig neue Versuch bei Platon durch die theologischen Lehren, die er hauptsächlich den Kreisen der dionysischen Mysterien entnehmen konnte. Hier galt die individuelle Menschenseele als ein Dämon, der, aus einer andern Welt in den Leib gefahren oder gebannt, in seinem Erdenleben geheimnisvolle und leidenschaftliche Beziehungen zu seiner ursprünglichen Heimat bewahre und betätige. Solche theologischen Vorstellungen zog nun der Philosoph in sein wissenschaftliches System nicht ohne bedenkliche[101] Schwierigkeiten herein.

Der Begriff der Seele bildete in dem Dualismus der Ideenlehre schon an sich ein eigenes Problem246. »Seele« war, wie der populären Vorstellung, so auch für Platon der wissenschaftlichen Begriffsbestimmung247 nach einerseits das Lebendige, dasjenige was von selbst bewegt ist und anderes bewegt, anderseits dasjenige was wahrnimmt, erkennt und will. Als Prinzip des Lebens und der Bewegung gehört also die Seele zu der niederen Welt des Werdens, und in dieser bleibt sie, wenn sie wahrnimmt und auf die Gegenstände der Sinne ihre Begierden richtet. Aber diese selbe Seele wird doch durch die wahre Erkenntnis auch der Ideen, der höheren Wirklichkeit bleibenden Seins teilhaftig. Es muß ihr daher eine Zwischenstellung zugestanden werden: nicht die zeitlos unveränderte Wesenheit der Ideen, aber eine den Wechsel überdauernde Lebendigkeit, d.h. Unsterblichkeit. Zum erstenmal wird hier von Platon die persönliche Unsterblichkeit, die ihm ein Gegenstand religiöser Ueberzeugung und ein Dogma der dionysischen Mysterien war, als philosophisches Lehrstück vorgetragen. Von den Beweisen, die der Phaidon dafür erbringt, sind aus dem Geiste des Systems heraus die zutreffendsten diejenigen, welche aus der Erkenntnis der Ideen auf die Verwandtschaft der Seele mit der Ewigkeit schließen; der Form des Systems entspricht der dialektische Fehlschluß, daß die Seele, weil ihr wesentliches Merkmal das Leben sei, nicht tot sein könne; das verhältnismäßig haltbarste der Argumente ist der Hinweis auf die einheitliche Substantialität, welche die Seele in der Regierung des Leibes beweise.

Bei dieser Zwischenstellung muß die Seele die Züge beider Welten an sich tragen; es muß in ihrem Wesen etwas sein was der Ideenwelt, und etwas was der Wahrnehmungswelt entspricht. Das erstere ist das Vernünftige (logistikon oder nous), der Sitz des Wissens und der ihr entsprechenden Tugend; in dem andern aber, dem Unvernünftigen, unterschied Platon wieder zweierlei: das Edlere das der Vernunft zuneigt, und das Niedere das ihr widerstrebt. Das Edlere fand er in der affektvollen Willenskraft (Mut, thymos), das Niedere in der sinnlichen Begehrlichkeit (Begierde, epithymia). Danach sind Vernunft, Mut und Begierde die drei Betätigungsformen der Seele, die Arten (eidê) ihrer Zustände.

So aus ethischen Wertbestimmungen und zugleich theologischen Voraussetzungen erwachsen, werden diese psychologischen Grundbegriffe von Platon zur Darstellung des sittlichen Geschicks des Individuums verwendet: Folge zugleich und Strafe der sinnlichen Begehrlichkeit ist die Fesselung der Seele an den Leib. Platon dehnt das unsterbliche Dasein der Seele über die beiden Grenzen des irdischen Lebens gleichmäßig aus: in der Präexistenz248 ist die Schuld zu suchen, um deren willen die Seele in die Sinnenwelt verstrickt ist; in der Postexistenz wird ihr Geschick davon abhängen, inwieweit sie sich während des Erdenlebens von der sinnlichen Begehrlichkeit frei ge macht und ihrer höheren Bestimmung, der Erkenntnis der Ideen, zugewendet hat. Insofern aber danach als letztes Ziel der Seele die Abstreifung der Sinnlichkeit erscheint so werden jene drei Tätigkeitsformen auch als Teile der Seele bezeichnet. Im[102] Timaios schildert Platon sogar die Zusammensetzung aus diesen Teilen und behält die Unsterblichkeit nur für den vernünftigen Teil zurück.

Schon aus diesen wechselnden Bestimmungen erhellt, daß das Verhältnis dieser drei Grundformen des psychischen Lebens zu der (freilich nicht immer gleichmäßig stark betonten) Einheitlichkeit der Seele nicht zur Klarheit gebracht ist; und ebensowenig ist es möglich, diesen aus ethischem Bedürfnis und theologischem Interesse geformten Begriffen den Sinn rein psychologischer Unterscheidungen, wie sie die spätere Zeit gemacht hat, unterzuschieben249.

7. Jedenfalls aber folgte auf diese Weise aus der Zweiweltenlehre eine negative, weltflüchtige Moral, worin der Rückzug aus der Sinnenwelt und die Vergeistigung des Lebens als Ideale der Weisheit gepriesen wurden. Es ist nicht nur der Phaidon, der in der Schilderung vom Tode des Sokrates diese ernste Stimmung atmet, sondern auch Dialoge wie der Gorgias, der Theaetet und zum Teil die Republik, worin die gleiche ethische Ansicht vorwaltet. Aber in Platons eigener Natur war dem schweren Blute des Denkers der leichte Herzschlag des Künstlers beigesellt, und es wohnte in ihm der Zwiespalt, daß, während seine Philosophie ihn in das Reich der körperlosen Gestalten lockte, doch der ganze Zauber hellenischer Schönheit in ihm lebendig war. Zugleich aber war in der Entwicklung der Ideenlehre (vgl. unten Nr. 9) auch der Anlaß gegeben, daß Platon bei der ursprünglichen strengen Sonderung zwischen den beiden Welten des Wesens und des Werdens nicht stehen bleiben konnte, sondern zur Auffassung eines positiven Verhältnisses fortschreiten mußte, das unter den gegebenen Voraussetzungen nur in einer teleologischen Unterordnung der Erscheinungen unter die Ideen bestehen konnte. Dies machte sich auch in Platons Ethik geltend. So sehr er deshalb die aristippische Theorie, welche in der Sinnenlust das Streben des Menschen beschlossen finden wollte, von Grund aus bekämpfte, so meinte er doch, daß die Idee des Guten sich auch in der Sinnenwelt realisiere. Die Freude am Schönen, die schmerzlose, weil wunschlose Lust an der sinnlichen Nachahmung der Idee, die Entfaltung der Kenntnisse und der praktischen Kunstfertigkeit, das Verständnis der Maßbestimmungen der empirischen Wirklichkeit und die zweckvolle Einrichtung individuellen Lebens, – alles das galt ihm wenigstens als Vorstufen und Anteile zu jenem höchsten Gut, das in der Erkenntnis der Ideen und der höchsten unter ihnen, der Idee des Guten, besteht. Im Symposion und im Philebos hat er dieser seiner Wertung der Lebensgüter Ausdruck gegeben.

In anderer Form hat Platon denselben Gedanken, daß die sittliche Wertbestimmung den ganzen Umkreis des menschlichen Lebens zu durchleuchte habe, in der Darstellung des Systems der Tugenden zur Geltung gebracht, welches er in der Republik entwickelte. Er suchte hier der in der Literatur seiner Zeit mehrfach auftretenden Lehre von den Grundtugenden eine systematische Unterlage zu geben, indem er zeigte, daß jeder der Seelenteile eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen und damit seine Vollkommenheit zu erreichen habe; der vernünftige Teil in der Weisheit (sophia), der muthafte (thymoeides) in der [103] Willensenergie (Tapferkeit, andria), der begehrliche (epithymêtikon) in der Selbstbeherrschung (Maßhalten, sôphrosynê), – daß aber dazu noch als Gesamttugend der Seele das richtige Verhältnis dieser Teile, die volle Rechtschaffenheit (Gerechtigkeit, dikaiosynê) hinzutreten müsse. Der wahre Sinn aber dieser vier Kardinaltugenden entwickelt sich erst auf einem höheren Gebiete, demjenigen der Politik.

8. Die auf das Allgemeine gerichtete Tendenz der Ideenlehre hat ihre höchste Wirkung darin entfaltet, daß das ethische Ideal der platonischen Philosophie nicht in der Tüchtigkeit und dem Glück des Individuums, sondern in der sittlichen Vollkommenheit der Gattung lag. Getreu dem logischen Prinzip der Ideenlehre ist das im ethischen Sinne wahrhaft Seiende nicht der einzelne Mensch, sondern die Menschheit, und ihre Erscheinung ist die organische Verbindung der Individuen im Staat. Das ethische Ideal wird für Platon zum politischen, und mitten in der Zeit, welche die Auflösung des griechischen Staatslebens sah, richtete er den Lehren gegenüber, die nur noch das Prinzip der individuellen Glückseligkeit verkündeten, den Begriff des Staates zu allbeherrschender Hoheit auf. Er betrachtete aber den Staat wesentlich nicht von seiten seiner empirischen Entstehung, sondern im Hinblick auf seine Aufgabe: das Ideal der Menschheit im grollen darzustellen und den Bürger zu derjenigen Tugend zu erziehen, welche ihn wahrhaft glücklich macht. Ueberzeugt, daß sich sein Entwurf, nötigenfalls mit Gewalt, in Wirklichkeit umsetzen lasse, verwob er darin nicht nur Züge aus dem bestehenden griechischen Staatsleben, die er billigte, insbesondere diejenigen der aristokratischen, dorischen Verfassungen, sondern auch alle die Ideale, deren Erfüllung er von der rechten Gestaltung des öffentlichen Lebens erhoffte.

  • Literatur: K. F. HERMANN (Ges. Abhandlungen 122 ff.). – E. ZELLER (Vorträge und Abhandlungen I 62 ff.).

Soll der Idealstaat den Menschen im großen darstellen, so muß er aus den drei Teilen bestehen, die den drei Teilen der Seele entspringen: dem Lehrstand, dem Wehrstand, dem Nährstand. Dem ersteren allein, dem Stande der Gebildeten (philosophoi), kommt es zu, den Staat zu lenken und zu regieren250 (archontes), die Gesetze zu geben und ihre Befolgung zu überwachen: seine Tugend ist die Weisheit, die Einsicht dessen, was dem Ganzen frommt, was der sittliche Zweck des Ganzen erfordert. Ihn zu unterstützen, ist der zweite Stand da, derjenige der Beamten (epikouroi; Wächter, phylakes), der in der Aufrechterhaltung der Staatsordnung nach innen und außen die Tugend unerschrockener Pflichterfüllung (andria) zu bewähren hat. Der großen Masse des Volkes aber, den Bauern und Handwerkern (geôrgoi kai dêmiourgoi), die für die Beschaffung der äußeren Mittel des Staates durch Arbeit und Erwerb251 zu sorgen haben, ziemt der Gehorsam, der die Begierden im Zaume hält, die Selbstbeherrschung (sôphrosynê). Erst wenn so jeder der Stände das Seine tut und das Seine erhält, entspricht das Staatswesen dem Ideal der Gerechtigkeit (dikaiosynê).

Der Grundgedanke des Ganzen ist der, daß das einheitliche Leben, das allein einen Staat stark und leistungsfähig macht, nur in der Einheit der Gesinnung seiner Bürger begründet sein kann: diese ist aber nach sokratisch-platonischer[104] Ueberzeugung nur durch die unbedingte Herrschaft einer Lehre, d.h. der Wissenschaft, möglich. Vor dieser höchsten Anforderung müssen alle persönlichen Interessen schweigen, und aus dieser Gesinnung heraus will Platon die individuelle Freiheit der Vollbürger auf das äußerste beschränkt wissen. Das Staatsideal der Politeia wird dadurch ein im Dienste einer wissenschaftlichen Lehre stehender Militärstaat.

Das Prinzip der Aristokratie der Bildung, welches für das platonische Staatsideal maßgebend ist, kommt aber vor allem darin zu Tage, daß für die große Masse des dritten Standes nur die gewohnheitsmäßige Tüchtigkeit des praktischen Lebens in Anspruch genommen, diese aber auch für ausreichend befunden wird, während die Erziehung, welche der Staat, um die Bürger zu seinen Zwecken zu bilden, selbst in die Hand zu nehmen Recht und Pflicht hat, sich nur den beiden andern Ständen zuwendet. Mit einer von der Geburt an bis in späte Jahre sich immer wiederholenden Auslese soll die Regierung schichtenweise die beiden oberen Stände sich fortwährend erneuern lassen; und damit diesen eigentlichen Organen der Gesamtheit kein individuelles Interesse in der Erfüllung ihrer Aufgabe hemmend bleibe, so sollen sie auf das Familienleben und auf den Privatbesitz verzichten. Für sie gilt Staatserziehung, Familienlosigkeit, Lebens- und Gütergemeinschaft. Wer den Zwecken des Ganzen, der sittlichen Erziehung des Volkes leben soll, den dürfen keine persönlichen Interessen an das einzelne binden. Auf diesen Gedanken, der in dem Priesterstaat der mittelalterlichen Hierarchie seine historische Verwirklichung gefunden hat, beschränkt sich, was man von Kommunismus. Weibergemeinschaft etc. in der platonischen Lehre entdeckt haben will252. Der große Idealist führt den Gedanken, daß der Zweck des Menschenlebens in der sittlichen Erziehung bestehe und daß die ganze Organisation des gemeinsamen Daseins nur für diesen Zweck eingerichtet sein müsse, bis in die äußersten Konsequenzen durch253.

Platon hat den Idealstaat der Politeia nicht bloß als einem theoretischen Entwurf, sondern als einen ernsthaft gemeinten Reformvorschlag gedacht: er wollte den Schaden der demokratischen und industriellen Entwicklung, welche die griechischen Städte, insbesondere Athen genommen hatten, mit politischem und sozialem Idealismus entgegentreten. Der reaktionäre Zug der diesem Bestreben anhaftet kommt ganz besonders stark in dem Werke seines Alters, den von ihm selbst nicht mehr endgültig redigierten Nomoi zu Tage. Hier erscheint als der »zweit- und drittbeste«, leichter zu verwirklichende Verfassungsentwurf das Bild eines kleinen Agrarstaates, in welchem die gesamten Lebensverhältnisse der Bürger bis ins einzelne hinein unter der strengen Zucht einer vom religiösen Geiste beherrschten Sittenpolizei stehen sollen.


9. Mit diesen ethischen und politischen Lehren war nun ein neues und das dem Geiste des platonischen Systems am vollkommensten entsprechende Verhältnis zwischen der Ideenwelt und der Erscheinungswelt gefunden: die Idee des Guten erwies sich als die Aufgabe, als der Zweck (telos), den die Erscheinung der menschlichen Lebensgemeinschaft zu erfüllen hat. Diese Einsicht ist für die endgültige Gestaltung von Platons metaphysischem System entscheidend geworden.

Denn in ihrem ersten Entwurf war die Ideenlehre zur Erklärung der empirischen Wirklichkeit gerade so unfähig gewesen, wie die eleatische Seinslehre.[105] Durch die Gattungsbegriffe sollte die absolute Wirklichkeit254 erkannt werden, die rein für sich, einfach und veränderungslos, unentstanden und unvergänglich eine Welt für sich bildet und als unkörperlich von der Welt des Entstehens völlig getrennt ist. Sie war daher (wie in dem Dialog Sophistes255 mit scharfsinniger Polemik gegen jene Phase der Ideenlehre nachgewiesen wurde), weil sie alle Bewegung und Veränderung von sich ausschloß, kein Prinzip der Bewegung und ergab deshalb keine Erklärung der Tatsachen.

So wenig aber Platons Interesse darauf gerichtet gewesen sein mochte, – der Begriff der Idee als des wahren Seins verlangte schließlich doch, daß die Erscheinung nicht nur als etwas Anderes, etwas Nachahmendes, etwas Teilhabendes, sondern als etwas Abhängiges betrachtet, daß die Idee als Ursache des Geschehens (aitia) angesehen wurde. Was aber selbst absolut unveränderlich, unbeweglich ist und jede besondere Funktion von sich ausschließt, das kann nicht im mechanischen Sinne, sondern nur so Ursache sein, daß es den Zweck darstellt, um dessenwillen das Geschehen stattfindet. Hiermit erst ist das Verhältnis zwischen den beiden Welten des Wesens und des Werdens (ousia und genesis) völlig bestimmt, es ist nicht mehr bloß negativ wie in dem ersten Entwurf der platonischen Lehre, sondern hat einen positiven Sinn bekommen: alles Geschehen ist um der Idee willen da256, die Idee ist die Zweckursache der Erscheinungen.

Diese Begründung der teleologischen Metaphysik hat Platon im Philebos und in den mittleren Büchern der Republik gegeben, und es schließt sich daran sogleich eine weitere Zuspitzung: als die Zweckursache alles Geschehens wird zwar die gesamte Ideenwelt, im besonderen aber die oberste Idee eingeführt, der ja alle übrigen sich in demselben Sinne als Mittel unterordneten, die Idee des Guten, und diese wird dann als die Weltvernunft (nous) oder als die Gottheit bezeichnet257.

Neben diesem anaxagoreischen Motiv erweist sich jedoch in der späteren Gestalt der Ideenlehre immer mehr auch das pythagoreische wichtig, wonach auf die Unvollkommenheit der Erscheinung dem wahren Sein gegenüber hingewiesen wurde. Diese Unzulänglichkeit aber konnte aus dem Sein selbst nicht abgeleitet werden, und mit einer ähnlichen Konsequenz, wie diejenige gewesen war, mit der Leukipp, um Vielheit und Bewegung zu begreifen, neben dem Sein des Parmenides auch das Nichtseiende als »wirklich«, als seiend anerkannt hatte, sah sich nun Platon genötigt, zur Erklärung der Erscheinungen und der Unangemessenheit, welche sie zu den Ideen zeigen, neben der Welt des Seins oder der Ursache, der Ideenwelt und der Idee des Guten, noch eine Nebenursache (xynaition) in dem Nichtseienden anzunehmen. Ja, der Parallelismus dieser Gedankengänge ging so weit, daß diese nicht-seiende Nebenursache (to mê on) für Platon ganz dasselbe ist, wie für Leukipp und Philolaos: [106] der leere Raum258 Der Raum also war für Platon das »Nichts«, aus dem, um der Idee des Guten, der Gottheit, willen die Erscheinungswelt gestaltet wird. Diese Gestaltung aber besteht in der mathematischen Formung. Daher lehrte Platon im Philebos, die Welt der Wahrnehmung sei eine »Mischung« aus dem »Unbegrenzten« (apeiron) und der »Begrenzung« (peras), d.h. aus dem Raume und den mathematischen Formen259, und die Ursache dieser Mischung, das höchste, göttliche Weltprinzip, sei die Idee des Guten. Um der Ideenwelt ähnlich zu werden, nimmt der Raum die mathematische Formung an, und so entsteht die Sinnenwelt.

Die große Bedeutung, die in der Entwicklung des platonischen Denkens von Anfang an die Mathematik besessen hatte, findet so schließlich ihren metaphysischen Ausdruck. Die mathematischen Gebilde sind das Zwischenglied, vermöge dessen der nicht-seiende leere Raum die reinen »Gestalten« der Ideenwelt in den Erscheinungen nachzuahmen vermag. Die mathematische Erkenntnis (dianoia) betrifft daher ebenso wie die rein philosophische (epistêmê) ein bleibend Seiendes (ousia) und wird darum mit dieser als rationale Erkenntnis (noêsis) zusammengefaßt und der Erkenntnis der Erscheinungen (doxa) gegenübergestellt; aber sie nimmt deshalb in dem Erziehungssystem der Republik auch nur die Stellung einer letzten Vorbereitung auf die Weisheit der »Herrscher« ein.

10. Damit nun waren die metaphysischen Vorbereitungen dafür gegeben, daß Platon schließlich im Timaios eine naturphilosophische Skizze entwerfen konnte, für welche er dann freilich, seinem erkenntnistheoretischen Prinzip getreu, nicht den Wert der Gewißheit, sondern nur denjenigen der Wahrscheinlichkeit in Anspruch nehmen durfte260. Außerstande nämlich, diese Erklärung des Geschehens aus dem Weltzweck dialektisch durchzuführen und begrifflich festzustellen, gab Platon nur in mythischer Form eine Darstellung seiner teleologischen Naturansicht, die nicht mehr rein philosophischen, sondern wesentlich theologischen Charakters ist.

Dabei stellt er sich jedoch mit aller Schärfe der mechanischen Naturerklärung[107] gegenüber, und wie er diese darstellt, so kann Platon kaum etwas anderes als die Lehre Demokrits damit im Auge gehabt haben. Der Theorie nämlich, die aus »zufälligem« (soll heißen absichtslosem) Zusammentreffen des »ordnungslos Bewegten« hie und da allerlei Welten entstehen und wieder vergehen läßt, stellt er die seinige entgegen, daß es nur diesen einen, einheitlichen und der Art nach einzigen, vollkommensten und schönsten Kosmos gebe und daß dessen Ursprung nur auf eine zwecktätige Vernunft zurückgeführt werden könne.

Wenn man sich also über diesen Ursprung eine Ansicht bilden will, so muß man den Grund der Erscheinungswelt in ihrem Zweckverhältnis zu den Ideen suchen. Dies Verhältnis drückte Platon durch die Vorstellung eines »weltbildenden Gottes« (dêmiourgos, Demiurg) aus, der »im Hinblick auf die Ideen« das Nichtseiende, den Raum geformt habe. Der letztere wird dabei als die unbestimmte Bildsamkeit bezeichnet, die alle Körperformen in sich aufnimmt (dexamenê), aber zugleich doch den Grund dafür bildet, daß die Ideen in ihm keine rechte Darstellung finden. Die Gegenwirkung der Mitursache oder der einzelnen Mitursachen bezeichnet Platon als die mechanische Notwendigkeit (anankê): er nimmt also den demokritischen Begriff als einzelnes Moment in seine Physik mit auf, um daraus dasjenige zu erklären, was sich nicht teleologisch begreifen läßt. Göttliche Zwecktätigkeit und Naturnotwendigkeit werden als Erklärungsprinzipien einerseits für das Vollkommene, anderseits für das Unvollkommene der Erscheinungswelt einander gegenübergestellt. Der ethische Dualismus überträgt sich aus der Metaphysik in die physikalische Ansicht.

Der charakteristische Grundgedanke der platonischen Physik ist nun der atomistischen gegenüber der, daß, während Demokrit die Gesamtbewegungen als mechanische Resultanten aus den ursprünglichen Bewegungszuständen der einzelnen Atome auffaßte, Platon umgekehrt die in sich geordnete Gesamtbewegung des Weltalls als das einheitlich Ursprüngliche betrachtete und alles Einzelgeschehen aus diesem zweckvoll bestimmten Ganzen ableitete. Aus diesem Gedanken entsprang die wunderliche Konstruktion des Begriffs der Weltseele, die Platon als das einheitliche Prinzip aller Bewegungen, damit aber auch aller Formbestimmungen und zugleich aller Wahrnehmungs- und Vorstellungstätigkeiten in der Welt bezeichnete261. In phantastisch dunkler Darstellung trug er als die mathematische »Einteilung« dieser Weltseele seine astronomische Ansicht vor, welche sich im ganzen an diejenige der jüngeren Pythagoreer anschloß, aber durch die Annahme des Stillstandes der Erde dahinter zurückblieb. Das Hauptkriterium dieser Einteilung war der Unterschied zwischen dem, was sich gleich bleibt (tauton), und dem, was sich ändert (thateron), ein Gegensatz, worin man leicht den pythagoreischen der vollkommenen Gestirnwelt und der unvollkommenen terrestrischen Welt wiedererkennt.

Eine ähnliche Fortbildung der pythagoreischen Lehre enthält der platonische[108] Timaios hinsichtlich der rein mathematischen Konstruktion der Körperwelt. Auch hier werden die vier Elemente nach den einfachen, regelmäßigen stereometrischen Figuren charakterisiert (vgl. § 4, 11), dabei aber ausdrücklich gelehrt, daß sie aus Dreiecksflächen bestehen, und zwar rechtwinkligen, die teils gleichschenklig, teils so gestaltet seien, daß die kleinere Kathete die Hälfte der Hypotenuse darstellt. Aus solchen rechtwinkligen Dreiecken lassen sich die Begrenzungsflächen jener stereometrischen Formen, Tetraeder, Kubus etc., zusammengesetzt denken, und die Zusammensetzung dieser Begrenzungsflächen wollte Platon als das Wesen der Raumerfüllung, d.h. der Dichtigkeit der Körper angesehen haben. Indem so der physikalische Körper als ein rein mathematisches Gebilde aufgefaßt wurde, kam auch in der Physik jener metaphysische Gedanke des Philebos zum Durchbruch, daß die Erscheinungswelt eine den Ideen nachgebildete Raumbegrenzung sei262.

Quelle:
Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 61912, S. 95-109.
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